S E C H S

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Kai versteckte sich den Rest des Wochenendes im Bett unter einem großen Haufen Decken und Kissen. Sein Handy nahm er nicht mehr in die Hand. Zu groß war die Angst vor dem, was Julian vielleicht geschrieben haben könnte.
Als er am Sonntagabend den Wecker stellen musste, schaltete er das Internet aus und ignorierte die 23 Nachrichten auf WhatsApp.

Am Montagmorgen spulte er seine Routine mechanisch herunter. Aufstehen, duschen, Trainingstasche packen. Alles fühlte sich ein wenig komisch und ungewohnt an. Kurz spielte er auch mit dem Gedanken, sich krank zu melden und nicht beim Training zu erscheinen. Denn Training bedeutete, dass er Mitch und Sam sehen musste. Zwar glaubte er nicht, dass Julian ihnen etwas erzählt hatte, aber Fragen über seinen plötzlichen Abgang würden sie trotzdem stellen. Und Kai hatte das Wochenende nicht genutzt, um sich eine passende Antwort darauf zu überlegen. Stattdessen hatte er krampfhaft versucht an gar nichts zu denken.

Er ließ sich ein bisschen mehr Zeit auf dem Weg zum Trainingsgelände und nahm es in Kauf, zu spät zu kommen. So umging er das Aufeinandertreffen in der Kabine. Und als er den Trainingsplatz betrat, wärmten sich seine Kameraden bereits auf. Ihr Trainer rügte ihn und sah ihn komisch an. Weil zu spät sein nicht zu ihm passte, dass wusste Kai selbst. Zum Glück schaffte Kai es, ihn davon zu überzeugen, dass es eine einmalige Sache war, bevor der Trainer weitere Fragen stellte.
Dann suchte er sich einen Platz in der Reihe, der ungewöhnlich weit von Sam und Mitch entfernt war. Der Ältere sah nicht so aus, als würde er sich wirklich dafür interessieren was Kai tat, aber Sams bösen Blick hatte er auf seiner Seite. Wie Medusa, die alles und jeden mit ihren Augen versteinerte, lauerte er auf ihn.
Nach den ersten Aufwärmübungen begann das Lauftraining. Kai hatte bei den Ausdauerübungen keinen großen Anspruch an sich selbst. Er musste nicht der erste im Ziel sein. Julian und er waren immer die letzten gewesen, sowohl bei Leverkusen als auch in der National Elf. Und Mitch und Sam hatten sich irgendwann dazugesellt. Nicht selten gab es Ärger dafür, dass sie sich zu wenig anstrengten.
Heute war Kai ganz vorne mit dabei. Weil Sam am Ende der Schlange wie der Schlund des Teufels auf ihn wartete. Es fiel ihm schwer Schritt zu halten und er war danach ziemlich aus der Puste.
Doch Kais Bemühungen waren am Ende umsonst. Denn als die Trainingsgruppen eingeteilt wurden, plumpste er vom Himmel in die Hölle. Zirkeltraining in Dreiergruppen und er erwischte Sam und Mitch. Vielleicht hätte er sich doch krankmelden sollen.
Schon als er auf sie zuging, bemerkte er, dass Sams Laune immer schlechter wurde. Und der Schaumstoffball in seiner Hand wirkte wie ein bedrohliches Schwert.
Kai versuchte es mit einem harmlosen »Hi Jungs« und seinem unschuldigen Lächeln, dem die wenigstens widerstehen konnten. Außer Sam, denn der warf ihm trotzdem den Ball an den Kopf.
»Hey, spinnst du?«, fauchte Kai pikiert und zupfte sich ein paar Krümel vom Kunstrasen aus den Haaren.
»Das Gleiche könnte ich dich fragen, blöder Penner! Warum bist du einfach abgehauen, ohne Bescheid zu sagen? Und dann antwortest du mir nicht mal!«
Kai lag bereits ein böser Spruch auf der Zunge. Nach der Sache mit dem Ball, wollte er es sich nochmal überlegen, ob er sich entschuldigen wollte. Doch sich weiter wie ein Arsch zu benehmen, brachte keinen von ihnen voran.
»Tut mir leid, dass ich euch sitzen gelassen habe!«, sagte er schließlich versöhnlich.
Sam hatte zwischenzeitlich noch einen Ball aufgehoben. Dieses Mal einen Fußball und den warf er Kai in den Bauch, sodass sich der Jüngste von ihnen vor Schmerz ein wenig krümmte. Aber der Schmerz wurde schnell nebensächlich. Kai bekam es mit der Angst zu tun, Sam hätte den zweiten Ball geschmissen, weil Julian etwas erzählt hatte. Sofort war die Panik wieder da, die sich in seinem ganzen Körper ausbreitete, Hitzewallungen durch seine Adern trieb und die Übelkeit durch seinen Magen. Kai fragte sich, ob die Blicke von Sam und Mitch anders waren als sonst. Ob sich im Gegensatz zu letzter Woche irgendetwas grundlegend zwischen ihnen verändert hatte. Würden sie sich vor ihm ekeln, wenn sie wüssten was in Dortmund geschehen war? Würden sie es den anderen sagen?
Kais Herz schlug schneller und seine Atemzüge wurden kürzer und schwerer. Jetzt sah Mitch ihn tatsächlich komisch an. Und Sam hatte schon den nächsten Ball in der Hand.
Er musste sie jetzt einfach fragen, ob sie Bescheid wussten. Sie würden ehrlich zu ihm sein, oder?
»Hat Julian noch etwas zu euch gesagt?« - Kai wollte die Nervosität mit einem Lächeln überlisten. Aber er war sich nicht so sicher, ob es ihm gelungen war.
Sam holte schon wieder mit dem Ball aus. Es war wieder ein Fußball und dieses Mal zielte er damit auf Kais Kopf. Mitch verdrehte genervt die Augen und nahm seinem Mannschaftskollegen sein Geschoss ab. Dann wandte er sich Kai zu.
»Gesagt hat er nichts weiter, nur nach dir gefragt. Der war wohl genauso verwundert über deinen stillen Abgang.« - Mitch zuckte mit den Schultern - »Danach hat er sich im Bad die Seele aus dem Leib gekotzt und ist nicht wieder rausgekommen, bis Ina aufgetaucht ist!«
»Besser wär's, Jule lässt in Zukunft die Finger vom Alkohol, wenn er ihn schon nicht verträgt. Zum Glück hat er sich das Kotzen bis zuhause aufgehoben!«, witzelte Sam zynisch, auf der Suche nach einem neuen Ball.
Kai schluckte schwer. Die Panik verwandelte sich in ein schlechtes Gewissen. Denn irgendetwas sagte ihm, dass Julian nicht wegen dem Alkohol gekotzt hatte. Kai hatte nicht gewollt, dass es Julian so ging. Und ihm wurde klar, dass er es durch sein Verschwinden und die Funkstille nur schlimmer machte.
Doch bevor er sich in seinen Gedanken verrennen konnte, schmiss ihn wieder jemand mit einem Ball ab. Ein Schaumstoffball gegen die Brust. Dieses Mal war es Mitch, der ihn fragend ansah.
»Was ist?«, entgegnete Kai verwirrt.
»Wir müssen anfangen, los!«
Kai beschloss, dass er Julian nach dem Training sofort schreiben würde, bevor er sich auf seine Übungen konzentrierte und darauf, Sam auszulachen, weil er die Anweisungen ihres Trainers nicht verstand.

Bis zum Elfmeterpunkt | BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt