Kapitel 4

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„Guten Morgen, Kinder! Es ist Zeit aufzustehen!" ruft eine Frau mit einer lauten Stimme durch einen Saal. Sie ist ganz in schwarz gekleidet und erinnert Pia an zwei Frauen aus Büchern, welche sie in den letzten Jahren schon gelesen hat. Das eine Buch ist ein bekanntes Kinderbuch und das andere für ältere Menschen, aber das ist für Pia in dem Moment erstmal nebensächlich. Sie brauch erstmal einen kleinen Moment, um sich zu sammeln. Niemand scheint auf Pia zu achten. Sie sieht an sich runter. Über Pias Körper ist ein leuchtender weißer Schleier aus umspielendem Licht gelegt und sie kann durch ihren Körper auf das Parkett hindurch sehen. Zara hat Wort gehalten und sie in dieser vergangenen Welt unsichtbar gemacht. Die braunen Haare der Frau sind zu einer strengen Frisur hochgesteckt und ihr Make-up ist dezent, aber Pia erkennt, dass sie Make-up trägt. Schnell springen die Mädchen aus den Betten und ziehen sich an. Keines hat Lust bestraft zu werden. Pia überlegt noch wie alt die Frau sein könnte, da kommt sie mit einem bösen Blick auf sie zu. Trotz des Wissens über die Unsichtbarkeit versucht Pia sich ängstlich weg zu ducken, aber die Frau sieht knapp an ihr vorbei auf das schmale Bett aus Holz. Pia folgt ihren Blick. „Mein liebes Fräulein Zara! Hast du nicht gehört? Ich zähle jetzt bis drei und wenn du dann nicht wach vor mir stehst, dann hast du einen Monat alleine Küchendienst! Eins... zwei..." Doch bevor sie bis drei zählen kann, steht Zara schon vor ihr und schaut sie unschuldig an. „Guten Morgen, Fräulein Mina!" „Na gerade noch Glück gehabt!" Pia kommt es so vor, als würde für einen kurzen Augenblick ein kleines Lächeln über die Lippen der doch so streng wirkenden Frau huschen, welches sie gleich viel sympathischer wirken lässt. „Jetzt ziehe dich schnell an und dann auf in den Frühstückssaal! Der Unterricht beginnt in weniger als eine halbe Stunde." Zara gehorcht und geht unter dem Bett eine hölzerne Kiste hervorziehen. Sie öffnet die Kiste und holt ein Kleid hervor. Ihr Nachthemd zieht sie aus und zieht dann schnell ihr Kleid an und bürstet sich mit einer silbernen Bürste durch ihre Haare. 'Wie schön sie doch ist! Diese wunderschönen Haare und ihre großen braunen Augen...' Pia guckt Zara neugierig an. Sie sieht dem Geist von Zara sehr ähnlich, allerdings scheint sie hier noch ein wenig jünger zu sein. Außerdem ist die blasse Hautfarbe durch einen gesunden Hautton ersetzt worden und ihre Haut ist nicht halbdurchsichtig. Zara legt die Bürste wieder in die Kiste, schiebt sie zurück unter ihr Bett und geht mit zügigem Schritt dann in den Frühstückssaal, damit sie nicht doch noch ihre Strafe bekommt. Pia überlegt ihr zu folgen, aber sie nutzt die Gelegenheit um sich erstmal zu sortieren. Vor ein paar Minuten stand sie noch in Rom auf einem Friedhof und jetzt ist sie in einem Haus und in den ersten Sekunden dort, konnte sie noch nicht richtig ankommen. 'Wow, ich bin wirklich in der Vergangenheit! Oder halt... träume ich das  nur?' Um das zu testen, kneift sie sich dreimal in den rechten Arm, aber außer einen Schmerz spürt sie nichts und schon gar nicht, dass sie aus dem doch so ersehnten Traum aufwacht. Sie sieht sich im großen Zimmer um und zählt die Betten. Nach fünf Versuchen zu zählen ohne durcheinander zukommen, zieht sie den Entschluss, dass das 20 Doppelstockbetten und 50 Einzelbetten sind. An einer Wand sind fünf große, geöffnete Fenster mit weißen Vorhängen, die durch den frischen Wind in das Zimmer wehen. Trotz der vielen Fenster erscheint ihr der Raum dunkel und er versprüht etwas geheimnisvolles. An einer anderen Wand steht ein riesiges Regal voller Bücher, dass sich über die ganze Höhe und Breite der Wand erstreckt. Pia geht zum Regal und liest sich die Buchrücken genauer durch, kann allerdings die alten lateinischen und italienischen Titel nicht so gut lesen. Sie probiert vorsichtig ein Buch aus dem Regal zu ziehen, doch ihre Hand gleitet nur durch den Buchrücken. Enttäuscht geht Pia weiter am Regal entlang.

Auf einmal hört sie Stimmen hinter sich und sie dreht sich nach ihnen um. Es sind zwei  Mädchen in Zaras Alter, die kurz spielerisch in das Zimmer gerannt kommen und kichernd wieder zurück rennen. Schmunzelnd möchte Pia ihnen nach gehen, aber ihr Blick fällt auf die gegenüberliegende Wand. Sie kann die Augen nicht davon abwenden, auch wenn die samtrote Farbe nicht das spannendste an der Wand ist. An der gesamten Wand erstreckt sich ein Spruch in verschnörkelten, goldenen Buchstaben, aber es steht so deutlich, dass jeder die Schrift noch lesen kann. Sogar Pia versteht mit ihrem Schulitalienisch diese Worte und irgendwie kommen die Worte ihr bekannt vor. Sie überlegt woher und tatsächlich fällt es ihr ein. Es ist nicht nur ein Spruch, sondern die Zeile eines italienischen Gedichtes, welches Pia in der Schule einmal gelernt hatte. Sie versucht die Wörter in ihrem Kopf zu sortieren und zu übersetzen und kommt auf: „Lebe deine Träume, solange du noch kannst!" Nachdenklich denkt sie nochmal über die Worte nach und findet, dass es ein guter Spruch für ein Waisenhaus ist. ˋDas ist bestimmt aus dem Gedicht von dem Zara sprach.ˋ Mit jedem Schritt näher verschwindet der Spruch immer mehr, bis am Ende nur noch die rote Wand zu sehen ist. Pia versucht es verwundert nochmal, aber auch dieses Mal verschwindet die Schrift mit der Wand. ˋDas muss an der Technik liegen... oder an der Sonneneinstrahlungˋ, denkt sich Pia. Sie geht aus dem Zimmer und kommt in einen ebenso hohen Flur, wie das Zimmer von gerade eben auch ist. Die Stimmen der Kinder locken Pia an und sie folgt den Stimmen bis sie in einem Speisesaal steht. Lautes Gekicher, Gerede und Geklapper füllen den Saal aus. Es ist für Pia unmöglich sie zu zählen, denn es sind mindestens 200 Kinder im Saal. Trotzdem versucht Pia eine bestimmte Person zu suchen, Zara. Sie findet sie lachend am letzten Tisch des Saales, neben ihr ein kleineres Mädchen, welches Zara sehr ähnlich sieht. Das Mädchen ist nicht im gleichen Schlafsaal gewesen wie Zara, daher muss es wohl mehr als nur einen dieser im Haus geben. „Violetta... Nein hör auf, du redest nicht ehrlich mit mir! Ich finde den Massimo nicht galant." Zara lacht und wird dabei rot. Pia muss über die altmodische Ausdrücke schmunzeln. „Oh doch Zara! Das sieht doch jeder hier!" Das Mädchen, welches wohl Violetta heißt, grinst Zara an und äfft sie nach. „Ach mein liebster Massimo... sehr gerne würde ich mit dir Unkraut zupfen. Ich liebe es Unkraut zu zupfen! Soll ich deine Haare auch noch zupfen? Ich finde du solltest es wagen ein Gespräch mit ihm zu beginnen. Du bist doch nun in einem heiratsfähigen Alter und Vater hätte gewollt, dass du aus Liebe heiratest, so wie er und Mutter es einst getan haben." Violetta kichert und stupst Zara spielerisch an. Zara will noch etwas zu ihrer Verteidigung sagen, aber da wird sie schon von einer älteren Frau, die einen weißen hohen Dutt trägt, unterbrochen, welche an einem höhergestellten Tisch steht und sich kurz räuspert. Sofort herrscht im ganzen Saal Ruhe und alle Kinder stehen auf. „Meine lieben Kinder! Ich wünsche euch einen wunderschönen herrlichen Morgen!" Die Kinder sehen zu ihr und sagen in einem ruhigen, aber lauten Ton: „Guten Morgen!" Die Frau sieht die Kinder ein paar Sekunden traurig an und redet nach einem tiefen Seufzen weiter. Es scheint für Pia so, als würde sie es gar nicht aussprechen wollen. „Ich muss euch leider eine sehr traurige Nachricht mitteilen. Da es sehr dringlich ist und ich Angst habe vor euch in Tränen auszubrechen und wir alle wissen, dass Tränen nicht menschlich sind, sage ich es euch ganz direkt heraus: Unser Waisenhaus wurde verkauft und wird fortan kein Waisenhaus mehr sein!" Pia muss trotz der Situation ein wenig schmunzeln. 'Ja, das war schon wirklich sehr direkt.' Ein geschocktes Raunen geht durch den Saal und der Leiterin des Hauses fällt es schwer alle zu beruhigen. „Es steht leider nicht in meiner Macht, dass ich es weiter führen kann. Ich... ich entschuldige mich dafür und ich darf euch leider die genaueren Gründe nicht nennen. Es kam ganz plötzlich und wenn ich es schon länger gewusst hätte, dann hätte ich es schon früher gesagt. Ich hätte mir sehr gewünscht, dass ich es verhindern könnte, aber von nun an wird der edle Ritter Stefano entscheiden, was mit euch passiert!" Sie zeigt auf die Tür am Ende des Saals. Fast gleichzeitig folgen die Kinder und Jugendlichen mit ihren Köpfen der Handbewegung. Die schwere Holztür wird grob aufgeschmissen und ein Mann tritt ein.

Er hat ein böses, einzigartiges Grinsen auf den Lippen, dass das ganze Waisenhaus in Angst und Ruhe versetzt. Seine Kleidung sieht sehr gepflegt aus, aber der Mann, der drinnen steckt, ist es nicht. Stefanos schulterlange Haare sind nach hinten gebunden und er hat einen mindestens zehn Tage alten Bart. Seine Statur ist groß gebaut und er scheint für Pia ein Anfang 30 jähriger Mann zu sein. Sein Grinsen blickt einen tiefen Einblick in seinen Mund, welcher das Zuhause von ungeputzten Zähnen und einer Zahnlücke auf der linken Seite ist. Pias Kinnlade fällt vor Schock nach unten. Solch eine Person hat weder Pia noch irgendeine andere Person in diesem Saal jemals gesehen. Nachdem er einschüchternd eine Runde durch den Saal gesehen hat, geht er mit festen Schritten zum Tisch, an dem eben noch die Frau geredet hat und fängt an zu sprechen. „Meine lieben Kinder! Ich heiße euch herzlich Willkommen, hier im neuen, wunderschönen Schloss Stefano!" Für Pia erscheint es, als ob er ein Applaus erwartet, doch keiner im Saal applaudiert vor angstvoller Neugier. Niemand kann seine einschmeichelnden Worte ernst nehmen. Ein wenig enttäuscht blickt er wieder in die Runde. Mit solch einer Reaktion hat er nicht gerechnet. Ein kleines Mädchen sieht böse zum Boden. „Der neue Name gefällt mir nicht." Ihre Nachbarin schlägt ihr sanft auf den Hinterkopf. „Ihr müsst vor mir doch keine Angst haben, denn ich werde euch nichts tun. Ich bin der liebevollste Mensch, den ihr jemals kennengelernt habt." Er ringt sich zu einem schwachen Lächeln hin und macht eine kurze Pause. Pia muss sich wegen seinen falschen Schleimspur fast übergeben. „Aber, ich muss euch leider mitteilen, dass ich nicht jeden von euch in meinem neuen Anwesen aufnehmen kann, denn schließlich soll dies kein Kindergehege werden, sondern ein prunkvolles Schloss. Doch ich verspreche euch, dass wir gemeinsam für euch neue Orte finden werden und wenn sich einige gut benehmen, dann stelle ich ein paar von euch als Dienstmagd oder auch als Knecht ein!" Pia schüttelt entsetzt den Kopf. 'Was ist denn das für ein ekelhaftes Arschloch? Er kann doch nicht 200 Kinder weggeben. Und was ist überhaupt mit den Erwachsenen? Schließlich gibt es hier noch bestimmt 30 Angestellte. Die armen Frauen, werden doch nicht etwa alle arbeitslos!ˋ Stefanos Blick streift anmutig durch den Saal und bleibt dann für ein paar längere Sekunden auf Zara ruhen. Er lächelt ein wenig, aber das Lächeln ist eher ekelhaft als freundlich. Zara wird ganz bleich im Gesicht und schluckt ängstlich. Ihr Blick bleibt aber standhaft in seinen Augen hängen, um ihm damit seine Stärke zu zeugen. Sie ahnt, dass es ihr nicht gut gehen wird, wenn Stefano das Waisenhaus beherrscht. Stefano scannt sie grinsend von oben nach unten langsam ab und verbeugt sich in ihre Richtung. Dann nickt er ihr zu und geht mit einem letzten Blick in die Runde von dem Podest zurück an den Tischen vorbei aus der Tür.

Pia sieht Stefano geschockt nach. Sein stinkiger Geruch zieht sich durch den ganzen Saal. Noch ist es still im Saal, aber langsam entsteht ein Getuschel zwischen den Tischen. Was hat dieser Mann vor? Vor allem, was hat er mit Zara vor? Jetzt versteht Pia wieso es der armen Frau so schwer fiel es auszusprechen. Vermutlich hat Stefano sie unter Druck gesetzt und erpresst. Zuzutrauen könnte Pia es ihm. Ein Junge geht zu Zara und umarmt sie lange. Die beiden reden vertraut miteinander. ˋIst das der Massimo, von dem sie vorhin sprachen? Der sieht ja wirklich ganz schick aus. Hoffentlich kommt sie mit ihm zusammen und nicht mit dem Stefano. Die beiden wären das perfekte Traumpaar, nur leider wäre das vermutlich zu schön um wahr zu sein. Ach, zu blöd, dass ich mit Zara nicht kommunizieren kann. Oder? Doch... na hoffentlich funktioniert das auch.' Sie schließt die Augen und ruft ganz laut: „STOP!" Um ihr herum friert alles ein und es bildet sich um Pia wieder eine Art Wirbelsturm. Die Simmen der Kinder werden immer leiser, bis alles um Pia herum wieder ruhig ist. Sie atmet tief durch, mit der Hoffnung wieder auf dem Friedhof im 21. Jahrhundert zu sein und öffnet vorsichtig die Augen.

ZARA - Der Tod liegt auf dem FriedhofWo Geschichten leben. Entdecke jetzt