Kapitel 1

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Rom, 21. Jahrhundert.

'Dieser Friedhof ist schon ziemlich düster und unheimlich', findet Pia nachdenklich, während sie mit ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder zwischen den Gräbern auf dem Friedhof in Rom entlang geht und sich die Daten der Verstorbenen durchliest. ˋOh Gott! Hoffentlich werde ich niemals auf solch einen Friedhof begraben.ˋ Sie hält kurz inne. ˋNa super, kaum bin ich 18 Jahre alt geworden und schon mache ich mir Gedanken um den Tod! Das ist jetzt wirklich noch nicht so wichtig. Erstmal muss ich doch mein Leben leben. Okay, ich weiß... der Tod gehört zum Leben dazu.' Pia schüttelt sich und versucht diese Gedanken vorsichtig weg zu schieben. Sie versucht sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Doch, wie sieht das Hier und Jetzt eigentlich aus? Dass sich Pia auf einen Friedhof befindet, ist bereits erwähnt worden. Es ist bestimmt nicht der größte Friedhof, aber dafür der älteste Friedhofs Roms und er hat etwas verwunschenes und magisches an sich. Noch nie hat Pia solch einen Ort gesehen. Als sie mit ihren Eltern zum Friedhof liefen, kamen sie an ein ausgetrocknetes Flussbett vorbei, welches die Hitze in Rom unterstrich. Auf dem Friedhof selbst stehen kleine Kapellen mit einem Sarg darin und rund um den Friedhof sind Wände angebracht mit den Lebensdaten der Verstorbenen. Die kunstvollen, alten Grabstätten deuten darauf hin, dass die Verstorbenen wohlhabende Menschen gewesen waren, denn sonst könnten sich Leute zu der damaligen Zeit solch kostbare Gräber sicher nicht leisten. Ziemlich alte Daten sind darauf zu erkennen, aber die Schrift ist schon so verblasst, dass sie kaum noch für das menschliche Augen zu erkennen ist. Das älteste Grab ist aus dem Jahre 1502. Zumindest ist das, das älteste Grab, welches Pia bei all der verblassenden Schrift gefunden hat. Es scheint für sie auch ein sehr alter Friedhof in Rom mit einer großen, dicht bewachsenen Kapelle im Mittelpunkt des Friedhofes zu sein. Zwischen den einzelnen Familiengruften stehen große Laubbäume, deren Baumkronen den Besuchern des Friedhofs viel Schatten spendet und ihnen auch in der sommerlichen italienischen Hitze einen angenehmen Aufenthalt bietet.

Erst vor ein paar Stunden ist die Familien in Rom angekommen und sie wollten das sonnige Wetter nutzen, um sich die Gegend um ihren Hotelbereich anzusehen. Nach nur einer Biegung um die Ecke trafen sie auf das Eingangstor des Friedhofes. Pia hat sich sofort verbunden gefühlt und wollte sich den Friedhof unbedingt ansehen. In ihrer Kindheit besuchte sie oft den Friedhof, da das Haus der Familie daneben steht. Ihre Eltern rieten ihr davon ab, doch sie konnte nicht aufhören dorthin zu gehen. Sie hat sich schon immer die Grabsteine angeschaut und sich anhand dieser in ihrer Fantasie ausgemalt wie das Leben der Toten ausgesehen haben muss. Die letzten Sommerferien in Pias Leben haben begonnen und das diesjährige Reiseziel sollte Rom sein. Es fühlt sich für Pia in ihrem Haus zuhause zwar auch immer wie im Urlaub an, aber eine Reise in die südliche Ferne ist immer noch etwas anderes. Ihre Eltern verdienen gut und dadurch haben sie sich vor über 20 Jahren ein sehr interessantes Traumhaus bauen lassen. Im Zentrum des Hauses ist ein riesiger Indoor-Pool mit einer großen Liegefläche herum. Die einzelnen 11 Räume sind blumenförmig um diesen großen Poolbereich gebaut. Verbunden werden die Räume mit einer riesigen Glaskuppel über den Pool. Um in die anderen Räume zu gelangen, haben alle Zimmer eine große Fensterfront zum Öffnen in die Richtung des Innenhofs. Noch nie gab es solch ein besonderes Haus wie dieses. Eigentlich ist das eine Art Versöhnungsurlaub den Kindern zu Liebe, da die Eltern in den letzten Wochen, Monaten und Jahren sehr viel Streitigkeiten hatten und sogar die Scheidung mehrfach erwähnt wurde. Die Liebe zwischen den Eltern ist einfach nicht mehr die selbe wie vor 20 Jahren. Doch eine wirklich vollzogene Scheidung hat es bis jetzt noch nie geben. Pia hingegen schwebt auf Wolke sieben und sie vermisst ihren Johann jetzt schon, obwohl sie ab jetzt noch zwei lange Wochen ohne ihn auskommen muss. Sie denkt lächelnd an die vergangene Nacht bei ihm zurück, da sie gestern liebevoll ihre einjährige Liebesbeziehung gefeiert hatten. Johann hatte für sie Pizza selbstgemacht und sie mit süßen Erdbeeren verwöhnt. Die beiden verstehen sich mittlerweile auch ohne Worte, aber trotzdem haben sie die halbe Nacht mit Reden und Lachen verbracht. Sie denkt daran, wie sie mit seinen Fingern in seine wuscheligen Lockenpracht gefasst hat und sie sie sich beide tief in die Augen geguckt haben. Immer wenn sie sich küssen, dann scheint es Pia als würde in ihr vor Glück ein gewaltiges Feuerwerk explodieren. Pia hört in Gedanken seine letzten Worte, bevor sie heute Morgen seine Wohnung verließ: 'Ti amo, mi amore!' Für sie hat er sogar ein paar italienische Worte gelernt, da sie sprachbegeistert ist und er manchmal schon mit der deutschen Sprache Probleme hat. Es sollte dieses Jahr eigentlich der erste richtige Urlaub mit ihm in Hamburg sein. Monatelang haben sie den Sommer geplant und sich einparken Tage an der Nordsee gewünscht, aber für Pia geht diesmal ihre Familie vor, deshalb hat sie spontan ihre Eltern eine Urlaubsreise nach Rom vorgeschlagen, nachdem sie mal wieder etwas über Scheidung gehört hatte. Als Pia noch in kleines Kind gewesen war, stand Rom als Urlaubsziele schon oft im Raum. Seufzend haben sie, nach einer eintägigen Denkpause, zugesagt. Da Johann allerdings nur zwei Wochen Urlaub hat und sich die Reise überschnitten hätte, sagten Pia und Johann die Reise ab und verschoben sie auf diesen Herbst. Obwohl Pia es sehr schade fand, dass sie absagen mussten, freute sie sich sehr auf Italien mit ihrer Familie, denn sie sieht den Urlaub als letzte Chance um ihre Eltern wieder zueinander zu bringen. Wenn es nach ihrem Vater gegangen wäre, dann hätten sie den Urlaub gar nicht gebraucht, denn für ihn ist so etwas nur Zeitverschwendung und Menschen, die in den Urlaub fahren, haben viel zu viel Langeweile. Doch nach einer hitzigen Familiendiskussionen findet jetzt der zweiwöchige Urlaub letztendlich doch statt. Zwei Wochen lang nur ganz viel Pasta, Pizza, Sonne und... „Hey, pass doch auf!" Sie prallt gegen eine junge Frau, die sie erschrocken und ein wenig ängstlich ansieht. Pia denkt zuerst, dass sie eh nicht in der deutschen Sprache verstanden wird und will sich schnell verbessern, doch bis sie sich in ihrem Kopf die italienischen Wörter überlegt hat um sich selbst zu entschuldigen, ist die Frau auch schon wieder verschwunden. Stirnrunzelnd sieht sie sich nach ihr um. Doch auch in einer weiteren Entfernung ist keine Spur mehr von ihr zu sehen. War das gerade echt oder ist das nur eine Illusion, weil sie auf einen alten Friedhof sind? Zumindest interessiert sich scheinbar kein anderer Mensch für die junge Frau. „Pia! Kommst du? Wir müssen zurück ins Hotel. Es wird doch gleich dunkel und wir haben Hunger!" „Ja, ja Mama!", schon ist sie von ihrer Suche nach der Frau abgelenkt und vergisst die Begegnung kurz. Sie hat noch nie an ein paranormales Leben oder ein Leben nach dem Tod geglaubt. Doch Horrorfilme machen ihr Angst und die Begegnung verband alles zusammen. Auf dem Weg zum Ausgang fällt ihr Blick auf ein sehr schöner, alter, verschnörkelter Grabstein. Sie geht näher ran, da sie lesen will, wer der Besitzer oder die Besitzerin dieses Grabsteines ist. „Zara Fontana... geboren 1726... gestorben 1746..." murmelt sie vor sich hin. ˋTraurig, dass sie nur 20 Jahre alt wurde...ˋ
Naja Pia, dann hast du ja noch  zwei Jahre!ˋ Sie muss kurz selbst über ihren Scherz grinsen. Irgendwie wird sie auf einmal von diesem Grab angezogen, denn auf dem kalten Stein, geht plötzlich eine schimmernde Wärme aus, aber sie folgt den Worten ihrer Mutter und geht zu ihrer Familie. „Piaaa...?" Ihr kleiner Bruder sieht sie grinsend an. „Heute gibt es Zahnpasta zum Abendbrot." „Bitte was? Zahnpasta? Garantiert nicht!" Pia sieht ihn angeekelt an. „Nein, natürlich nicht, aber wir haben ihm gesagt, dass es Pasta zum Abendbrot gibt, aber du kennst ihn ja... er hat es falsch verstanden und hat aus Pasta eben Zahnpasta gemacht." Ihr Vater seufzt. „Naja, ist ja auch egal. Jetzt kommt! Ich habe ganz schön Hunger nach diesem Flug und wie ich meine Familie kenne, habt ihr sicher auch schon mächtig Hunger."

„Also was wollen wir die nächsten Tage alles machen?" Pias Mutter sieht mit kauenden Mund in die Runde. Es gibt für alle Spaghetti Carbonara mit viel Käse. Ihre Tochter legt den Gedanken an den geheimnisvollen Friedhof jetzt endgültig bei Seite und denkt nach. „Hm... also wir wollten doch mal in das Theater gehen. Jetzt wo ich so gut italienisch sprechen kann, ist das ja gut für die Weiterbildung der Sprache. Und jeden Tag sollten wir bei gutem Wetter den Strand nutzen." Tom sieht sie genervt an und schüttelt den Kopf. „Du bist ja blöd. Ich kann noch kein italienisch. Außerdem ist Theater doch total langweilig. Ich will lieber ins Kino." Pias Bruder ist erst letztes Jahr acht Jahre alt geworden und versucht Pia immer mit Neckereien und blöden Kommentaren zu provozieren und sehr oft schafft er es auch. Pia will ihm eine ebenso blöde Antwort geben, doch ihre Mutter fällt ihr schnell ins Wort. „Ne ne ne... Pia! Einfach nicht drauf reagieren." Ihre Stimme klingt müde und erschöpft. „Tommi... Wir können das doch so machen, dass du und Papa in die tolle Dino-Ausstellung geht, denn wenn du italienisch nicht sprechen kannst, dann ist Kino auch nicht so toll für dich und du wirst dich sicher langweilen. Und Pia und ich gehen in das Theater, oder Frank? Hast du mal wieder was dagegen einzuwenden? Sicherlich ist eine Ausstellung nur für Menschen für Menschen, die zu viel Langeweile haben." Als ihre Worte sich zu ihrem Mann begeben, ändert sich in ihrer Stimme die liebevolle Art zu einer eiskalten Stimme. Der Vater stimmt nur abwesend und murmelnd zu, während er einer jungen Kellnerin hinterher guckt. Ein Mann mit vielen Worten ist noch nie gewesen und wird er auch nicht sein. Dafür sprechen seine leuchtenden Augen umso mehr, die sich widerwillig mit einem leichten Fußtritt seiner Frau von der Kellnerin ablösen. „Aua! Sag mal, spinnst du?" Seine Frau sieht ihn warnend an, so dass er sich beruhigt. „Wollen wir dann ins Hotel, Familie?" „Papa, ich hasse es, wenn du zu uns Familie sagst, das klingt immer so unpersönlich. Außerdem essen wir hier noch, also mach mal langsam." Doch ihr Vater reagiert auf Pias Worte gar nicht, sondern holt einfach sein Geld aus dem Portemonnaie und zahlt.

Am Abend guckt sich Pia italienische Zeitungen über Promis an, während ihr kleiner Bruder auf ihrem Handy Spiele spielen darf. Ihre Italienischlehrerin hat ihr vor den Ferien noch geraten, dass sie in Rom unbedingt alles lesen sollte, was sie auf italienisch findet, damit ihre Aussprache und ihr Leseverständnis trainiert wird. Die beste Schülerin ist sie im Italienischunterricht nicht, aber sie gibt sich die allergrößte Mühe um sich zu verbessern. „So Tommi, es ist jetzt für dich auch mal langsam Schlafenszeit. Mama und Papa schlafen auch schon und du weißt doch, dass du nicht mehr als eine Stunde an technische Geräte darfst." Sie nimmt ihm das Handy weg und lauscht schweigend im Nebenzimmer, ob bei den Eltern auch wirklich Ruhe ist und sie muss enttäuscht seufzen. Pia weiß, dass ihre Eltern sich immer weniger zu sagen haben und sich abends nicht mehr lieben, sondern Rücken an Rücken zueinander schlafen. Doch so können sie sich wenigstens nicht mehr streiten. Zuhause weint ihre Mutter meistens im Bett, während ihr Mann woanders übernachtet. Wenigstens für den Urlaub, hätte sie sich gewünscht, dass sie mehr miteinander reden, aber nein: Schon im Flugzeug haben sie sich um dem Tomatensaft gestritten, weil sie einen Saft wollten, aber als sie ihn dann tranken, mussten sie lauthals das Flugzeug mit ihrer Geschmacksdiskussion unterhalten, da ihre Mutter ihn zu bitter fand und ihr Vater ihn viel zu zu salzig. Pia versteht solch eine Diskussion gar nicht, da für sie Tomatensaft generell scheußlich schmeckt. Trotz jeder Diskussion und Meinungsverschiedenheit im Liebesleben der Eltern, haben sie nie vergessen ihre beiden Kinder zu lieben und sind sich wenigstens in den Erziehungsmethoden einig gewesen. Tom steht auf und geht ins Bad um seine Zähne zu putzen. „Guck mal Pia, man kann von hier aus den Friedhof von heute sehen! Krass, richtig unheimlich!" Schnell geht sie zu Tom, da sie weiß, dass ihr Bruder nicht der allergrößte Grusel-Fan ist und guckt mit ihm aus dem Fenster. „Tom, du weißt doch, dass du dich nicht soweit aus dem Fenster lehnen sollst! Das ist gefährlich, wenn das die Mama sieht! Komm, ich bring dich jetzt ins Bett. Geh ruhig schon mal vor." Während Tom Pia nachäffend ins Bett geht, guckt sie beim Schließen des Fensters nochmal aus dem Fenster und ihr Blick fällt sofort auf einen genauen Punkt nahe der beleuchtenden Kapelle des Friedhofes. Wieder sieht sie ein Schimmern und es erscheint ihr, als würden ihre Augen immer weiter an den Stein gezogen werden. „Es muss der Grabstein von vorhin sein", sagt sie leise zu sich selbst. „Piaaaaa!" Sie wird aus ihrem Bann gerissen und geht schnell aus dem Badezimmer. „Pscht... ich komme ja schon" Sie geht in das Schlafzimmer zurück und legt sich neben Tom. Wie schon immer muss sie mit Tom im Urlaub in einem Bett schlafen. Pia hat schon oft mit ihren Eltern über das Thema diskutiert, dass sie mit ihrer Volljährigkeit ihre eigene Privatsphäre wenigstens ein eigenes Bett zu haben in Anspruch nehmen möchte, aber bisher gab es noch keine Einlenkung. „Gute Nacht Nervensäge!", flüstert sie ihm liebevoll gemeint, abwesend zu, denn auf ihrem Handy blinkt eine Nachricht von ihrem Freund auf. Schnell sieht sie nach und sofort muss sie anfangen zu lächeln. Sie antwortet ihm mit einem Herz oder auch zwei Herzen und legt dann das Handy auf den Nachttisch ans Ladegerät.

ZARA - Der Tod liegt auf dem FriedhofWo Geschichten leben. Entdecke jetzt