Kapitel 9

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Nachdem Pia von Tom erneut unsanft mit einem Wasserglas geweckt wurde, da sie wieder nur schwer die Augen aufbekommen hat und die ganze Familie schweigend beim Frühstück saß, macht sich Pia nun auf die Suche nach dem Waisenhaus. Im Internet hat sie schon bereits im Bett nach Ansätzen gesucht, doch leider kam sie zu keinen Ergebnissen. Noch nicht einmal einen Ansatz bekam sie zu finden. Es hat sich wohl niemand zuvor mit diesem Waisenhaus beschäftigt. Also geht sie die Hoteltreppe herunter zur Rezeption und fragt dort nach. „Entschuldigen Sie bitte? Das scheint jetzt sicher komisch klingen, aber ich suche nach einem Waisenhaus, dass im 18. Jahrhundert abgebrannt ist. Es soll hier in Rom gestanden haben. Also jetzt ist es eigentlich nur noch eine Ruine, wenn überhaupt. Ich habe bereits im Internet danach gesucht, aber ich konnte keinen einzigen Hinweis dazu finden. Können Sie mir darüber etwas sagen oder mir wenigstens einen Anhaltspunkt geben?" Die schon etwas ältere Dame am Empfang sieht sie nachdenklich an und mustert sie misstrauisch. Kurz zweifelt Pia an ihren Italienischkenntnissen, doch dann beginnt die Frau im ruhigen Ton zu sprechen. „Sie sprechen von der Villa Roma, nicht wahr?" „Ähm, ich weiß ehrlich gesagt nicht wirklich ob das Haus so hieß, aber ja... bestimmt." Die Dame nickt. „Die Stadt hat sich stets bemüht, so wenig wie möglich an Informationen der Öffentlichkeit weiter zugeben Vielleicht wollten sie die Angelegenheit geheim halten. Deswegen ist es auch so, dass nicht viele Menschen von dem Unglück damals wissen, denn mit der Zeit ist es immer mehr in den Hintergrund gerückt. Aber Sie haben Glück, dass Sie mich haben, denn in meiner Familie wurde darüber geredet und die Legende des Waisenhaus immer an die nächste Generation weitergegeben." Dankbar und seht gespannt lächelt Pia sie an. „Gibt es noch Überreste von damals? Ich muss es dringend finden! Also... Ähm wegen einer Geschichtsarbeit. Wir beschäftigen uns mit italienischen Legenden. Meine Lehrerin hat mir den Tipp gegeben." „Ja, da könnte ich Ihnen weiterhelfen. Es stand an einem Waldrand südlich von Rom. Der Wald hat die Reste der Ruine ganz verhüllt, aber in der Nähe steht noch eine kleine Kapelle, die sogar aus der Zeit des Waisenhauses stammt. Der Pfarrer, der dort arbeitet, kann bestimmt mehr dazu sagen." „Oh, vielen lieben Dank für Ihre Hilfe." „Keine Ursache. Ich finde es schön, dass sich mal wieder Leute dafür interessieren, vor allem so junge Leute wie Sie es sind. Aber bitte machen Sie an diesem Ort nichts kaputt." Pia lächelt noch einmal und macht sich dann wieder zurück zum Zimmer. „Mama? Ich habe eine aufregende Ausflugsidee für heute." Ihre Mutter schminkt sich gerade. „Hm? Was denn?" „Ich habe mich gerade erkundigt und wir könnten ja mal in den Süden von Rom. Dort stand mal ein Waisenhaus, welches im 18. Jahrhundert abgebrannt ist." Tom kommt zu ihr und schmollt. „Och neee, nicht schon wieder Geschichte. Ich möchte lieber zu den Dinos." Pia verdreht die Augen. „Tom, die Dinos haben auch etwas mit der Geschichte zu tun. Außerdem bist du schon bei den Dinos gewesen und ich war an diesem Waisenhaus noch nicht. Oh und ich glaube dort gibt es bestimmt auch einen tollen Spielplatz für dich." Die Augen ihres Bruders beginnen freudig zu strahlen. Ihre Mutter schließt ihren Lippenstift und sieht die beiden an. „Ich finde Pia hat recht. Das ist doch eine gute Ausflugsidee für uns alle." Die letzten drei Worte sind mit einem mahnenden Blick direkt zu ihrem Mann gerichtet, der nur kurz vorm Handy aufguckt und dann sofort weiter schreibt.

Am Parkplatz des Waldrandes sieht Pia sich um. Sie sind insgesamt eine ganze Stunde vom Hotel aus gefahren. Zwischendurch musste die Familie immer mal wieder anhalten, denn ihr Vater hat diesmal keine Hilfe in Anspruch genommen, so dass sie sich drei mal verfahren hatten. Er versucht nach dieser nächtlichen Begegnung mit seiner Tochter einer Kommunikation aus dem Weg zu gehen, doch irgendwann hat er keine Lust mehr sich zu verfahren. Aber Pia ist gerade eh abgelenkt, da sie sich ein Lied von ihrer Lieblingssängerin anhört. Es ist ein Lied, welches sie seit ihrer Kindheit kennt und es gibt kein Musikvideo, welches sie sich im Laufe der Zeit sooft angehört hat wie dieses. Doch auf einmal wird sie von den wedelnden Armen ihres Vaters unterbrochen und schnell stoppt sie das Lied. „Na, wo ist denn jetzt deine so tolle Attraktion mitten hier in der Pampa?" An den genervten Ton in der Stimme ihres und dem Vaters merkt Pia, dass er keine Lust hat hier zu sein. Ist ja auch verständlich, denn hier im Wald gibt es sicherlich keine hübschen Italienerinnen, denen er nachgucken kann und seine Praktikantin ist momentan auch weit und breit nicht in Sicht. Sie verdreht ihre Augen. „Papa!" Pia sieht ihren Vater mit einen mahnenden Blick an und widmet sich dann kopfschüttelnd wieder ihrer Karte, die sie sich von der Rezeption als Orientierung vor der Abfahrt mitgenommen hat. Sie hat ihrer Mutter von der nächtlichen Begegnung mit ihrem Vater nichts erzählt, denn sie findet, dass er es ruhig selber machen kann. „Wenn du keine Lust darauf hast, kannst du ja mit Tom hier auf dem Spielplatz bleiben. Mama, wenn du auch hier lieber bleiben möchtest, dann bleibe hier oder du kannst auch gerne mit mir kommen. Es wird bestimmt spannend." Die Mutter sieht Pia unsicher an. „Hmm... Hase, traust du dich denn alleine in den dunklen Wald? Das ist doch sicherlich gefährlich. Du könntest dich verlaufen." Sie wedelt panisch mit den Armen und sieht ihre Tochter besorgt an. „Unsere Tochter ist 18 Jahre alt, Anja. Mach hier bloß keine Panik! Man, man, man... man bekommt doch Angst, wenn du Angst hast." „Ich meine es doch nur gut! Du kannst das ja nicht verstehen als Vater. Aber als Mutter reagiert man da schon vorsichtiger." Ihr Mann sieht sie empört an und plustert sich vor ihr auf. „Was soll denn das schon wieder heißen? Meinst du, dass ich mich nicht gut um meine Kinder sorge? Wer hat den die Kinder immer in die Schule gefahren und wieder abgeholt, weil er nicht möchte, dass seine Kinder auf dem Weg entführt wird? Ach, und wer war denn für dich da, als das Unglück passierte?" Pia sieht zwischen ihren Eltern hin und her und sieht dann Tom an, der seine Eltern fragend anguckt. „Was denn für ein Unglück?" „Ähm Tom? Geh du schon mal zum Spielplatz. Der Papa kommt gleich nach zu dir und ich nehme Mama mit." Schnell greift Pia ihre Mutter und führt sie mit sich in den Wald bevor die Situation wieder eskalieren würde. Ihre Mutter geht freiwillig mit und schüttelt den ganzen Weg über in den Wald den Kopf. „Dein Vater macht mich noch ganz fertig. Er kann doch nicht vor Tommi von dem Unglück sprechen. Das war nicht mal ein verdammtes Unglück! Es ist bei der Geburt einfach was schief gelaufen. Och... manchmal könnte ich ihn..." Sie redet den Satz nicht zuende und räuspert sich. „Na, wann sind wir denn jetzt da?" „Mama! Keine Ahnung. Ich bin hier doch auch zum ersten Mal. Ihr macht mich beide fertig. Fragt doch nicht immer einfach so, denn ich weiß gerade auch nicht wo wir sind." Sie versucht sich an der Karte zu orientieren und bleibt immer mal wieder stehen um sich umgucken zu können. „Ich glaube da hinten müsste auch schon die Kapelle sein."
Zielgerichtet steigen sie über die umgefallenen, mit Moos bewachsenden Baumstämmen und gelangen schon kurz darauf zur Kapelle. Sie erschrecken sich ein wenig bei dem Anblick. Die Außenfassade ist nicht mehr weiß, so wie sie vor vielen Jahrhunderten ausgesehen haben muss, sondern sieht mittlerweile dunkelgrau und an einigen Stellen sogar fast schwarz aus. „Huch, das ist ja richtig unheimlich hier, Pia. Na hier wird bestimmt kein Pfarrer mehr leben." Über die Lichtung weht eine frische Brise, die in Pia ein schauriges Gefühl auslöst und ihr wird auf einmal sehr kalt. Sie sieht sich die große Eingangstür aus Holz an, die von ihrer Beschaffenheit noch sehr gut erhalten ist. Der vergoldete Türgriff sieht frisch poliert aus oder wurde ebenso wie die Tür neu ersetzt, auf jeden Fall wirkt die Tür so, als wenn noch vor ein paar Tagen hier Leute ein und aus gingen. Allerdings ist der Weg dorthin dicht bewachsen, so dass es für Pia nicht so aus sieht, als wären da wirklich noch vor ein paar Wochen Menschen gewesen, geschweige denn ein Pfarrer. Über der Tür ist eine Frauenbüste angebracht, die mit ihrem Gesicht zur linken Seite guckt. Vorsichtig streckt sie die Hand nach dem Türgriff aus, um zu gucken, ob die Tür aufgeht. „Pia!", hört sie die Stimme ihrer Mutter und schnell geht Pia zu ihr hinter die Kapelle. Ihre Mutter steht vor einem Fenster, welches mit Holzbretter vernagelt ist, doch ihre ganze Aufmerksamkeit ist auf eine Wandtafel gerichtet. „Kannst du das übersetzen?" Schnell übersetzt Pia die italienische Sprache im Kopf und muss entsetzt feststellen, dass das wieder der gleiche italienische Spruch aus dem Gedicht ist, den sie auch schon kennt. „Und? Was steht denn da?" „Ähmm... ne ich weiß nicht so ganz was der Text heißen soll. Könnte Latein oder rumänisch sein."

Plötzlich hört sie hinter sich ein Kinderlachen. Es klingt nicht gruselig, so wie sie es immer wieder aus Horrorfilmen kennt. Viel mehr wirkt es fröhlich und voller Lebenslust. Erschrocken dreht sich Pia um. „Hörst du das?" „Ja." Ihre Mutter sieht sich die Holzbretter an. „Was? Wirklich?" „Ja, das Knarren der alten Bäume ist ja kaum zu überhören. Das ist hier echt ganz schön gruselig. Zum Glück ist Tom nicht mitgekommen, denn der hätte sich garantiert in die Hosen gemacht." Sie schüttelt sich, dreht sich um und mustert ihre blass gewordenen Tochter. „Maus? Ist alles in Ordnung, du siehst auf einmal so blass aus?" „Was? Achso,  ja klar, alles gut. Gehst du bitte schon zurück zum Parkplatz und wartest? Oder vielleicht redest du dort mit Papa nochmal. Ich sehe mich nochmal ein wenig hier um, ob ich doch noch etwas finde." „Hmm, ja ich gehe lieber mal. Sagtest du nicht etwas von einem Waisenhaus neben der Kapelle? Ich kann hier keine Hinweise erkennen, dass das hier mal stand." Ohne eine Antwort abzuwarten, geht sie zurück und Pia sieht ihr noch kurz nach bis sie nach dem Kinderlachen lauscht. Sie hört es in der Ferne und sie geht zurück zur Tür, um besser hören zu können. Die Büste der Frau guckt in die Richtung des Lachens. Mutig fasst sich Pia ein Herz und geht neugierig die Richtung entlang. Nach drei Minuten kommt sie zu einem gewaltigen Metalltor, welches voller Rost bedeckt ist. ˋDas ist das Tor des Waisenhauses!ˋ, erinnert sich Pia und ein kaltes Schaudern durchfährt ihren Körper. Es steht nichts weiter als das große Tor auf der Lichtung. Der Rest muss den Brand nicht überlebt haben. Hinter dem Tor sieht sie ein Gestalt, die ein Büchlein in der Hand hat und etwas auf italienisch darauf vorliest. Pia erschrickt ganz kurz, aber lächelt dann, denn sie kennt die Gestalt des Mädchens. „Zara! Was machst du denn hier? Kannst du etwa doch vom Friedhof weg?" Der Geist erschrickt und dreht sich zu ihr um und für ein paar Sekunden kann man unmöglich einschätzen wer von den zwei jungen Frauen mehr erschrocken ist. Denn das Mädchen ist nicht, wie Pia von hinten vermutet hatte, Zara, sondern eine noch jüngere Version von ihr, die Pia aber auch schon einmal gesehen hat. Das kleinen Mädchen geht neugierig auf sie zu und mit jeden Schritt erkennt Pia einen Makel in ihrem Gesicht, welches sich weiter den Hals lang zieht. Es sieht aus wie eine große Brandnarbe, welche sich über Porzellan zieht. Jetzt versteht es Pia. Das kleine Mädchen muss Violetta sein, welche im Feuer umgekommen sein muss. „Da bist du ja wieder." Sie lächelt sie traurig an. „Du trägst ja jetzt eine Hose." Verwundert und überfordert sieht Pia Violetta an. Sie kann sich nicht erinnern, dass sie Violetta schon einmal gesehen habe. Oder sie irrt sich und es ist doch Zara, die vor ihr steht. Allerdings ist das ja unmöglich. Es muss also wirklich die kleine Schwester von Zara sein. Pia schluckt und weiß nicht was sie darauf sagen soll. „Ja, natürlich trage ich eine Hose." „Das letzte Mal hast du ein Kleid angehabt." „Aber, das kann doch gar nicht möglich sein. Wir sind uns doch noch nie begegnet. Woher kennst du mich?"

Bevor ihr Violetta eine Antwort geben könnte, wird sie von einem lauten Schrei durch den ganzen Wald hallend gestört. „Das ist meine Mutter. Ich muss zurück, allerdings... Vio... Violetta!?" Der Geist von Violetta ist mit dem lauten Schrei verschwunden. Pia sieht sich noch einmal verwundert um, eh sie sich schnell auf dem Weg zurück macht.

ZARA - Der Tod liegt auf dem FriedhofWo Geschichten leben. Entdecke jetzt