Kapitel 42

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Raymond wuselte ununterbrochen um mich herum, als ich erneut im Schlossgarten des Eispalastes stand und meine Magie, die ich schon wieder viel zu lange vernachlässigt hatte, trainierte. Ich erkannte voller Euphorie wie sehr es mir gefehlt hatte, diese alles einnehmende Macht zu spüren, die ich aus den vier Elementen schöpfte. Luft, Erde, Wasser und Feuer. Besonders Feuer, denn das war mein stärkstes Element. Ich ließ die Flammen über meine Handflächen tanzen und genoss die angenehme Wärme, die sie verursachten. Ich hatte meine Magie, die sich einst wie ein Fluch angefühlt hatte, lieben gelernt - aus ganzem Herzen. 

Die Augen des alten Magiers waren voller Staunen und Faszination. Die Begeisterung ließ ihn jünger wirken und ich fragte mich unwillkürlich, wie er gewesen sein mochte, bevor er so viel Leid erfahren hatte. Was für ein Mensch er geworden wäre, wenn man ihm die Liebe seines Lebens nicht genommen hätte. Doch ich wusste es nicht und würde es wahrscheinlich auch nicht mehr erfahren, denn er hatte nie viel über den Mann erzählt, in den er sich vor vielen Jahren verliebt hatte. So neugierig Raymond auch war, so wenig gab er über sich selbst preis. 

Nur sein ewig währendes Entzücken bezüglich Magie jeder Art war niemandem ein Geheimnis. 

Ich schmolz die hart gefrorene Oberfläche des Grases und zog Energie aus dem Schmelzwasser und anschließend aus der Erde darunter. Mein Herz pulsierte vor freudiger Erregung und mein Körper fühlte sich an, als wäre er von der Welt losgelöst. Manchmal, wenn Magie durch meine Adern floss, glaubte ich nicht, menschlich zu sein. Es war schwer zu glauben. Ich war anders, ich fühlte mich anders. Doch das war ein flüchtiger Zustand. Ein Zustand, der verrauchte, sobald ich meine Verbindung zur Sonnenbetermagie kappte. 

"Ich denke, du solltest es jetzt mit der Eismagie probieren", suggerierte Raymond, der den Prozess mit der Begeisterung eines kleinen Kindes verfolgte. "Du könntest versuchen, mich in eine Eisstatue zu verwandeln." 

Ich runzelte meine Stirn und ließ das Feuer versiegen. "Und du könntest versuchen, mich ein einziges Mal nicht in den Wahnsinn zu treiben." Entsetzt musterte ich ihn. "Das ist kein Scherz, auch wenn du das glauben magst. Würde ich dich im Eis einschließen, würdest du langsam und qualvoll ersticken und das-"

"-ohne tatsächlich zu sterben, ich weiß. Ich habe alles darüber gelesen, was mir in die Hände gefallen ist. Wenn jemand weiß, was Eismagie anrichten kann, dann bin ich das. Dennoch reizt mich der Gedanke, es auszuprobieren. Einfach, um zu wissen, ob du es könntest." 

"Nicht mit mir", erwiderte ich schlicht und wandte mich von ihm ab. Daraufhin ließ ich den Blick über die weiß glänzende Landschaft wandern und fragte mich, wann der Spuk vorbei sein würde. Die Zeit lief und lief und niemand wusste, wann und wo das Spektakel zu Ende gehen würde. Zudem fühlte ich mich noch immer nicht bereit, meinem Vater entgegenzutreten, der seine Dämonen bereits gegen uns aufreihte und langsam aber sicher zum Angriff übergehen würde. Ich wusste nicht, was ich tun konnte, um ihn aufzuhalten. 

"Wenn du damit fertig bist, theatralisch über deine Situation nachzudenken, könntest du dich wieder zu mir gesellen und dir anhören, was ich herausgefunden habe", schlug Raymond vor, der mir gefolgt war und seufzte. "Mädchen, ich finde wirklich nicht, dass ein solches Gewicht auf deinen Schultern lasten sollte. Doch ich werde mein Möglichstes tun, um dich zumindest zu entlasten." Sein Lächeln war genauso ehrlich wie immer und ich erkannte darin den unbeschwerten Raymond wieder, den ich niemals hatte kennenlernen dürfen. Leider. Sein Humor war nur ein Schutzschild, den er zwischen sich und andere Menschen stellte, um sich emotional von ihnen abzuschotten. Mir wurde wieder einmal klar, wie sehr ich ihn liebte. 

Ich folgte ihm zu einer einsam stehenden Steinbank, die inmitten eines Beets voller hellblauer Rosen stand, deren Blüten mit Eissplittern bedeckt waren. Der Anblick ließ die Eismagie in meinem Inneren leicht aufbegehren. Ich pflückte eine Blüte und zerrieb sie zwischen meinen Fingern. Es blieb nur Eisstaub übrig. 

REBORN TO RISE (Band 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt