Kapitel 11

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Nach der kurzen Zeitreise öffnet Pia vorsichtig erst ein Auge, dann das andere Auge. Die tiefstehende Sonne scheint hell in ihre Augen, so dass sie es sehr schwierig hat, sich mit blinzelnden Augen zu orientieren. Sie befindet sich auf einer großen Wiese im Park des Schlosses von Stefano und um sie herum stehen Menschen. Zwei Angestellte des Anwesens laufen durch die Menschenmasse und sammeln in einen großen Sack Geld ein. Vor den Menschen steht ein Podest aus Holz mit einem Galgen. Schluckend vor Ungläubigkeit starrt Pia ihn an. Noch nie hat sie so etwas im echten Leben gesehen. Es sind mindestens 30 Adlige mit ihren Dienern und auch Bauern da, welche wild miteinander diskutieren. Schon während der Zeitreise hat Pia die Stimmen der Menschen gehört, die immer lauter wurden. Pia lauscht neugierig zwei adrett gekleidete Frauen, die vor ihr stehen und sich miteinander unterhalten. „Ja, ganz recht! Der freche Knabe hat es verdient. Schließlich ist er einfach so in das Schlafzimmer der jungen Zara gestiegen und hat sie hurenhaft entehrt, obwohl er wusste, dass sie mit dem edlen Herren verlobt ist und sie so kurz vor der Hochzeit standen. Pah! Was glaubt er denn, wer er sein mag?" „Wem sagst du das. Wobei ich von meinem Gatten ja ein Skandal gehört habe." „Ein Skandal? Sage mir... wovon sprichst du?" Die eine Frau beugt sich zu ihrer Gesprächspartnerin und redet leiser. „Der junge Mann soll der eigentliche Herr im Hause sein." Mit offenen Mund schaut die andere Frau sie geschockt an und zwischen ihnen herrscht einige Sekunden Ruhe. „Aber das kann ich nicht glauben. Außerdem soll sie freiwillig mit ihm geschlafen haben. Sie ist in meinen Augen so eine erstklassige Dirne. Und die Leute reden ja viel. Ich habe gehört, dass sie vor ihrer Verlobung sogar noch einen anderen jungen Mann hatte." „Solch eine Hurerei hat diese Welt noch nicht gesehen." „Dirne, sage ich ja. Das hat der arme Stefano doch gar nicht verdient. Er muss sie auch hinrichten und sich eine neue Frau suchen, um jemals wieder glücklich zu werden!" „Ach Quatsch, meine Teuerste! Ich dachte, du findest den Herr Stefano auch schrecklich. Du hoffst doch bei den Männer immer nur auf das Geld. Oder wie war das damals mit deinem ersten, zweiten, dritten und vierten Mann? Wenn wir schon von Leuten hören, die reden, dann muss ich ja mal sagen, dass bekannt ist, dass Sie ihre verstorbenen Männer umgebracht haben. Da müsste sich der Stefano aber in Acht wir Ihnen nehmen." Die beschuldigte Frau wird ganz rot vor Wut. Sie weiß gar nicht was sie dazu sagen soll. „Was erlauben Sie sich eigentlich? Diese Anschuldigungen weise ich ganz klar zurück. So etwas lasse ich mir nicht unterstellen." Die Frau dreht sich beleidigt weg und redet mit einer anderen Frau über die Sache. Erschrocken sieht Pia sich um. ˋReden sie von Alessio? Oder von Stefano? Wer wird hier gehängt?ˋ Ihr Blick fällt auf ein großes Fenster an dem Zara lehnt und traurig die Leute beobachtet. Ein paar der Leute tuscheln skeptisch über sie und zeigen unauffällig auffällig auf sie. Schnell rennt Pia durch die Menschenmasse hin durch, durch die offene Eingangstür und sprintet die Treppen hoch. Oben angekommen muss sie kurz nach Luft schnappen, eh sie sich weiter auf die Suche nach Zara macht. Sport ist noch nie ihre Lieblinglingsdisziplin des Lebens gewesen. Am Ende des Flures sieht sie Stefano fröhlich pfeifend zu einer Tür gehen und Pia folgt ihm noch gerade so in das Zimmer. „Zara, Liebes!" Stefano geht auf Zara mit offenen Armen zu, um sie zärtlich zu umarmen, doch Zara weicht schnell aus. „Lass mich in Ruhe, du gemeiner Scheusal! Wie kannst du nur...? Wieso muss ich aufwachen und mitansehen wie die Vorbereitungen für den Tod meines Alessios laufen?" Über Zaras Haut fährt durch den Ekel gegenüber Stefano ein eisiger Schauer und sogar Pia kann die Gänsehaut sehen. Stefano schließt hinter sich die Tür, schließt ab und geht wieder auf sie zu. „Ich dachte, das wäre eine schöne Überraschung für unseren ersten Hochzeitsmonat." Er grinst Zara an. „Nein, meine Teuerste, dieses Ereignis wollte ich dir nicht vorenthalten, denn wie ich dir bereits sagte: Du solltest für deine Taten bestraft werden. So etwas ist widerlich und durchaus auch sehr dirnenhaft von dir. Eine Dame darf so etwas nicht machen, denn sonst bringt sie Unglück in die Familie. Aber durch deine Tat ist es wahrscheinlich bereits zu spät. Deswegen darfst du das dir den ganzen Tag von deinem Ehrenplatz angucken und die letzten Stunden deines Alessios von hier angucken. Außerdem ist der Park der angebrachteste Ort für diese Hinrichtung, denn hier können alle Leute, die es interessiert, zu sehen und sich amüsieren." Dass er durch die Menschen eine hohe Geldsumme eingenommen hat, sagt er dabei nicht. Empört sieht Zara ihn an „Es ist der angebrachteste Ort? Das ist der angebrachteste Ort?" Stefano redet ruhig weiter. „Wir werden uns das Spektakel zusammen von hier oben aus ansehen. Es wird unser erstes großes Ereignis sein, seit unserer Hochzeit. Naja, also ich meine abgesehen von der schönen Hochzeitsnacht, die uns ja leider dann versaut wurde. Du weißt, wovon ich spreche. Mein Engel, guck nicht so. Ich verspreche dir, dass du ihn schon ganz bald vergessen hast!" Seine Hand gleitet von ihrem Rücken zu ihrem Po und er versucht sie zu küssen. Zara beugt sich so weit sie kann nach hinten. „Ich guck mir lieber den Mord an meinem Alessio an, als dich zu küssen." „Ach, wenn du dir das freiwillig angucken willst, dann bitte sehr. So schrecklich bin ich doch gar nicht. Schließlich habe ich sehr viel Geld und bei niemanden sonst könntest du so gut speisen und schlafen wie bei mir und natürlich mit mir." Er lacht kurz. „Doch! Ich könnte hier ein ganz anderes Leben führen. Ein Leben ohne dich! Denn Alessio ist der rechtmäßige Erbe dieses Anwesens. Er hat mir alles erzählt gehabt. Du Teufel hast ihm alles geraubt und seine Familie ermordet! Du bringst ihn doch nur um, damit nicht rauskommt, dass du gar nicht der Vater meines Kindes bist, sondern eigentlich mein Alessio. Nur weil dir dein Stolz mehr wert ist als die Gerechtigkeit." Stefano guckt raus, als hätte er die Worte gar nicht gehört und guckt dann wieder Zara an. „Gleich ist er es nicht mehr. Sieh dir nur an, wie er gleich vor deinen zauberhaften Augen stirbt." Er führt sie zum Balkon und auch Pia geht neugierig raus. Alessio besteigt gerade die Plattform und die Menschenmenge beschimpft ihn und wirft ihn mit fauligen Tomaten und Eiern ab. Drei Männer mit Trommeln steht vor dem Galgen und schlagen auf die Trommeln, damit die Spannung steigt. Neben sich hört Pia das laute Schluchzen von Zara. Alessio wirft einen langen Blick hoch zu Zara und man sieht deutlich, dass er nicht Angst vor dem Tod hat, sondern eher davor, dass Zara ab jetzt alleine mit Stefano ihr Leben leben muss. Der Henker an Alessio Seite zieht Alessio weiter zum kleinen Hocker, der direkt unter dem Galgen steht. Er stellt sich darauf und nimmt das Seil selbst in die Hand. Zaras Schluchzen wird lauter und die Menschen unten drehen sich neugierig um und diskutieren laut flüsternd miteinander. „Ruhe!!!" Nach diesem Brüller von Stefano, verstummen die Leute und sehen gespannt zu ihm hoch. „Ihr lieben Leute, meine lieben Freunde, heute ist ein ein ganz besonderer Tag! Zum ersten Mal seit 200 Jahren wird auf diesem Grundstück ein Mann gehängt! Wie gerne hätte ich ihn nicht auf solch einer Weise bestraft." Er macht eine dramatische Pause und guckt ganz ergriffen zu Alessio ehe er weiter spricht. „Allerdings ist er natürlich nicht irgendein Mann, sondern er ist ein dümmlicher Bastard, der meine liebliche Frau Leid angetan hat." Die Leute klatschen und Stefano lässt sich mit erhobenen Kopf und ausgestreckten Armen feiern. Dann sieht er wieder runter zu Alessio. „Mein lieber Diener Alessio mehr oder eher weniger bist du mir immer treu ergeben gewesen. Doch, kannst du verstehen, dass dieser Tod nur eine Rechtfertigung für deine Tat ist." Er sieht zu Zara, die völlig am Ende ist und ihre Tränen nicht mehr unterdrücken kann. Alessio nickt ihm zustimmend zu, doch sein Gesichtsausdruck verrät eindeutig, dass er lieber Stefano tot sehen will und er ganz und gar nicht seiner Meinung ist. Der Henker weist Alessio darauf hin, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen ist und Alessio legt sich zögerlich den Strick um den Hals. Pias Hände krallen sich in den Stein des Balkons und verzweifelt sieht sie zu. ˋWieso? Wieso hilft ihm denn keiner?' Mit einem sehr machtvollen Grinsen hebt Stefano den linken Arm, als Zeichen, dass der Hocker unter den Füßen weg soll. Der Henker nickt zufrieden, holt sein linkes Bein sehr weit aus und tritt mit voller Wucht gegen den Hocker.

„Nein! Nein!!" Zara streckt die Arme nach Alessio aus und beugt sich weinend, kreischend über den Balkon. Noch nie in Pias Leben hat Pia solch einen lauten Schrei gehört wie diesen von Zara. Wobei es nicht mal die Lautstärke ist, die Pia erschrickt, sondern vielmehr die Art wie sie schreit. Es ist ein schriller Schrei der traurigen Verzweiflung. Stefano zieht Zara in das Zimmer. „Sei ruhig, mein Liebes. Es ist vorbei! Er musste nicht mal leiden." Er denkt kurz nach. „Schade eigentlich!" Pia steht noch draußen und beobachtet geschockt die Menschen, wie sie den toten Alessio am Galgen wieder mit den Eiern und Tomaten abwerfen und sich köstlich darüber amüsieren. Noch nie in ihrem Leben hat sie solch eine Tat live mitansehen müssen. Sie schüttelt fassungslos den Kopf und geht in das Zimmer, um sich es nicht mehr ansehen zu müssen. Zara hat sich auf dem Boden geworfen und weint bittere Tränen vor Verzweiflung und Hass. Ihr Gatte Stefano ist in der Zwischenzeit gegangen und hat sie mit ihrer Trauer im Zimmer gelassen.

Mittlerweile ist die Sonne untergegangen und die Leute sind längst alle nach Hause gegangen. Pia hätte die Reise in die Vergangenheit beenden können, aber sie konnte es nicht. Zum einem musste sie dieses Ereignis selbst verarbeiten und außerdem hatte sie das Bedürfnis ihrer Freundin Zara so wenigstens mehr zur Seite zu stehen. Zaras Augen schaffen es nun nicht mehr Tränen zu weinen. Sie steht vom Boden auf und sieht sich im Spiegel an. Obwohl sie mindestens zwei Stunden geweint hat, ist ihr Gesicht nicht verquollen. Pia muss schmunzelnd die Augen verdrehen, denn wenn sie nur fünf Minuten weint, sieht ihr Gesicht wie ein nasser Schwamm aus. Zara wischt sich tief durchatmend die Tränen aus dem Gesicht und sieht sich um. Ihr Blick fällt auf einen Vorhang am Fenster und ohne zu zögern, reißt Zara ein Stück von ihm ab und legt ihn auf den Boden um Sachen ein zu packen. Sie packt einen Spiegel, eine Bürste, drei Kleider und ein kleines Büchlein, welches Pia bekannt vorkommt. Pia geht stirnrunzelnd neugierig näher an Zara heran und sie stellt fest, dass das Büchlein das gleiche ist, welches der Geist von Violetta in der Hand hatte. Geschockt sieht Pia in ihr Gesicht und dann wieder aufs Buch. ˋHä? Moment mal... Wie kann es denn sein, dass sie das Büchlein hat? Zara sagte doch, dass es mit Violettas Tod mit verbrannt ist! Es ist doch unmöglich, dass es dann hier bei Zara ist. Oder... oder es gibt davon zwei Bücher.' Noch während Pia fieberhaft nach einen Grund grübelt, weshalb Zara noch so ein Büchlein hat, ist Zara schon auf den Balkon gegangen und versucht sich gerade heimlich an der Säule herabzulassen.  Pia hat inzwischen eine leise Ahnung, doch eh sie sich länger mit dem Büchlein aufhält, beschließt sie erstmal zu warten bis sie wieder mit Zara kommunizieren kann. Pia hat Mühe Zara zu folgen ohne sich zu verletzen. Als sie auf dem Boden ankommt, guckt Zara sich nach Wachen um, doch in ihrem Blickfeld kann sie keine Wachen entdecken. ˋSie will also fliehen. Das ist mal eine gute Entscheidung.ˋ Pia sieht Zara zufrieden an. Nach ein paar Schritten bleibt Zara stehen und dreht ihren Kopf nach rechts. Über ihre Augen laufen Tränen. Verwundert folgt Pia ihrem Blick und als sie es sieht, kann sie nur knapp einen Schrei unterdrücken. Vor ihr befindet sich noch Massimo am Galgen, der nach seinem Tod einfach als Ausstellungsstück hängen gelassen wurde. Pia schüttelt nur den Kopf und geht zwei Schritte zurück. Zara geht hingegen näher an Alessios leblosen Körper heran und wirft ihm einen liebevollen Luftkuss zu, eh sie sich abwendet und sich weiter davon schleicht. Pia folgt ihr, doch als sie noch nicht mal das Einfahrtstor erreicht hat, verschwimmt um sie herum schon wieder alles und die Reise in die Gegenwart beginnt.

ZARA - Der Tod liegt auf dem FriedhofWo Geschichten leben. Entdecke jetzt