E L F

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Kai hatte gerade eine Runde Fortnite beendet, als es an der Tür klingelte. Es verwunderte ihn, denn er wartete weder auf ein Paket noch auf Essen und Besuch hatte sich auch keiner angekündigt. Kai hätte ihn eh abgewimmelt. Ihm war nicht nach Gesellschaft. In den letzten Tagen hatte für ihn keine Welt außerhalb seiner Wohnung existiert. Und Kai hatte kein Problem bis zum Ende der Sommerpause weiterhin so zu tun, als würde hinter seiner Wohnungstür nichts existieren. Denn in seinen eigenen vier Wänden gab es keine nervigen, unerwünschten Gefühle für den besten Freund, Ex-Freundinnen, die einen vom unrealistischen Happy End überzeugen wollten und hier musste er sich auch nicht damit auseinandersetzen, dass er anscheinend doch lieber Männer küsste als Frauen, wie er immer gedacht hatte. Hier gab es nur ihn, seine Playstation, den Ergo-Trainer und das beruhigende Gefühl von Sicherheit und Gedankenlosigkeit. In seinem Wohnzimmer wurden keine Erwartungen an ihn gestellt, denen er gerecht werden musste und die einzige Verantwortung, die er trug, waren seine Pflanzen. Kai hatte seit Sonntag nicht ein einziges Mal auf sein Handy geschaut, er wusste nicht mal, wo es lag. Vielleicht sollte er mal anfangen das Chaos aus Essensverpackungen und schmutzigen Klamotten der letzten Tage zu beseitigen, dann würde er es bestimmt finden. Aber jedes Mal, wenn er daran dachte, erschien ihm eine weitere Runde Fortnite doch verlockender.
Ob er stolz darauf sein konnte? Keine Ahnung.
Ob er sich besser fühlte als in den letzten Wochen? Auf jeden Fall. Es war wie ein Rausch, der immer dann in neuen Schüben zurückkam, wenn er sich seinen eigenen, gesellschaftsgenormten Gedanken erfolgreich widersetzte. Spätpubertäre Trotzphase, absolut oberhammergeil!
Und das wollte er sich bestimmt nicht von einem ungebetenen Gast kaputt machen lassen. Wer also auch immer dort vor seiner Tür stand, sollte bloß wieder verschwinden. Kai hatte noch nicht vor seine Heile-Welt-Blase zu verlassen. Er wollte auch nicht das ein (Pseudo-)Erwachsener mit einer Nadel hineinstach und sie so zum Platzen brachte.
Es klingelte ein zweites Mal. Kai startete trotzig eine neue Runde Fortnite.
»Scheiße Kai, ich weiß das du da bist. Mach' auf!«
Kai fiel vor Schreck beinahe der Controller aus der Hand, als er Jannis' Stimme hörte. Er hatte mit vielen gerechnet, aber nicht mit ihm! Nicht, nach allem was in den letzten Wochen geschehen war.
»Wenn's sein muss hol' ich mir auch den Ersatzschlüssel von Mitch!«
Jannis war seiner Blase mit einer viel zu spitzen Nadel viel zu nahe! Und Mitch würde ihm den Schlüssel, ohne zu zögern geben, wenn Jannis ihm sagte, dass Kai seit fünf Tagen alles und jeden ignorierte.
Kai pausierte das Spiel und stand auf, mit dem Ziel Jannis ganz schnell abzuwimmeln. Vielleicht konnte er so seine Blase am Zerplatzen hindern und das Loch einfach zukleben, bevor es zu groß wurde.
Kai riss die Tür auf und starrte Jannis böse an. »Was ist?«
Jannis setzte dazu an etwas zu sagen, doch dann schluckte er die Worte herunter und zog schockiert die Augenbrauen nach oben.
»Alter, wie siehst du denn aus?«
Kai verdrehte genervt die Augen. Ja, vielleicht hatte nicht nur seine Wohnung in den vergangenen Tagen gelitten, sondern auch er selbst.
»Und was ist das für ein Geruch? Riecht, als wäre hier was gestorben!«
»Was willst du?«, entgegnete Kai ungerührt.
»Ich brauch' am Freitag und Samstag deine Hilfe, hast du da Zeit?«
»Nein, sorry, hab' schon was vor«, erwiderte Kai so blitzschnell, dass es wirklich unglaubwürdig klang.
Jannis verschränkte die Arme vor der Brust. »Und was? Soweit ich weiß, hast du weder Training noch ein Spiel! «
»Ich hab' ein... festes Gammel-Wochenende geplant. Sorry, kein Bock auf Feiern gehen oder so 'nen Scheiß!«, erwiderte Kai zögerlich.
Jannis setzte diesen „Echt jetzt"-Blick auf, den alle drei Brandt Brüder hervorragend beherrschten.
»Noch ein Gammel-Wochenende und du bist vergammelt!«, stichelte Jannis und drückte sich an Kai vorbei in dessen Wohnung.
Er warf dem Boden einen zweifelnden Blick zu und entschied sich dann dazu, die Schuhe anzulassen. Anschließend stapfte er neugierig ins Wohnzimmer und stieß einen erschrockenen Laut aus.
»Scheiße, wie sieht's denn hier aus?« - Jannis drehte sich zu Kai um - »Was ist los mit dir?«
Kais Blase zerplatzte genau in diesem Moment. Weil er sich eingestehen musste, dass hinter seiner Wohnungstür doch noch etwas existierte. Eine Welt, in der es Menschen gab, denen er wichtig war, vor denen er sich nicht ewig verstecken konnte. Die nie zulassen würden, dass er in seiner eigenen Wohnung in Selbstmitleid versank. Wenn seine Mutter hiervon wüsste, würde sie ihn sofort abholen und mit nachhause nehmen für die restlichen Wochen der Sommerpause. Vermutlich würde sie ihn danach auch ohne wöchentlichen Kontrollbesuch nicht wieder in seine Wohnung lassen.
Kai sah Jannis an und fragte sich, wie viel er wusste. Das er über die Sache Bescheid wusste, stellte Kai gar nicht in Frage. Vor allem die Dinge, die Julian bedrückten, fand Jannis schnell heraus. Als hätte Jannis einen sechsten Sinn dafür entwickelt.
Kai merkte, dass seine Gedanken abdrifteten. Das er sich fragte, was Julian gerade machte und wie es ihm ging. Ob er sich genauso in seiner Wohnung eingeigelt hatte und von niemandem etwas wissen wollte. Ob er auch an ihn dachte? Ob er ihn auch nicht aus dem Kopf bekam?
Kai schüttelte sich und verbot sich selbst, diesen Gedanken weiter zu verfolgen. Es half ja doch keinem von ihnen.
Jannis zog die Gardinen auf und plötzlich war da so viel Sonne in seinem Wohnzimmer, die Kai gerade gar nicht leiden konnte.
»Muss das sein?«, brummte er und steuerte sein Sofa an, wurde aber im letzten Moment von Jannis aufgehalten.
»Vergiss' es, du gehst jetzt duschen und was man sonst noch so im Bad macht«, entgegnete Jannis mütterlich und beäugte den Bartschatten auf Kais Wangen und Kinn kritisch.
Kai startete einen lahmen Versuch, sich Jannis zu widersetzen und sich doch zum Sofa vorzukämpfen. Aber Jannis blockierte den Weg und Kai gab sich geschlagen.
»Ich brauch' keinen Babysitter!«, knurrte Kai. Jannis Anwesenheit wurde von Sekunde zu Sekunde nerviger.
»Dann werte es als Dienst unter Freunden und jetzt ab mit dir!« - Jannis machte eine scheuchende Handbewegung und vertrieb Kai damit endgültig aus seinem Wohnzimmer.
Er stapfte mit schwereren Schritten als nötig ins Schlafzimmer und knallte dort gereizt seine Schranktür heftig zu, nachdem er sich ein Handtuch und frische Klamotten zusammengesucht hatte.
Während er mit genauso schweren Schritten ins Bad stapfte, hörte er Jannis aus dem Wohnzimmer rufen: »Benimm' dich nicht wie ein kleines, bockiges Kind!«
Kai verdrehte die Augen und äffte ihn wortlos nach, bevor er auch die Badezimmertür hinter sich zuknallte.

Als er etwa eine Stunde später gründlich gewaschen und rasiert das Badezimmer wieder verließ, erkannte er sein Wohnzimmer beinahe nicht mehr wieder. Es war sauber und aufgeräumt. Jannis schien sogar die Pflanzen auf dem Fensterbrett gegossen zu haben, denn sie kamen Kai jetzt viel grüner vor als vorher. Aber das war vermutlich Einbildung. Er hatte sich gut um sie gekümmert. Besser als um sich selbst.
Jannis selbst saß auf der Couch und vor ihm stand eine Flasche Bier. Kai runzelte die Stirn, weil er sich sicher war keins gekauft zu haben. Er selbst war kein wirklicher Biertrinker. Nur in Ausnahmefällen, wenn wirklich nichts anderes da war und die Stimmung passte. Also hatte Jannis sich anscheinend schon von Anfang an auf einen längeren Aufenthalt eingestellt.
Kai musste irgendein Geräusch von sich gegeben haben, denn Jannis drehte sich plötzlich zu ihm um. Prüfende Augen wanderten über ihn und Kai fühlte sich unter dem strengen Blick sichtlich unwohl.
Jannis nickte anerkennend. »Siehst ja wieder aus wie ein Mensch!«
Kai bekam das dringende Bedürfnis, ihn mit einem der Couchkissen zu ersticken. Stattdessen zeigte er ihm nur den Mittelfinger, was Jannis erwiderte.
Kai ließ sich zögerlich neben ihm auf seinem Sofa nieder und nickte fragend in Richtung Bierflasche. »Musst du nicht fahren?«
»Nee, Kilian holt mich nachher ab. Wir müssen noch ins Bauhaus.«
Kai verzog das Gesicht. »Was wollt ihr denn da?«
»Wir ziehen aus!« - Jannis lächelte scheinheilig - »Wo wir auch gleich beim eigentlichen Thema sind, warum ich hier bin. Wir könnten noch ein bisschen Hilfe gebrauchen, beim Schleppen und Malern und so.«
Kai wunderte sich im Gegensatz zu Julian nicht wirklich darüber das Jannis das Weite suchte. Kai hatte Jannis selten etwas positives über seine WG sagen hören, nur über Kilian.
Kai wollte gerne helfen, auch wenn er von Malern und dergleichen keine Ahnung hatte. Aber unter den aktuellen Umständen traute er sich nicht. Weil er, ohne zu fragen wusste, dass Julian auch dabei sein würde. Und Kai fand, er war noch nicht so weit, um ihm schon wieder unter die Augen zu treten. Er schämte sich immer noch.
Jannis studierte Kais Gesicht aufmerksam. Man konnte ihm jede Emotion nacheinander ansehen. Angst, Neugierde, Chancenhunger, Selbsthass, Ungewissheit, Aufregung.
Jannis seufzte schwer. »Vielleicht solltest du dir mal eine neue Strategie einfallen lassen!«
Kais Gesicht fror ein, als würde er zwischen seinen Erinnerungen und Zukunftsangst feststecken. Er schluckte beides hinunter, bevor er Jannis ansah.
»Was?« - Kais Stimme klang, als hätte er vorher einen Bogen Sandpapier zerkaut und geschluckt.
Er hatte geahnt, dass Jannis Bescheid wusste. Aber nicht damit gerechnet, dass er es auch ansprechen würde. Weil es ihn eigentlich nichts anging. Auch wenn Julian sein Bruder ist und er sich um sein Wohlergehen sorgte. Kai blendete aus, dass Jannis auch sein Freund war und sich vermutlich genauso um ihn sorgte.
Jannis kam der Gedanke, dass er vielleicht etwas zu forsch mit seinen Worten gewesen war. Er griff nach seiner Bierflasche und trank einen großen Schluck.
»Reden hat dich doch genauso wenig weitergebracht, wie wegrennen, oder? Und diese Sache mit Nadine hat dir auch nicht das gebracht, was du dir erhofft hattest. Also warum tut ihr beide nicht einfach das, was ihr am besten könnt?«
Kai hielt für einen kurzen Moment die Luft an und sah Jannis abwartend an. Egal ob er es hören wollte oder nicht, Jannis würde seinen altklugen Ratschlag so oder so laut aussprechen.
Doch Jannis behielt es dieses Mal für sich. Sein Handy kündigte eine Nachricht an. Jannis leerte seine Bierflasche in einem großen Schluck und stand auf.
»Das ist Kilian, ich muss los«, sagte er und angelte sich seinen Rucksack vom Boden.
Jannis brachte die leere Flasche in Kais Küche und wollte dann tatsächlich einfach verschwinden.
Kai redete sich ein, dass er die Antwort auf Jannis' rhetorische Frage nicht wissen wollte. Doch kurz bevor der mittlere Brandt sein Wohnzimmer verließ, drehte er sich doch nach ihm um.
»Warte!«, rief Kai und klang verzweifelter als erwartet. »Was meinst du, können wir beide am besten?«
Kai entging das selbstzufriedene Lächeln auf Jannis Gesicht nicht, aber er beschloss es zu ignorieren.
»Also ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ihr wart mal sehr gut darin, beste Freunde zu sein!« - Jannis zuckte mit den Schultern - »Vielleicht bekommt ihr das ja immer noch hin.«
Kai wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Er hatte damit gerechnet, dass Jannis ihn auch dazu überreden wollte, dieses mehr zwischen Julian und ihm zu ergründen. Vielleicht war dieser Umzug ja doch eine gute Gelegenheit, ihre Freundschaft zu retten. Vielleicht war Jannis ja genau deswegen hier. Weil Julian das auch wollte und sich bloß nicht traute, es zu sagen.
»Wann wollt ihr loslegen mit eurem Umzug?«, fragte Kai und klang ungewohnt schüchtern.
Jannis Lächeln wurde etwas breiter. »Am Freitag sieben und acht geht's los. Sei pünktlich!«
Kai nickte und Jannis verschwand aus seiner Wohnung.

Kilian parkte vor Kais Haustür in zweiter Reihe und sah Jannis böse an, als dieser nach einer gefühlten Ewigkeit endlich aus dem Haus kam.
»Was hast du so lange gemacht?«, fragte Kilian genervt. »Die Leute haben mich angeschaut, als hätte ich nicht mehr alle Latten am Zaun!«
»Ich hab' gerade eine Freundschaft gerettet.« - Jannis schnallte sich selbstzufrieden grinsend an. »Oder vielleicht auch ein bisschen mehr.«



Bis zum Elfmeterpunkt | BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt