Das Leben ging weiter auch ohne Kai. Aber es war schwierig die Gefühle von heute auf Morgen abzustellen. Sie zweifelte, ob ihre Entscheidung die richtige gewesen war. Vielleicht hatte sie sich ja doch geirrt?
Sie hatte geweint als sie nachhause gekommen war und sich in die Arme Ihrer Mutter geflüchtet. Es spendete ihr genug Trost, um am nächsten Tag zur Uni gehen zu können.
Ihre Eltern hatten gefragt, ganz viel. Aber sie konnte ihnen nicht die Wahrheit sagen. Weil sie selbst nicht wusste, ob es wirklich die Wahrheit ist. Es tat ihr weh die beiden anzulügen. Mit ihren Freundinnen redete sie auch nicht darüber. Sie wollte das hinter sich lassen. Ihr war klar, dass sie nicht wieder umkehren konnte. Dass es für Kai und sie keine Chance mehr gab. Auch wenn alle anderen ihr immer wieder sagten, dass sich das schon wieder einrenken würde. Sie hatte ja nicht mal den Mut dazu, zu gestehen das sie Schluss gemacht hatte, nicht er. Weil sie etwas ahnte, glaubte etwas zu wissen, dass sonst niemand anderes vermutete.
Zum Glück gab es in den darauffolgenden Wochen genug Ablenkungspotential. Sie musste sich ein WG-Zimmer suchen. Weil sie nicht ewig auf dem Sofa ihrer besten Freundin schlafen konnte und vom Elternhaus war der Weg zur Uni zu weit, um ihn jeden Tag zwei Mal zurück zu legen. Dann konnte sie das Studium auch gleich abbrechen, denn dieser Belastung könnte sie niemals gerecht werden. Die Suche war wirklich anstrengend. Entweder waren die Zimmer nicht größer als Abstellkammern oder die Mitbewohner merkwürdig. Für eine eigene Wohnung fehlte ihr das Geld.
Ihre Eltern überredeten sie dazu, mit in den Urlaub zu fahren. Es war zwar nur der jährliche Campingausflug an die holländische Nordsee in einem Ort, in dem sie schon alles kannte, aber sie dachte es würde ihr guttun, am Strand lange Spaziergänge zu machen und in den Dorfkneipen neue Bekanntschaften zu schließen. Außerdem waren es bloß die letzten zwei Wochen der Semesterferien. Bis dahin waren es noch ein paar Tage. Also schob sie die Entscheidung auf.
Wenn es ganz schlimm wurde mit den Gedanken und der Traurigkeit, die sie einholte, dann erwischte sie sich das ein oder andere Mal auch mit dem Theorielehrbuch für den Führerschein. Der war in Vergessenheit geraten, als sie Kai kennengelernt hatte. Wofür brauchte sie den auch? Ihr Freund hatte ja einen und ein Auto. Er fuhr sie überall hin, wenn er Zeit hatte. Und wenn nicht er, dann ihr Vater. Sie wollte ihre Zeit damals wichtigerem widmen.
Die Tage vergingen. Sie schaute Kais letztes Fußballspiel der Saison im Fernsehen und freute sich, dass Leverkusen gewonnen und Kai zwei Tore geschossen hatte. Sie überlegte sogar, ihm deswegen eine Nachricht zu schreiben. Aber dann tauchte am Samstag dieses Bild auf Instagram auf, wo Kai neben einem blonden Mädchen stand. Das machte sie wütend und nachdenklich. Hatte sie sich doch geirrt? Hätte sie bleiben sollen?
Manchmal wünschte sie sich, Kai würde bei ihr auftauchen. Sie wollte reden, Klarheit haben. Sie bereute, dass sie ihm nicht gleich den ehrlichen Grund genannt hatte. Dann träumte sie davon, dass sie sich geirrt hatte und alles zwischen ihnen wieder so werden würde wie früher. Weil sie ihn doch liebte.
An anderen Tagen wiederrum, war sie sich sicher, dass sie sich nicht geirrt hatte. Dass sie etwas durchschaut hatte, von dem sie vorher nicht mal wusste, dass es existiert hatte. Trotzdem fühlte es sich so an, als würde sich das Glas, dass sie zerschlagen hatte, immer wieder selbst zusammensetzen und ihr wieder den Weg versperren. Denn trotz allem, was sie glaubte zu wissen, hatte sie keine Sicherheit dafür, dass es auch wirklich stimmte.
Sie lag auf ihrem Bett und stellte sich gerade einen vorläufigen Kurs Plan für das nächste Semester zusammen, als es an ihrer Zimmertür klopfte. Aufregung machte sich in ihr breit, als sie aufsprang und die Tür aufriss. Weil sie hoffte, es wäre Kai. Doch es war nur ihr Vater, der sie mitleidig anlächelte.
»Was ist los? Holst du Mama von der Arbeit ab?«, fragte sie verwirrt. Ihr Vater klopfte normalerweise nicht an ihre Tür. Er rief sie quer durchs ganze Haus, weil er zu faul war nach oben zu kommen.
»Kai ist unten. Er will mit dir reden!«
Sie erstarrte. In den letzten Wochen hatte sie sich diese Situation ein paar Mal vorgestellt. Und sie hatte immer fröhlich, aufgeregt reagiert. Wie damals, kurz vor ihrem ersten Date. Aber jetzt, wo ihr Tagtraum Wirklichkeit geworden war, wollte sie sich am liebsten unter ihre Bettdecke verkriechen und so lange dortbleiben, bis Kai wieder verschwunden war. Sie fühlte sich plötzlich nicht mehr in der Lage dazu, ihm gegenüberzutreten. Weil sie ihm nicht sagen wollte, warum sie gegangen war. Es ergab mehr Sinn für sie, solange sie es niemandem erklären musste.
Ihr Vater und sie hatten schon immer eine recht innige Bindung zueinander gehabt. Sie war ein Einzelkind und seine kleine Prinzessin. Jeder Junge, der zu ihr wollte, musste sich immer erst vor ihm behaupten – selbst der Profifußballer Kai Havertz. Ihr Vater war immer auf ihrer Seite, egal ob sie recht oder unrecht hatte. Und wenn sie sich verkriechen wollte, dann hatte ihr Vater die Jungs verscheucht.
Aber heute sah er sie zum ersten Mal so an, als erwartete er von ihr, dass sie sich eben nicht verkroch. Sondern die Schultern straffte, hinunterging und mit Kai sprach. Ihr Vater mochte Kai, mehr als die anderen, die sie davor angeschleppt hatte. Was sie sonst immer als Vorteil interpretiert hatte, entpuppte sich gerade als riesengroßer Nachteil.
»Süße« - ihr Vater legte behutsam beide Hände auf ihre Schultern - »ich weiß nicht, was zwischen euch vorgefallen ist, du erzählst es uns ja nicht. Aber Kai sieht so aus, als wüsste er überhaupt nicht was passiert ist. Er sieht wirklich nicht gut aus. Du solltest dem Jungen wenigstens sagen, warum du ihn nicht mehr willst! Manchmal sind wir Männer halt einfach blöd, aber wir brauchen eine klare Anweisung. Zwischen den Zeilen lesen ist nicht unser Spezialgebiet, darin seid ihr Frauen einfach besser! Und wenn er etwas falsch gemacht hat, von dem er gar nicht weiß, dass es dich gestört hat, dann wird es nie besser machen können!«
Sie kräuselte die Nase. »Ich weiß nicht, wie ich's ihm sagen soll!«
»Glaub' mir, wenn's der richtige Zeitpunkt ist, kommen die Worte von ganz alleine!«
Sie lächelte ihren Vater an. Weil er ihr geholfen hatte und es gar nicht wusste.
»Muss Charlie raus?«, fragte sie nachdenklich.
Ihr Vater legte den Kopf schief und zog die Stirn kraus. »Wolltest du nicht erst mit Kai reden? Ich meine, danach kannst du immer noch Gassi-« - er unterbrach sich selbst und man konnte sich die anspringende Glühbirne über seinem Kopf bildlich vorstellen - »Charlie könnte mal wieder eine Runde vertragen. Nimm' den Ball mit!«
Sie nickte, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und ging danach hinunter.
Obwohl sie vor ein paar Sekunden gedacht hatte, die Nervosität wäre verschwunden, wurde sie nun etwas Besseren belehrt. Ihr Herz klopfte noch immer, als wäre sie einen Marathon gelaufen und ihre Handinnenflächen waren so schwitzig, dass ihr Charlies Leine ein paar Mal aus der Hand fiel, während sie sich die Schuhe anzog. Sie atmete ein paar Mal tief durch, dann rief sie den Golden Retriever zu sich. Charlie hechelte und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Sie strich ihm behutsam über den Kopf, um sich selbst zu beruhigen. Vielleicht sollte sie sich doch wieder im Bett verkriechen und ihren Vater bitten Kai wegzuschicken. Er würde es tun, auch wenn es nicht das Richtige war.
Sie nahm ihren Hausschlüssel und beschloss mutig zu sein. Sie wollte Klarheit und Kai brauchte diese.
Sie öffnete die Tür und konnte sehen wie die Anspannung von Kai abfiel, als er sie erblickte. Ihr Vater hatte recht gehabt, Kai sah schrecklich aus. Aber in ihr keimte sofort das beruhigende Gefühl auf, dass sie nicht daran schuld war. Oder zu mindestens nicht nur sie.
Ihr Ex-Freund sah aus, als hätte er die vergangenen Nächte mehr wachgelegen, als geschlafen. Und seine Augen wirkten aufgequollen, beinahe so als hätte er geweint. War vielleicht etwas Schlimmes passiert?
Kai bemühte sich um eins dieser Grinsen, das sie so sehr an ihm liebte. Aber es war nur ein müder Abriss von dem, wie es eigentlich aussehen sollte. Und es sah endlos traurig aus.
Sie ging einen Schritt auf ihn zu, schloss die Haustür hinter sich. Charlie begann unruhig an der Leine zu ziehen, weil er den Besucher begrüßen wollte. Sie ließ die Leine los, bevor der Hund sich selbst mit seinem Halsband erdrosselte.
Kai ging in die Hocke, damit er Charlie richtig begrüßen konnte. Sie bemerkte, dass sich seine Miene für einen kurzen Moment aufhellte und ein ehrliches Lächeln auf seinem Gesicht auftauchte. Doch als er sich wiederaufrichtete und sie ansah, verschwand die Fröhlichkeit aus seinen Zügen.
»Hallo«, sagte sie zögerlich und wusste nicht, was sie danach tun sollte. Sollte sie ihn umarmen? Ihm die Hand geben? Winken? Oder einfach gar nichts machen.
»Ich dachte erst, du kommst nicht«, murmelte er und schob mit dem Fuß etwas Kies von einer Seite auf die andere.
»Ich hab' noch kurz mit meinem Vater geredet«, entgegnete sie ehrlich.
Kai sah sie an und sie konnte den Blick nicht definieren. Die Emotion dahinter hatte sie noch nie zuvor bei ihm gesehen. Es verwirrte sie. Eigentlich dachte sie, ihn besser zu kennen als jeder andere. Und gleichzeitig wurde ihr klar, dass es mindestens eine Person auf dieser Erde gab, die Kai wirklich besser kannte als sie!
»Was... Also... Was hast du deinen Eltern gesagt, weil wir uns getrennt haben?«
Sie zog nachdenklich die Schultern hoch. »Gar nichts. Sie wissen nicht, warum wir nicht mehr zusammen sind.«
»Da sind sie nicht die einzigen«, antwortete Kai zögerlich, ohne ihr in die Augen zu sehen.
Sie hob die Leine vom Boden auf und räusperte sich. »Lass' uns ein Stück gehen.«
Kai nickte und sie verließen gemächlich das Grundstück. Wortlos schlugen sie den Weg zum nahegelegenen Park ein. Sie waren schon oft zusammen Gassi gegangen und der Park war groß und weitläufig und fast immer menschenleer. Dort konnten sie ungestört über alles reden.
Zum Glück hatte sie den Gummiball mitgenommen. Es beruhigte sie, dass sie ihn in der Hand kneten konnte. Denn umso näher sie dem Park kamen, umso nervöser wurde sie.
Sie liefen ein ganzes Stück in den Park hinein, bis sie an einer Wiese ankamen, auf der kein Baum oder Busch war. Sie nahm Charlie die Leine ab und schmiss zögerlich seinen Ball. Der Hund sprintete los und Kai und sie ließen sich auf einer nahestehenden Bank nieder.
Es dauerte ein paar Minuten und ein paar Mal Ball schmeißen, bis Kai sich räusperte und sich zu ihr drehte. »An dem Tag, an dem du Schluss gemacht hast, hast du gesagt, dass du denkst ich wäre in jemand anderen verknallt. Kannst du mir bitte sagen, wie du auf diesen bescheuerten Schwachsinn gekommen bist? Ich versteh's nicht!«
Sie verschränkte ihre eigenen Hände ineinander und begann, mit ihren Fingerkuppen ihre Handrücken zu massieren. Ihr Vater hatte gesagt, wenn der richtige Zeitpunkt kommt, würden die richtigen Worte von ganz alleine kommen. Aber ihr fiel nichts ein, was richtig klang. Also war es nicht der richtige Zeitpunkt? Oder nicht die richtige Frage?
»Warum kannst du es mir nicht endlich sagen? Ich hab' die scheiß Wahrheit verdient, verdammt nochmal!« - sie zuckte zusammen, weil Kai laut geworden und aufgesprungen war - »Warum muss denn immer also so kompliziert sein?«
Kai raufte sich die Haare und klang so verzweifelt, dass sie nun doch den Blick hob und ihn ansah. Sie prüfte sein Gesicht, versuchte aus seinem Ausdruck zu lesen. Und sie stellte sich eine Frage, nur diese eine – »Warum jetzt? Warum bist du nicht schon vor zwei Wochen gekommen oder drei? Du hast dir fast einen Monat Zeit gelassen, um mir jetzt diese Fragen zu stellen – warum?«
Kai zuckte zusammen, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Und man konnte ihm ansehen, dass er mit dieser Gegenfrage nicht gerechnet hatte.
Ihr kam der Gedanke, dass er nicht nur wegen ihr hier war, sondern vor allem wegen sich selbst. Es kam ihr vor, als wolle er vor irgendetwas flüchten, dass er nicht mehr unter Kontrolle hatte. Und als wäre sie die Einzige, zu der er gehen konnte. Ihr kam der Gedanke, dass Kai die Wahrheit hinter der Trennung selbst kannte, aber sie nicht laut aussprechen wollte. Denn solange etwas nicht laut gesagt wurde, war es nicht wahr, nur eine Vermutung.
Kai ließ sich wieder auf die Bank fallen, stützte die Ellbogen auf den Knien ab und vergrub seinen Kopf in seinen Händen. Er raufte sich die Haare, es sah bald so aus, als wolle er sie sich ausreißen.
»Du bist wegen Julian gegangen, stimmt's?«
Ihr Herz machte einen unangenehmen Hüpfer und sie wusste, dass sie jetzt den Mund aufmachen musste.
Sie nickte. »In dem Moment wo ich das beschlossen habe, ergab es Sinn in meinem Kopf. Ich war so überzeugt davon, dass ich recht habe.«
Kai sah sie nicht an. »Wieso? Ich hab' nie etwas gemacht ... und Julian ... Julian auch nicht oder hat er etwas zu dir gesagt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, so war es nicht.«
»Wie dann? Red' verdammte Scheiße endlich Klartext!«
Sie schwieg. Charlie kam mit dem Ball zurück. Sie nahm ihn wieder an sich, hielt ihn fest. Am liebsten wollte sie gehen, weit wegrennen. Dahin, wo sie niemand finden konnte. Aber das wäre kindisch und sie wollte erwachsen sein.
»Da gab es diese andere Studentin, mit der wir in der Kantine gegessen haben.« - sie atmete tief durch - »Sie hat davon erzählt, dass ihr Freund sich in seinen besten Freund verliebt hat. Die waren fast vier Jahre zusammen und er war plötzlich... Auf jeden Fall haben sie alle gefragt, ob sie sauer war oder enttäuscht. Sie muss ihn gehasst haben in diesem Moment. Aber das hat sie nicht. Sie hat gesagt, dass das Herz macht, was es machen will und, dass sie es irgendwie schon vorher gewusst hatte.«
»Und was hat das mit Julian und mir zu tun?« - Kai klang reichlich verwirrt.
»Sie hat erzählt, wie sie darauf gekommen ist. Das ihr Freund keine Zeit mehr für sie hatte oder ständig mit ihm unterwegs war, sie sogar angelogen hat, um mit ihm wegzugehen. Und sie meinte, wenn die beiden sich angesehen haben, ist die Welt stehengeblieben.«
Jetzt sah Kai sie doch wieder an und runzelte die Stirn. »So etwas habe ich nie getan. Nie!«
»Nein, ich weiß.« - sie atmete noch einmal tief durch - »Du hast seinen Namen im Schlaf gesagt. Aber nicht so, als hättest du Angst um ihn oder würdest in deinem Traum gerade mit ihm Fußball spielen. Und einmal wollte ich dich wecken, um... Du hast meinen Kopf berührt und seinen Namen gesagt.« - sie lacht, beinahe schon hysterisch und ihre Stimme zittert - »Das ist eigentlich totaler Blödsinn, ich weiß. Deswegen habe ich dich immer gefragt, wovon du geträumt hast. Ich dachte, wenn du mich anlügst, dann sehe ich das. Du hast immer behauptet, du hättest es vergessen und sahst dabei so planlos aus, dass ich dir geglaubt habe. Aber dann hast du so viel Zeit mit ihm verbracht und ständig über ihn geredet. Ich hatte plötzlich nicht mehr das Gefühl, eine Rolle in deinem Leben zu spielen. Die wichtigsten Dinge aus deinem Leben wusste Julian immer vor mir und manchmal hast du mir Dinge gar nicht erzählt...«
Kai sieht sie immer mehr so an, als hätte sie nicht mehr alle Tassen im Schrank. »Du hast dich von mir getrennt, weil ich einmal seinen Namen im Schlaf gesagt hab'? Du hättest mit mir darüber reden können!«
»Ich hab' mich nicht nur deswegen von dir getrennt!«, sagte sie mit Nachdruck und wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich wollte nicht irgendwann die Betrogene mit den verletzten Gefühlen sein! Ich konnte plötzlich nur noch daran denken, dass du mich irgendwann nicht mehr richtig lieben würdest und so eine Beziehung will ich nicht! Ich wollte anderen nicht erklären müssen, dass mein Freund sich von mir getrennt hat, weil er plötzlich schwul ist!«
»Ich bin nicht schwul!«, sagte Kai und klang dabei so, als hätte sie ihn zutiefst beleidigt.
Sie konnte es verstehen. Er war Fußballer. Es gab kaum eine Sportart in der es so homophob zu ging wie dort - zu mindestens in Europa. Von klein auf wurde ihm beigebrachtet, dass es so etwas im Fußball nicht gab. Bestimmt dachte Kai sich: Ich bin Fußballer, ich kann gar nicht schwul sein! Und vielleicht hatte er seine Gefühle deswegen immer falsch verstanden. Sie als Freundschaft interpretiert, obwohl sie weit darüber hinausgingen.
»Okay, dann bist du nicht schwul, aber mit allem anderen habe ich recht, oder was?« - sie konnte nicht verhindern, dass sie ein wenig schnippisch klang. Sie hatte es schon immer gehasst, dass man ihm alles aus der Nase ziehen musste und er nicht mal von sich selbst aus erzählte. Lieber an seinen unausgesprochenen Gedanken und Gefühlen kaputt ging.
Kai senkte den Blick wieder und sie konnte die Angst und Unsicherheit spüren, die von ihm ausging.
Deswegen rutschte sie ein Stück näher an ihn heran und berührte ihn sanft am Arm. »Was ist passiert?«
Kai schüttelte den Kopf. »Ich kann's dir nicht sagen.«
»Deshalb bist du doch hier. Weil du drüber sprechen willst oder nicht?«
Kai schwieg für ein paar Sekunden, die ihr so schrecklich lang vorkamen. Dann, ohne Vorwarnung, sagte er: »Ich hab' mit Julian geschlafen!«
Sie hielt die Luft an. Dieses Geständnis traf sie so unvorbereitet, dass sie nicht wusste wie sie reagieren sollte. Sie hatte mit vielen gerechnet. Dass Kai ihr gleich sagen würde, dass er doch schon länger in ihn verliebt war oder, dass Julian und er sich geküsst hatten.
Sie stand auf, weil es sie verletzte und ihr erster Impuls Flucht war. Sie hatte gedacht, sie hätte ihre Gefühle für ihn bereits unter Kontrolle. Das da jetzt nicht mehr als Freundschaft zwischen ihnen war. Und dennoch war da dieser eine kleine Prozent, der trotzdem gehofft hatte, dass er heute hier war, um sie um eine neue Chance zu bitten.
Aber er war hier, weil er sie als Freundin brauchte. Und es fiel ihr schwer, von jetzt auf gleich die Enttäuschung zu verarbeiten und für ihn da zu sein.
»Es tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun«, murmelte Kai. »Deswegen wollte ich es dir nicht sagen!«
Sie drehte sich zu ihm um. Was er gesagt hatte klang so falsch in ihren Ohren. Kai hatte nichts getan wofür er sich entschuldigen musste. Immerhin waren sie getrennt gewesen, bevor er sich auf Julian eingelassen hatte. Aber sie schaffte es nicht, ihm genau das zu sagen.
Kai stand nun auch auf und sie fand, er sah so aus als würde er gleich anfangen zu weinen.
»Ich weiß, ich hätte nicht herkommen sollen. Aber ich wusste nicht, mit wem ich sonst darüber reden sollte!«
Sie konnte nichts dazu sagen, weil die Gefühle noch immer ihre Stimmbänder blockierten. Aber sie traute sich, Kai in eine Umarmung zu ziehen, als er wirklich anfing zu weinen. Er schlang die Arme hilfe- und haltsuchend um sie. Seine Schultern bebten, sein ganzer Körper zitterte.
Sie hielten einander ein paar Minuten fest, es tat ihnen beiden gut. Doch dann bellte Charlie neben ihnen und verlangte nach Aufmerksamkeit. Zaghaft machte sie sich von Kai los und sah ihren Hund für eine Sekunde böse an, dann warf sie den Ball wieder.
Sie wandte sich wieder Kai zu. Sie dachte, es würde ihm jetzt besser gehen. Das er bloß geweint hatte, weil er ihre Gefühle verletzt hatte. Doch sein Blick sagte ihr, dass es nicht daran gelegen hatte.
»Zwischen dir und Julian ist doch alles okay, oder? Ich meine jetzt nachdem ihr...« - sie will es gerne aussprechen, traut sich aber nicht. Das würde Bilder in ihrem Kopf hervorrufen, die sie dort nicht haben will. Der Gedanke, dass Kai sie vor ein paar Wochen noch so berührt hat, wie er jetzt Julian berührte, schnürte ihr die Luft ab.
Sie möchte nicht angewidert sein, dass fühlte sich falsch an. Sie gönnte Kai sein Glück, er hatte es verdient. Vermutlich war diese Reaktion ganz normal, wenn der eigene Freund plötzlich lieber Männer küsste. Das würde sich legen, ganz bestimmt.
»Ich glaub' wir haben's ziemlich verbockt.« - Kai lächelte gequält - »Vielleicht war die ganze Aufregung ja auch umsonst und er redet nie wieder ein Wort mit mir!«
Sie schluckte. »Du verwirrst einen total Kai! Ich versteh' kein Wort. Willst du mir vielleicht die ganze Geschichte erzählen? « - sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht - »Also ohne die Details... aber halt so, dass ich es auch verstehe!«
Kai sah sie zweifelnd an. »Bist du dir sicher, dass du das hören willst?«
Ein freudloses Auflachen rutschte ihr heraus. »Mit wem willst du denn sonst darüber sprechen?«
Kais Mund öffnete sich, schloss sich aber gleich wieder. Sie wusste, welcher Name ihm beinahe über die Lippen gerutscht wäre. Aber sie merkte, dass es ihr nicht mehr so wehtat wie vor ein paar Wochen noch. Sie wusste ja schon seit einer ganzen Weile, dass sie nicht mehr das wichtigste in seinem Leben war und es vielleicht nie gewesen ist.
»Pass auf«, lenkte sie ein, »du erzählst und wenn es mir zu detailreich wird, unterbrech' ich dich schon – Deal?«
Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis Kai wirklich überzeugt aussah, doch dann machte er endlich den Mund auf.
Er versuchte so neutral zu klingen, wie es ging, aber manchmal zuckte sie trotzdem zusammen. Weil es sich so sehr danach anhörte, dass Kai bereits über sie und ihre Beziehung hinweg war. Und er redete über Julian und die Dinge, die zwischen ihnen vorgefallen waren, als würde er ihn mit jeder Faser seines Körpers vermissen, verfluchen und verlangen. Eine böse Stimme in ihrem Hinterkopf sagte ihr, dass Kai so nie über sie gesprochen hatte. Sie versuchte diesen Gedanken abzuschütteln, aber irgendwie hatte die Stimme auch ein bisschen recht. So eine Zuneigung und Verzweiflung hatte sie noch nie in seinem Blick gesehen. Und sie schämte sich ein wenig dafür, dass sie es nicht früher bemerkt hatte.
»Nach Jannis' Geburtstag ist mir fast der Kopf geplatzt. Ich hab' mich so schlecht gefühlt wegen allem!« - Kai stöhnte genervt »Ich hab's mit der Aktion total versaut! Ich hätte nicht nach Dortmund fahren dürfen!«
Sie versuchte ihr Lachen zu unterdrücken. »Schlimmer, als mit einem Mädchen dort aufzutauchen nur um ihn zu verletzten, kann's kaum sein!«
»Deswegen hab' ich Nadine nicht mitgenommen.«
Sie sah ihn böse an. Verarschen konnte er wen anderes, sie kannte ihn dafür zu gut. »Dein Ernst jetzt? Selbst wenn du es nicht zugibst, weißt du ganz genau, dass sie nur da war, damit du einen Grund hattest, um ihm aus dem Weg zu gehen!« - sie atmete tief durch und versuchte ihre aufgeregte Stimme zu beruhigen - »Also, was ist passiert, als du nach Dortmund gefahren bist?«
Kai sah sie einen langen Moment einfach nur an, ohne ein Wort zu sagen. Es jagte ihr einen Schauer über den Rücken, weil sie ahnte, dass er wieder etwas sagen würde, was ihr nicht guttun würde. Für ein paar Sekunden wünschte sie sich, sie hätte ihm kein Gespräch angeboten, hätte ihn doch weggeschickt. Sie fühlte sich nicht erwachsen genug dafür, wollte sich in eine tröstende Umarmung flüchten, vergessen, dass es diese Beziehung zwischen ihnen gegeben hatte.
»Ich wollte zocken und reden, mehr nicht. Ich wollte das aus der Welt schaffen, wieder mit ihm befreundet sein. Alles war so komisch ohne ihn. Aber dann war ich da und er nicht und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich wollte nicht einfach wieder abhauen, ich wollte wirklich reden. Am Anfang wollte ich das nicht, weil ich dachte, wenn genug Zeit vergeht, reden wir da gar nicht mehr drüber und alles wird wie früher... Aber das hat nicht funktioniert.« - Kais Stimme zitterte und überschlug sich fast.
Sie traute sich, rutschte ein Stück näher an ihn heran und legte ihm eine Hand aufs Knie. Weil sie dachte, das würde ihn beruhigen. Früher hatte es das. Jetzt war sie sich sicher, dass es nicht mehr ihre Berührungen waren, die Kai beruhigen würden.
Kai atmete tief durch, bevor er ihr erzählte, dass er Julian angerufen hatte, um zu fragen wo er war. Er dachte, er wäre nur kurz unterwegs und würde bald wiederkommen. Dann hätte Kai einfach gewartet.
»Er war auf dem Weg nach Bremen. Er war schon auf der Autobahn. Er...« - Kai brach ab und schüttelte den Kopf, bevor er weitersprach - »Ich hätte niemals gedacht, dass er wieder umdreht, wenn ich ihn darum bitte. Aber er hat's gemacht.«
Ihr Herz machte einen Hüpfer. Sie hatte schon immer eine Schwäche für romantische Liebesgeschichten gehabt. Und das hier klang nach einer ganz großen Story. Für einen Moment vergaß sie, dass es ihr Ex-Freund war, der da über seine Gefühle für einen anderen Mann sprach. Sie wünschte sich Glück für die beiden und ein Happy End. Aber dann holte sie die Tatsache ein, dass Kai nicht hier sitzen würde, wenn es eins gegeben hätte.
»Was ist dann passiert? Habt ihr geredet oder nur gespielt?«
Kai verzog das Gesicht zu einer hässlichen Grimasse. »Wir haben gestritten. Statt darüber zu reden, wie wir jetzt weitermachen oder wie wir das vergessen, haben wir uns gegenseitig angeschrien und beschuldigt. Ich wollte dann nur noch abhauen und dann hab' ich gemerkt, dass ich meinen Controller vergessen hab' und bin zurück.« - Kai sah ein paar Sekunden so aus, als wollte er noch etwas sagen. Doch dann schloss er den Mund wieder und beließ es dabei.
Sie versuchte sich auf die Zunge zu beißen und die Worte, die ihr auf der Zunge lagen herunterzuschlucken. Aber ihr Mund war schneller als ihr Gehirn. »Du bist so bescheuert Kai, ehrlich!«
Kais angegriffener Gesichtsausdruck und die Art und Weise, wie er sich ihrer Berührung entzog, sprachen Bände. Er sprang auf. »Ich wusste, ich hätte es dir nicht erzählen sollen! Du verstehst es eh nicht.«
Sie sprang auch auf, hatte genug von seinem Selbstmitleid.
»Oh doch, ich versteh' dich! Würde ich es nicht tun, wären wir beide jetzt nicht hier.« - sie atmete tief durch - »Aber das bedeutet nicht, dass ich alles gut findet, was du tust! Manchmal bist du so stur und schwierig und blöd, dass man mit netten Worten nicht weiterkommt! Ich war schon so oft kurz davor, dir die Augen auszukratzen, weil du mir blöd gekommen bist, statt ehrlich über deine Gefühle zu sprechen! Werde endlich erwachsen und hör' auf, immer wegzurennen oder Menschen, denen du wichtig bist, wegzustoßen. Egal, was zwischen Julian und dir passiert ist, er ist der letzte der dich deswegen fallen lassen wird. Und wenn ihr wieder nur Freunde seid, dann ist das halt so. Aber hör' auf, dich in Selbstmitleid zu baden und werde dir endlich klar, was du willst und wer du bist! Diese Entscheidung kann kein anderer für dich treffen.«
Kai sah sie an, als hätte sie ihn verraten und zutiefst beleidigt. Dann brach diese Fassade innerhalb eines Wimpernschlags und ihm rann eine Träne über die Wange. Sie war kein Zeichen von Selbstmitleid. Kai hatte Angst.
»Wir haben's nochmal getan. An dem Tag, an dem ich nach Dortmund gefahren bin, ist es wieder passiert. Und danach hab' ich ihm gesagt, dass es besser ist, wenn wir uns nicht mehr sehen. Ich hab's versaut.« - Kais Stimme klang genauso gequält wie er aussah - »Ich will das nicht, ich weiß nicht mal, wo das plötzlich herkommt! Ich will ihn nicht küssen, ich will ihn nicht toll finden, ich will nicht in ihn verliebt sein! Ich will die Zeit zurückdrehen. Er soll wieder mein bester Freund sein, etwas anderes kann doch gar nicht funktionieren! Wir sind Fußballer.«
Dann fängt er an zu weinen, so richtig und sie weiß jetzt, dass er ihr alles gesagt hat, was er sagen konnte.
Sie nahm ihn wieder in den Arm, drückte ihn ganz fest an sich und wartete darauf, dass er aufhörte zu weinen. Aber sie drängte ihn nicht. Sie versteht, dass das schwierig für ihn ist. Das er nicht weiß, was er tun soll, weil er nicht weiß, wen er um Hilfe bitten könnte.
Sie streichelt ihm sanft über den Rücken und wartete.
Kai beruhigte sich schon nach ein paar Minuten wieder. Er löste sich von ihr und zog die Kapuze seiner Jacke über und tief ins Gesicht.
Charlie hatte sich neben die beiden ins Gras gelegt und blickte Kai genauso mitleidig an, wie sein Frauchen.
»Es tut mir leid, dass ich dir kein besserer Freund war. Aber du musst mir glauben, dass ich dich niemals betrogen hätte, niemals. Das hätte ich dir nicht angetan. Und es tut mir leid, dass ich ausgerechnet dir von diesem Problem erzählen musste. Aber ich wusste nicht, mit wem ich sonst reden sollte. Ich-«
»Stopp!«, sagte sie und musste kurz kichern, weil sie es niedlich fand, dass seine Stimme sich vor Aufregung beinahe überschlug. »Erinnerst du dich an den Tag, an dem wir uns getrennt haben? Als ich gesagt habe, dass ich immer noch deine Freundin bin, meinte ich das auch so. Und ich würde die gerne helfen.« - sie seufzte - »Aber hierbei kann dir keiner helfen. Ich kann dir nur zuhören und dich umarmen, aber du selbst musst herausfinden was du willst und wie viel du riskieren kannst. Wenn du wirklich nur mit Julian befreundet sein willst, dann hast du vielleicht recht und Abstand ist die richtige Lösung. Aber ich glaube dir irgendwie nicht. Ich kann verstehen, dass du Angst hast, aber Angst ist in der Liebe ein ständiger Begleiter. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!«
Kai schluckte schwer. Sie konnte seinen Adamsapfel springen sehen. Sie wusste instinktiv, dass er sich eine blöde Bemerkung verkniffen hatte.
»Kannst du mir etwas versprechen Kai?«
Er sah sie an. »Und was?«
»Das du Julian nicht kampflos aufgibst, nur weil du Angst hast!«
Er runzelte die Stirn und sah so unsicher aus, wie ein 6-jähiger am ersten Schultag. »Und wenn er nichts mehr von mir wissen will? Weil ich's endgültig verbockt hab'?«
»Er hat sich zweimal mit dir eingelassen und ist sogar für dich auf der Autobahn umgedreht, obwohl er eigentlich schon auf dem Weg zu seiner Familie war. Was auch immer in seinem Kopf vorgeht, es ist nicht nichts! Ihm liegt mehr an dir, als du gerade denkst.«
»Aber das war alles, bevor ich so ein Arschloch war! Vielleicht hat er seine Meinung jetzt geändert.«
Sie zuckte mit den Achseln. »Dann wird das scheiße wehtun, glaub' mir. Aber du wirst drüber hinwegkommen.«
Kai verzog das Gesicht. »Du kannst knallhart sein, war mir nie so bewusst.«
»Du bist nicht meine erste Trennung. Und irgendwann kommt immer der Tag, an dem du kein Springbrunnen mehr sein willst und das Selbstmitleid ablegst.«
Kai lächelte nun auch wieder und sie fühlte sich gut, weil sie der Grund dafür war.
Die beiden blieben noch eine Weile und redeten. Nicht über Julian oder ihre Beziehung, das hatten sie lange genug diskutiert.
Kai fragte sie, wie es in der Uni lief und welche Pläne sie für die Semesterferien hatte. Und sie erkundigte sich nach Sam und Mitch und seinen Plänen für die kommende Saison. Sie fragte ihn auch nach eventuellen Wechselplänen, mit dem Hintergedanken, dass Kai so vielleicht versuchen könnte sich aus der Affäre zu ziehen. Und es beruhigte sie, als Kai erwiderte, dass ihm das egal war und er noch mindestens ein Jahr in Leverkusen bleiben wollte.
Als der Himmel immer orangener wurde und Charlie langsam anfing zu quengeln, entschieden sie sich dazu, zurück zu gehen.
Kai brachte sie bis zur Haustür. Sie schloss auf und ließ den Hund hinein, bevor sie sich wieder zu ihm umdrehte.
»Es war schön... also mal wieder mit dir zu reden«, fing er an und klang genauso, wie bei ihrem ersten Date.
»Wir können uns öfter sehen, jetzt wo wir beide wissen, wo wir hinwollen.«
Er grinste und sie bekam eine Gänsehaut, weil sie das Kai-Grinsen so mochte. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis das aufhören wird, aber solange es nur das war, konnte sie gut damit leben.
Sie umarmten sich, bevor Kai umdrehte und in der Straße verschwand. Sie wartete nicht bis er in seinem Auto vorbeifuhr.
Im Flur erwartete sie ihr Vater mit hochgezogenen Augenbrauen und vor der Brust verschränkten Armen.
»Ist jetzt alles wieder gut zwischen euch?«
Sie nickte. »Wir sind Freunde.«
Einen kurzen Moment sah man ihrem Vater an, dass das nicht die Antwort war, die er erwartet hatte. Aber dann nickte er auch und lächelte.
Er sagte ihr, dass er heute grillen wollte und ihre Mutter schon auf der Terrasse saß und wartete. Sie wusste sofort, dass ihr Vater ihrer Mutter gesagt hatte, dass sie mit Kai unterwegs gewesen war. Den ganzen Abend würden sich die Gespräche darum drehen. Sie wollte noch ein paar Minuten für sich. Also sagte sie ihm, dass sie sich nur schnell etwas Bequemes anziehen wollte und dringend auf die Toilette musste.
Ihr Vater gab sich mit dieser Ausrede zufrieden, drückte ihr zustimmend einen Kuss auf die Stirn und ging zurück in den Garten.
Sie flitzte die Treppen hinauf und schloss ihre Zimmertür mit einem tiefen Seufzen hinter sich. Es war, als würde eine schwere Last von ihren Schultern abfallen. Dieses Treffen mit Kai hatte alles einfacher gemacht.
Plötzlich zerriss ihr klingelndes Handy die Stille. Ihr Herz machte einen Satz. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie es vergessen hatte. Eine unbekannte Rufnummer tauchte auf dem Display auf. Sie nahm den Anruf trotzdem an.
»Hallo?«, fragte sie zögerlich.
»Hi, ähm... Hier ist Jannis, Julians Bruder. Wir haben uns letztes Jahr auf dieser Halloweenparty getroffen, weißt du noch?«
Da braucht sie nicht lange zu überlegen. Jannis Brandt, immer ein Lächeln auf den Lippen und eine Kamera in der Hand. Sie hatte ihm ihre Nummer gegeben, weil es immer gut war jemanden zu kennen, der Ahnung vom Fotografieren hatte.
»Ja, ich weiß noch«, antwortete sie leise. »Was ist los? Warum rufst du an?«
Schweigen auf der anderen Seite der Leitung.
»Jannis, bist du noch dran?«
»Ja, ich... Es war eine blöde Idee anzurufen, tut mir leid. Vergiss, dass ich angerufen hab'.«
Sie seufzte. »Es geht um Kai und Julian, oder?«
Jannis gab einen erstaunten Laut von sich. »Woher... Kannst du Gedanken lesen?«
Sie wusste nicht, ob sie ihm sagen sollte, dass Kai heute bei ihr war. Einerseits kannte sie Jannis nicht wirklich, andererseits wusste sie, dass er auch mit Kai befreundet war. Und er klang so, als könnte er Hilfe gebrauchen. Vielleicht machte er das mit Julian durch, was sie vorhin mit Kai durchgemacht hatte.
Also wenn sie ihm sagte, dass Kai heute bei ihr war und worüber sie mit Kai gesprochen hatte, half es Julian und Kai vielleicht, sich wieder näher zu kommen. Vielleicht würden sie sich dann einig werden können, was sie vom jeweils anderen wollten.
Sie setzte sich auf ihr Bett. »Ich glaube, die beiden brauchen Hilfe«, sagte sie ernst, als würde sie mit ihrem besten Freund reden. »Ich denke, wir sollten etwas tun.«
»Ich bin voll deiner Meinung!«
»Okay, hör zu...« - vergessen waren ihre Eltern und das Essen. Die beiden Vollidioten und ihre Freundschaft – oder was auch immer – waren jetzt wichtiger.
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Bis zum Elfmeterpunkt | Bravertz
Hayran KurguVom Mittelpunkt bis zum Elfmeter ist es ein langer Weg. Im Fußball, wie in der Liebe. Das merken auch Kai und Julian an einem Punkt. © das_ellie (2020)