Kapitel 29

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Ich wagte es nicht, mit irgendjemandem über Raymonds mögliche Entdeckung zu sprechen. Zu sehr fürchtete ich mich vor der Reaktion, die auf eine solche Enthüllung folgen würde. Allein das hätte mir zu denken geben müssen, definitiv sogar. Doch ein kleiner, verdammt rachsüchtiger Teil von mir fragte sich, warum man es nicht darauf ankommen lassen sollte. Unsere Chancen standen alles andere als gut - vielleicht war genau das der Durchbruch, auf den wir seit Langem hinarbeiteten?

Die Sonne schien träge durch das blank polierte Fenster in mein Zimmer und verwandelte den gesamten Raum in eine glitzernden Märchenlandschaft. Es erinnerte mich ein bisschen an das erste Erwachen im Eispalast, nachdem ich mich mit der Lawine abgemüht hatte, die Kaelan heraufbeschworen hatte, um mein Können zu testen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich mich allerdings sehr viel weniger wohl gefühlt als jetzt. 

Ich lag in dem hohen Bett, auf unzählige Kissen gestützt und hatte eine Decke um meinen Körper gewickelt, die sich weich an meine Haut schmiegte. Ein Buch, das ich mir aus Zeitvertreib aus dem überfüllten Regal genommen hatte, lag unangetastet auf dem Nachtkästchen. Wie hatte ich auch nur annehmen können, eine ruhige Minute zum Lesen zu finden? 

Ein leises Klopfen riss mich aus meinen düsteren Überlegungen und sofort tastete ich nach meiner Magie, um mich zu verteidigen, sollte dies nötig sein. Im nächsten Moment schalt ich mich innerlich für meine Paranoia. Der Eispalast wurde von Kaelans besten Soldaten bewacht und war zualledem mit diversen Schutzzaubern belegt. 

Dennoch zögerte ich, ehe ich durch den Spion sah und das schönste Mädchen erblickte, das ich jemals gesehen hatte. Mir blieb für einen Moment die Sprache weg. 

"Miss Alexandra?", flötete sie mit glockenheller Stimme, die von der Tür gedämpft wurde. Sie hatte einen fremdartigen Akzent, den ich aus keinem unserer Länder kannte. "Ich bin dafür zuständig, Euch einzukleiden", setzte sie nach, als ich noch immer keine Anstalten machte, die Tür zu öffnen. 

Schließlich sammelte ich mich und entriegelte das Schloss, ehe die Eistür langsam nach innen aufschwang und den reinsten Wirbelwind hinein ließ. Das Mädchen schenkte mir ein strahlendes Lächeln, als es sein veilchenblaues Haar zurückwarf und durch mein Gemach stolzierte als wäre es sein eigenes. Kein bisschen Zurückhaltung, kein Stück Unsicherheit. 

"Ich bin Rosalette", sagte sie, als würde das alles erklären und musterte mich lange. "König Kaelan möchte, dass ich Euch zum Abendessen abhole. Und vorher, nun ja, zurechtrichte." Sie deutete auf das in eine Schutzhülle gehüllte Kleid, das sie mit sich trug und das fast größer war als sie. Sie musste ihre Arme etwas heben, damit es nicht über den Boden schliff. Darüber musste ich unwillkürlich lächeln. 

Ich vergaß beinahe, wie wütend ich noch auf Kaelan war und seufzte dann vernehmlich. "Was hat er vor?" 

"Oh, wenn ich das nur wüsste", sagte Rosalette verträumt und mühte sich weiterhin mit dem Kleid ab. "Aber unser König ist wie ein Buch mit sieben Siegeln, nicht wahr?" 

Wahrscheinlich war ihr gar nicht bewusst, wie recht sie mit dieser Behauptung hatte. Ich beschloss, das Mädchen nicht weiter mit meiner Laune zu drangsalieren und ließ mich brav und ohne zu murren sowohl schminken, frisieren als auch ankleiden. 

Das Ergebnis ließ sich sehen. Der Stoff des nachtblauen Kleides umspielte meine Figur in üppigen Wellen, während mein Haar zu einem Zopf geflochten über meine Schulter fiel. 

Rosalette betrachtete mich voller Begeisterung und nickte dann knapp. "Das war weniger schwierig als erwartet." 

Ich runzelte die Stirn und sah gerade noch rechtzeitig in ihre Richtung, um zu bemerken, wie sich ihre Augen kaum merklich verdunkelten und ihre schönen Züge leicht flackerten. Anschließend spürte ich einen dumpfen Schlag und daraufhin nichts mehr.

REBORN TO RISE (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt