A C H T

2.8K 98 12
                                    

Julian atmete erleichtert aus, als er in seine Straße einbog und sah, dass Kai nicht vor seiner Haustür wartete. Er wusste selbst nicht warum ihn das gestört hätte.
Hinter Kais Auto, das er sofort erkannte, war noch eine Parklücke frei. Julian beschloss nicht weiterzusuchen. Und er ließ seine Reisetasche auf der Rückbank zurück. Da war nichts drinnen, dass er jetzt brauchte. Oder etwas, dass ihm helfen konnte. Warum war er umgekehrt?
In letzter Sekunde entschied er sich dazu, doch nicht den Fahrstuhl zu nehmen, sondern zu laufen. Weil er noch ein wenig Zeit brauchte, um sich die passenden Worte zurecht zu legen.
Doch als er die letzte Treppenstufe hinter sich ließ und Kai vor seiner Wohnungstür sitzen sah, machte sein Herz einen kurzen Hüpfer. Wie reihte man Worte nochmal sinnvoll aneinander?
Kai sprang auf, kaum das Julians letzter Schritt im Flur verhallt war.
Der Blonde kam langsam näher. »Was machst du hier?«, fragte er leise, weil er seine Nachbarn nicht belästigen wollte.
Kai zog seinen Playstation Controller hinter dem Rücken hervor und versuchte sich an einem von seinen schiefen Kai-Grinsen. »Ich dachte wir zocken mal wieder 'nen bisschen. Haben wir lange nicht mehr gemacht!« - die Gelassenheit in Kais Stimme, verunsicherte Julian.
Trotzdem wusste Julian sofort, dass das nicht alles war. Als König der Vorwände, war ihm klar, dass Kai eigentlich wegen etwas ganz, anderem hier war. Aber er würde mitspielen und keine Fragen stellen.
Deswegen drängelte er sich an Kai vorbei und schloss die Wohnungstür auf. Er kickte seine Schuhe vor den Schuhschrank und lief in die Küche, um etwas zu trinken aus dem Kühlschrank zu holen. Der Geruch vom Geschirrspültab hing noch in der Luft.
Julian starrte das Mineralwasser in seiner Hand böse an. Er hätte jetzt lieber ein Tee oder Bier, irgendetwas was die Nerven beruhigte.
Kai warf einen kurzen Blick in die Küche und schaltete dann die Playstation an, bevor er sich aufs Sofa setzte.
Julian schnappte sich zwei Gläser und folgte ihm. Er versuchte es sich bequem zu machen und schob Kai ein Kissen zu, weil er aussah, als könnte er eins gebrauchen.
Julian loggte sich ein und die vertraute Melodie des Menüs ertönte keine Sekunde später.
»Was willst du spielen?«, fragte er, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. »Fifa oder Fortnite?«
Julian hatte auf beides keine Lust. Er wünschte sich zurück in sein Auto. Er hätte nicht wieder umdrehen sollen. Bremen kam ihm plötzlich wie ein Rettungsanker vor. Als würden sich seine Probleme im Luft auflösen, wenn er ein paar Tage so tat, als gäbe es Kai gar nicht. Obwohl er sich nicht sicher war, ob er überhaupt ein paar Tage so tun konnte, als würde Kai nicht existieren.
»Fifa«, antwortet Kai. »Fortnite ist mit Split-Screen scheiße!«
Also startete Julian das Fußballspiel. Die Version, in der Kai und er noch gemeinsam bei Leverkusen gespielt haben. Das ist seine liebste.
Sie redeten kein Wort. Julian wählte den Multiplayer Modus aus und überließ Kai zuerst die Auswahl der Mannschaft. Und der schnappte ihm Dortmund unter der Nase weg.
»Das ist die 18er Version, dass weißt du oder?«, fragte Julian geistesgegenwärtig. Kai spielte immer mit Leverkusen. Vor allem Fifa 18. Eben, weil dass der einzige Ort war, wo sie für immer gemeinsam auf dem Feld stehen würden. Da war er eigen und Julian machte sich für gewöhnlich einen Spaß draus.
»Ja, ich weiß das.«
»Warum spielst du nicht mit Leverkusen?«, hakte Julian weiter nach.
»Keine Ahnung. Wollte mal was Neues ausprobieren.«
Diese Aussage hatte einen zweideutigen Unterton, fand Julian. Aber er fragte nicht nach. Bestimmt interpretierte er zu viel hinein.
Julian wählte Schalke. »Dann also ein Derby«, sagte er und startete die Partie.
In Fifa hatten sie noch nie Höchstleistungen vollbracht, aber so schlecht wie heute, hatten sie selten gespielt. Als hätten sie von jetzt auf gleich verlernt, wie man Fußball spielte. Kai stand ständig im Abseits und Julian hatte bereits nach einer halben Stunde Spielzeit drei rote Karten kassiert. Sie quälten sich bis zur Halbzeit. Kai führte trotzdem drei zu null.
Der Halbzeitbildschirm ploppte auf. Er zeigte den Spielstand und eine Reihe Statistik. Welche Mannschaft mehr Passspiele hatte, wer öfters aufs Tor geschossen hatte, wer die meisten gelben und roten Karten einstecken musste.
Julian legte den Controller auf den Couchtisch und wandte sich Kai zu. Er hatte genug von diesem affigen Getue. Kai hatte jetzt lange genug Zeit zu überlegen, wofür er hergekommen war.
»Warum bist du hier?«, fragte Julian. »Und sag' nicht „zum zocken", dann knall' ich dir eine! Ich hab' diese Ausreden so satt!«
Kai stierte immer noch den Fernseher an. »Früher hätte es dich nicht gestört, wenn ich einfach so vorbeigekommen wäre.«
»Früher wäre „einfach so" auch die ehrliche Antwort auf meine Frage gewesen. Heute nicht«, entgegnete Julian selbstsicher und kam sich vor, als würde er mit einem kleinen Kind reden, dem er den Ernst der Lage erst noch erklären musste.
Julian starrte Kai von der Seite aus an, ganz ungeniert. Er versuchte aus seinem Gesicht zu lesen.
Kai umklammerte seinen Controller wie ein Schraubstock. Die ganze Situation war ihm sichtlich unangenehm. Aber sich den Kummer von der Seele reden, daran dachte er anscheinend gar nicht.
Es vergingen ein paar schweigsame Minuten. Dann drehte Kai sich um und sah so aus, als wollte er endlich anfangen zu reden. Und Julian dachte sich,ja bitte tu's. Aber Kais Mund schloss sich wieder, ohne dass er ein Wort gesagt hatte.
Er stand auf. »Ich hätte nicht herkommen sollen. Tut mir leid...« - er stockte - »Ich geh' jetzt besser!«
Julian musste einen ziemlich langen Arm machen und lag quer über dem Sofa, aber er bekam Kais Handgelenk noch rechtzeitig zu packen. Julian hatte das Schweigen so satt, er konnte seine Gefühle nicht mehr unterdrücken.
»Soll das jetzt jedes Mal so laufen?«, fragte er wütend. »Scheiße Mann, lass uns jetzt endlich darüber reden! Wir sind immer noch Freunde!«
Kai senkte den Kopf, ballte die Hände zu Fäusten, doch sagen tat er immer noch nichts. Aber er war nicht gegangen. Das war doch ein gutes Zeichen oder?
Julian klaubte noch mehr Mut zusammen. »Warum hast du mich geküsst?« - gleiche Frage, gleicher Wortlaut wie zu Jannis Geburtstagsfeier.
Als Kai nicht reagierte, zog Julian sanft an seinem Arm. Seine Wut war schon wieder verraucht. Es war jetzt eher Verzweiflung, die da in seiner Stimme mitschwang. »Bitte rede endlich mit mir!«
»Was willst du denn hören?«, entgegnete Kai.
»Die Wahrheit?« - Julian zog verwirrt die Augenbrauen zusammen.
»Die kennst du selbst!«, erwiderte Kai und klang so, als würde er sich schämen für das, was geschehen war. Als traute er sich nicht, es laut auszusprechen. Denn wenn er es nicht laut aussprach, konnte er immer noch so tun, als wäre es nie passiert. Als hätte all das nur in seinem Kopf stattgefunden.
»Ich weiß nur, dass du mich geküsst hast. Warum du das gemacht hast, hast du mir nicht gesagt«, murmelte Julian und lockerte den Griff um Kais Handgelenk ein wenig.
»Du hast zurückgeküsst«, trotzte Kai. Hörte sich an, als wollte er die Schuld von sich abwälzen und sie einem anderen in die Schuhe schieben. Nicht die beste Taktik, denn Julian würde sich damit nicht hochschaukeln lassen. Julian suchte nicht nach Schuld, er suchte bloß nach Antworten.
Julian zuckte mit den Schultern. »Ich hab's gewollt ... in diesem Moment.«
Stille, die Sekunden fühlten sich fast endlos an. Dann fragte Kai leise: »Bereust du's?«
»Was denn? Das ich dich zurück geküsst habe, oder was?«
»Kannst du aufhören Fragen mit Gegenfragen zu beantworten, das nervt tierisch!«, quengelte Kai mit aufkeimender Wut in der Stimme.
»Dann stell' deine Fragen so, dass ich sie auch beantworten kann, verdammt nochmal!«, fauchte Julian.
Kai spannte seinen Körper an, Julian merkte das Ziehen durch sein Handgelenk, und Kai verzog das Gesicht zu einer grimmigen Miene.
»Ich geh' lieber, lass mich los«, sagte er, bemüht um einen ruhigen Ton.
»Du bist 21! Du kannst nicht immer wegrennen, wenn's dir zu kompliziert wird und du keinen Bock auf Stress hast! Wofür bist du eigentlich hergekommen?« - Julian ließ Kais Handgelenk los und stand ebenfalls auf.
»Zum Zocken, hab' ich dir doch schon gesagt!«
Julian schüttelte enttäuscht den Kopf. »Weißt du was: Fick dich Havertz!«
»Fick dich selbst, Brandt!«, erwiderte der Brünette so trocken, dass man meinen könnte sie würden einander absolut nichts bedeuten. Als wären sie Wildfremde, die besoffen auf der Straße aneinandergeraten waren und sich nun mit einer Beleidigung voneinander verabschiedeten, bevor sie sich gegenseitig aufs Maul hauten.
Julian lagen noch so viele Fragen auf der Zunge die er gerne gestellt hätte. Er wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen. Er wollte reden, um Antworten zu bekommen, nicht um sich zu streiten. Vielleicht hätte er etwas anders machen sollen, etwas Anderes sagen sollen. Dann würden sie jetzt vielleicht noch auf dem Sofa sitzen, sich aussprechen und wieder vertragen.
Kai war schon fast im Flur verschwunden, da blieb er plötzlich stehen und drehte sich wieder um. Er ging einen kleinen Schritt auf Julian zu.
»Ich wollte es tun.« - Kai zuckte mit den Schultern - »Jeder hat im Suff doch schon mal jemanden geküsst, den man eigentlich nicht küssen sollte, oder? Wir waren halt beide einfach sternhagelvoll und keine Ahnung...«
Julian ging langsam um das Sofa herum und ebenfalls einen Schritt auf Kai zu. »Und zu Jannis Geburtstag? Da waren wir nicht betrunken gewesen! Für diesen Kuss hast du keine Ausrede!«
»Woher willst du wissen, wie viel ich getrunken hab'? Du hast dich doch den ganzen Abend auf der Terrasse versteckt!«, entgegnete Kai herausfordernd.
»Du lässt nicht mal mich deine Scheißkarre fahren, aber deine neue Freundin?« - Julian schüttelte prustend den Kopf - »Das du nicht viel getrunken hast, war nicht schwer zu erraten!«
Julian wusste, dass diese Konversation schon wieder in eine falsche Richtung abdriftete. Aber wenn Kai sich nicht ordentlich mit ihm unterhalten wollte, dann konnte er das gerne so haben. Zwischen mitmachen und anfangen lagen meilenweite Unterschiede. Kai hatte angefangen ihn zu küssen, Julian hatte mitgemacht. Kai hatte angefangen sich wie ein Arschloch zu benehmen, Julian machte mit. Da sollte ihm mal einer nachsagen, er wäre nicht anpassungsfähig, dachte er zynisch.
»Nadine ist gefahren!«, zischte Kai, als wäre das eine Tatsache, auf die er nicht stolz war.
Julian lachte auf und klang dabei schon beinahe hysterisch. Und er fühlte sich eklig in seiner eigenen Haut, bei dem Gedanken daran, dass Kai mit Nadine geschlafen haben könnte. Dass er Julian wie ein Taschentuch missbraucht hatte, dass er nur benutzt hatte, um sich die Tränen abzuwischen. Und anschließend hatte er es weggeworfen, als etwas Besseres dahergelaufen kam.
Seine Gedanken nahmen ihren Lauf, sponnen sich eine Geschichte zusammen, die keinen Sinn ergab – zu mindestens für einen außenstehenden nicht, der gerade eben erst in diesen Film hineingeraten war. Aber Julian war völlig überzeugt davon, Recht zu haben. Er glaubte jetzt auch zu wissen, warum Kais Freundin wirklich mit ihm Schluss gemacht hatte. Bestimmt nicht wegen Fußball!
»Wie lange kennst du diese Nadine eigentlich schon? Lief' da vielleicht schon vorher mal was? Hat sie dich deswegen verlassen?«, spekulierte Julian selbstbewusst. Aber er wusste trotzdem nicht so genau, was er sich davon eigentlich erhoffte. Wollte er Kai wütend machen? Wollte er ihn verletzen?
»Was bist du eigentlich für ein Scheiß Arschloch? Als ob ich so etwas tun würde!«
Julian nahm die Beleidigungen schulterzuckend hin, auch wenn er sie gerne erwidert hätte. Er kannte Kais Ausraster und sein gesamtes Schimpfwortrepertoire in und auswendig. Immer, wenn er nicht mehr wusste was er sonst noch sagen sollte, versuchte er sich damit zu schützen, dass alles beleidigt wurde, was nicht Niet und Nagelfest war. Dann wurde Wodka-Sprite zu ekliger Pisse, Fortnite war verfickte Scheiße und der beste Freund ein blödes Arschloch. Julian konnte er damit schon lange nicht mehr beeindrucken oder verängstigen oder zum Rückzug animieren!
Es würde nicht lange dauern, bis Kais Fluchtinstinkt wieder durchschlagen würde. Weil wegrennen eine Disziplin war, die er besonders gut beherrschte, wie Julian in den vergangenen Wochen feststellen durfte. Er lernte gerade einen Kai kennen, den er nicht kennen wollte.
Julian beschloss überstürzt, dass es besser war, wenn Kai jetzt verschwand. Er wollte sich nicht weiter mit ihm streiten. Das änderte ja auch nichts am großen Ganzen. Es machte alles nur schlimmer.
»Wenn du mir nicht sagen willst, wofür du hier bist, dann geh jetzt! Ich muss los, bin eh schon viel zu spät!«, sagte Julian ausdruckslos und stand jetzt direkt vor Kai.
»Das ist dir doch sonst immer scheißegal!«, entgegnete Kai.
Julian sagte nichts und wich seinem Blick aus.
»Ach vergiss es«, zischte Kai und verschwand jetzt endgültig im Flur. Julian folgte ihm nicht.
Er hörte wie sich sein bester Freund die Schuhe anzog und die dünne Jacke rascheln, die er sich vermutlich wieder überstreifte. Kurz darauf fiel die Wohnungstür knallend ins Schloss.
Julian atmete schwer aus, hatte gar nicht mitbekommen, dass er die Luft angehalten hatte.
Nach diesem Aufeinandertreffen war er sich nicht mehr sicher, was er eigentlich wollte und was nicht. Was er ertragen konnte und was nicht. Er hatte wirklich gedacht, sie würden darüber hinwegkommen und wieder Freunde sein können. Aber einerseits wollte er ihn gar nicht mehr sehen und andererseits wollte er mehr, als bloß Freundschaft. Weil er dran glaubte, es könnte funktionieren.
War es vielleicht schon immer so gewesen? Hatte Julian sich nur mit Kai angefreundet, weil er eigentlich viel mehr von ihm wollte. War das der Teil des Eisbergs, den nicht mal er selbst gesehen hatte? Kannte er sich selbst überhaupt? Wer war er eigentlich?
Sein Blick streifte den Sofatisch und ihm fiel etwas auf, dass da eigentlich nicht mehr hingehörte: Kais Playstation-Controller. Wann hatte er den dort hingelegt?
Julian überlegte nicht lang; er musste ihm hinterher! Er angelte sich den Controller vom Tisch und schlitterte ungebremst in den Flur und fast gegen seine Kommode. Er schlüpfte in zwei Schuhe und war sich sicher, dass sie nicht zusammengehörten, weil seine Füße sich komisch anfühlten.
Dann riss er seine Wohnungstür auf und hätte Kai beinahe über den Haufen gerannt, der gerade im Inbegriff dazu war, zu klopfen.
Julian machte wieder einen Satz nach hinten und stolperte dabei über seine eigenen Füße. Sein Hintern hätte ganz sicher Bekanntschaft mit dem Fußboden gemacht, wenn Kai ihn nicht in der allerletzten Sekunde am Ellbogen gepackt und festgehalten hätte.
Sie sahen sich an. Kai zog die Hand zurück als hätte er sich an Julian verbrannt und steckte sie in seine Jackentasche.
»Hab' meinen Controller« - er stockte, als Julian ihm ebenjenen entgegenhielt - »vergessen.«
Als Kai sein Eigentum wieder an sich nahm, berührten sich ungewollt absichtlich ihre Finger und schickten elektrische Impulse durch ihre Körper. Julian überkam ein Anflug von Verlustangst. Er wollte nicht, dass Kai ging. Er sollte bleiben. Er würde auch nicht reden wollen oder ihn beschuldigen oder anschreien oder was auch immer ...
Kais Stimmung schlug auch um. Julian konnte die Veränderung in seinen Augen sehen. Die Wut verschwand aus seinen Zügen und wich einer Mischung aus Verwirrung undVerlangen. Es war, als würde Kai jetzt wieder einfallen wofür er wirklich hergekommen war, warum Julian noch einmal umdrehen musste, obwohl er schon auf der Autobahn gewesen war.
»Ich wollte es auch... auch ohne Alkohol«, murmelte Kai zusammenhangslos. Aber Julian wusste genau was er meinte.
Vielleicht hatte sich etwas zwischen ihnen verändert. Aber eine Sache war noch immer wie früher: Wenn Kai sagen würde, spring von der Dachterrasse, Julian würde es tun, ohne viele Fragen zu stellen. Weil er sich sicher ist, Kai würde hinterher springen.
Dieses Mal war es Julian, der sich von seinen Gefühlen überwältigen ließ und beschloss, den Kopf auszuschalten. Er überbrückte die fehlenden Dezimeter zwischen ihnen und küsste Kai, weil eine völlig übermütige Synapse ihm dazu riet, genau das jetzt zu tun. Zum Teufel mit all dem, was dagegensprach!
Dieses Mal fing Julian etwas an und Kai machte mit. Er legte die Hände an Julians Hüften und dirigierte ihn zurück in den Flur, damit er die Tür hinter sich mit dem Fuß ins Schloss kicken konnte.
Julian zitterte am ganzen Körper und sein Blut raste mit einer Geschwindigkeit durch seine Adern, dass sogar das schnellste Rennauto der Welt neidisch werden würde.
Dieser Kuss strahlte eine gewisse Sehnsucht aus, die Julian bis dato nicht gekannt hatte. Er hatte sich selten etwas so sehr gewünscht, wie dieses Herzklopfen und das Gefühl, anzukommen. Ihm kam der Gedanke, dass Kai vielleicht genau hierfür nach Dortmund gekommen war. Und das küssen so viel besser war als reden.
Kai ließ abrupt los und Julian bekam ein wenig Panik, weil er nicht wollte, dass dieses berauschende Gefühl schon wieder zu Ende sein sollte. Aber Kai brauchte seine Hände, um sich Schuhe und Jacke auszuziehen. Aus dem Augenwinkel konnte Julian sehen, dass sein Flur einem heillosen Chaos glich. Aber das war ihm schon wieder egal, als Kais Hände an seinen Hüften unter den Stoff des T-Shirts schlüpften.
Auf dem Weg ins Wohnzimmer, verloren sie ihre Oberteile an die Hände des jeweils anderen und ließen das Kleidungsstück ungeachtet zu Boden segeln. Für ihre Hände gab es nicht mehr viel zu erkunden, sie kannten das alles ja schon. Aber Julian erschauerte immer wieder, wenn Kai ihn berührte oder die Fingerspitzen in die Haut drückte. Und Kai machte diese kleinen verräterischen Laute, wenn Julians Finger ganz leicht Klavier auf seiner Haut spielten und er gleichzeitig seine Lippen fester gegen Kais presste.
Doch irgendwann ging ihnen die Luft aus und sie mussten ein bisschen mehr Sauerstoff in sich aufnehmen, als nur dieses verzweifelte nach Luft schnappen zwischen zwei Küssen.
Julian stützte seinen Kopf mit der Stirn auf Kais Schulter ab und atmete schwer gegen dessen Brust. Er traute sich nicht ihn loszulassen. Weil er Angst hatte, Kai würde wieder wegrennen, sich nicht melden, in der Versenkung verschwinden. Dieses Mal vielleicht für immer.
Es war ein beruhigendes Gefühl, die warme, weiche Haut unter seinen Fingerspitzen zu spüren und Kais rasenden Puls genau neben seinem Ohr zu haben. Etwas, an das Julian sich durchaus gewöhnen konnte.
»Jule«, murmelte Kai an seinem Ohr. Es klang ungeduldig. Es klang so sehr nach Bitte mach irgendetwas.
Julian wollte etwas sagen, aber ihm fiel nichts ein, was zu dieser Situation passte. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte er das Gefühl, zu viel zu reden. Einen Überschuss an Schwachsinn von sich zu geben, sobald er den Mund aufmachte.
Er hob den Kopf und sah Kai nachdenklich an.
»Was ist?«, fragte er und seine Stimme klang so ungewohnt heiser, wie nach einer richtigen fiesen Erkältung.
Der Rotschimmer auf Kais Wangen wurde ein wenig dunkler, bevor er anfing nervös auf seiner Unterlippe herum zu kauen. Dann murmelte er: »Mach...«
Julian lehnte sich vor und traute sich nochmal. Es war ein langsamer Kuss. Kein betrunkener oder ein verzweifelter. So hatte Julian noch nie jemanden geküsst. Und so wurde er auch noch nie zurück geküsst. Fühlte sich an, als würde er Feuer fangen überall wo Kai ihn berührte.
Julian ließ seine Hände nach unten wandern, die Fingerspitzen über Kais Brust tanzen, zog die Definierung seiner Bauchmuskeln mit dem Finger nach. Erst an seinem Hosenbund stoppte er seine Berührungen und löste den Kuss wieder. Kai startete einen unbeholfenen Versuch nach seinen Lippen zu schnappen, lehnte dann aber seine Stirn gegen die von Julian.
Julian suchte mit seinen Augen Kais Blick, fragte stumm ob es okay war, in dem er langsam den Knopf von Kais Jeans öffnete und anschließend beim Reißverschluss weitermachte. Bis plötzlich dieses halbe, verschmitzte Grinsen auf Kais Gesicht auftauchte und er Julians Handgelenke packte.
»Du bist zu langsam«, raunte er gegen Julians Lippen.
Er spürte Kais Atem gegen seine Lippen. Er war ihm schon wieder so scheiße nah, dass Julian das logische Denken schwerfiel.
Wie paralysiert nickte er und ließ zu, dass Kai ihre Münder wieder miteinander verschloss.
Julian würde sich nicht als unerfahren bezeichnen, aber Kai schien das alles dennoch etwas leichter von der Hand zu gehen. Wie er sie umdrehte und Julian sanft über die Rückenlehne des Sofas schubste, ohne ihm wehzutun. Kai selbst nahm den Weg außenherum, während Julian ans andere Ende rutschte, um Kai Platz zu lassen. Aber der Jüngere dachte gar nicht daran, den Abstand zwischen Ihnen zuzulassen.
Es kam Julian irgendwie surreal vor, dass Kai nach ihrem Streit jetzt über ihm kniete, seinen Hals mit Küssen traktierte und mit den langen Fingern am Verschluss seiner Jeans nestelte. Als er Knopf und Reißverschluss offen hatte, griff er ohne Rücksicht auf Verluste in Julians Boxershorts und küsste ihn mit offenem Mund.
Julian wusste nicht wohin mit sich, seinen Empfindungen, seinem Verlangen. Komplette Reizüberflutung. Es fehlte nicht mehr viel und er würde total peinlich wie ein pubertierender Teenager in seiner Hose kommen. Aber er wollte nicht, dass das hier schon vorbei war. Er wollte es hinauszögern, genießen, auch etwas bei Kai machen. Es unvergesslich machen.
Julian spreizte die angewinkelten Beine etwas weiter, sodass Kai richtig dazwischen Platz fand und nicht halb über seinem Knie hing. Dann umschloss er Kais Handgelenk und zog dessen Hand weg. Die fehlende Berührung hinterließ ein unangenehmes Gefühl, aber Julian ignorierte das gekonnt und zog Kai so dicht an sich heran, dass kein Blatt Papier mehr zwischen sie gepasst hätte. Diese neue Art der Berührung ließ sie beide Erschaudern und trieb Kai sogar dazu, den Kuss abrupt zu lösen.
»Scheiße Jule«, keuchte er und schnappte nach Luft, während er versuchte ein wenig Abstand zwischen sie zu bringen.
Auf Julians Lippen schlich sich ein schiefes Grinsen, während er die Hände mit gespreizten Fingern über Kais Rücken bis zum Bund seiner Hose hinabgleiten ließ und dort in der Bewegung innehielt. Nur für einen kurzen Moment, bevor er sich traute und die Hände vorsichtig ein Stück darunter schob.
Kais Blick wanderte aufgescheucht zwischen Julians Augen und Lippen hin und her. Da waren so viele Emotionen gleichzeitig und nacheinander, dass Julian sie nicht zu fassen bekam, nicht alle benennen konnte. Außer zwei, die immer wieder aufblitzten: Neugierde und Verlangen. Julian würde gerne wissen, welche Dinge Kai gerade durch den Kopf gingen und welche Ideen sich auftaten. Aber dann kam ihm der Gedanke, dass Kai ihm lieber zeigen sollte, was er vorhatte. Er wollte nicht schon wieder reden.
»Mach einfach«, flüstere Julian rau. Und Kai ließ sich das nicht zwei Mal sagen.
Mit einem halben Kai-Grinsen lehnte er sich wieder zu Julian hinab und ließ ihn Raum und Zeit vergessen.



...
AMOR IST DER GRÖßTE SPITZBUBE UNTER DEN GÖTTERN, DER WIDERSPRUCH SCHEINT SEIN ELEMENT ZU SEIN.
- GIACOMO CASANOVA
...




Julian konnte sich nicht daran erinnern, eingeschlafen zu sein. Aber als er wieder wach wurde, war es stockduster in seinem Wohnzimmer. Er blinzelte ein paar Mal, bis seine Augen sich soweit an die Dunkelheit gewöhnt hatten, dass er zu mindestens Umrisse erkennen konnte.
Die Erinnerungen an die vergangenen Stunden holten ihn ein, doch dieses Mal dachte er nicht gleich scheiße, scheiße, scheiße. Er fragte sich nur, ob Kai auch dieses Mal einfach wieder abgehauen war.
Vorsichtig setzte Julian sich auf und sah sich um. Er rechnete nicht damit, Kai irgendwo zu sehen oder ein Indiz dafür zu finden, dass er nicht gegangen, sondern geblieben war.
Umso mehr erschrak Julian, vor der angezogenen Gestalt, die vor der Terrassentür stand und schweigend in den Nachthimmel hinausstarrte.
Julian wollte sich freuen, weil er das als kleinen Fortschritt ansah - welche Richtung auch immer sie einschlagen würden. Aber irgendetwas an Kais Haltung sagte ihm, dass sie keinen Fortschritt gemacht hatten. Das sich nichts zwischen ihnen geändert hatte. Das es immer noch kompliziert war.
Julian streckte sich ein wenig und überlegte was er machen oder sagen konnte, um auf sich aufmerksam zu machen. Viel fiel ihm nicht ein.
Am Ende fragte er leise: »Was ist los?« - und kam sich danach total bescheuert vor.
Kai zuckte mit einer Heftigkeit zusammen, als hätte Julian ihn bei etwas Verbotenem erwischt, bevor er sich zu dem Blonden umdrehte, aber dort stehen blieb wo er war und kein Wort sagte.
Julians Magen drehte sich um. Zu denken, die letzten Stunden hätten irgendetwas zwischen ihnen wieder einfacher gemacht, war ein Trugschluss.
Julian versuchte den Klos hinunterzuschlucken, aber er blockierte weiterhin seine Stimmenbänder. »Warum hast du mich nicht geweckt?«, krächzte er und fühlte sich so verloren.
Schon wieder wollte er die Zeit zurückspulen. So wie in Butterfly Effect. Er wollte bloß alles richtig machen, obwohl ihm nicht mehr viel einfiel, was er hätte tun können. Reden hatte nicht funktioniert und küssen auch nicht. Streiten hatte sie ebenso wenig weitergebracht. Langsam war er mit seinem Latein wirklich am Ende. Und von Kai kam gar nichts hilfreiches. Als wollte er diese Sache gar nicht wieder geradebiegen, ihre Freundschaft nicht retten.
»Du hättest mich angemault, wenn ich dich geweckt hätte!« - Kai zuckte mit den Schultern - »Kann ich drauf verzichten!«
Vorhin waren sie sich so nah gewesen, jetzt war da wieder ein ganzes Fußballfeld zwischen ihnen. Julian fand seine Boxershorts neben dem Sofa und streifte sie sich im Sitzen über.
»Wie spät ist es?«, fragte er beiläufig.
»Halb zwei«, antwortete Kai monoton.
Julian biss sich nachdenklich auf der Unterlippe herum, während er sich eine andere unverfängliche Frage ausdachte. Passenderweise gab sein Magen in diesem Moment ein leises Grummeln von sich.
»Willst du auch was essen? Viel hab' ich zwar nicht da, aber irgendetwas find' ich schon«, wollte Julian nun wissen und erhob sich von seinem Sofa.
Kai tat für eine Menge Augenblicke gar nichts aus, dann schüttelte er plötzlich heftig den Kopf. »Ich sollte gehen!«
Julian ballte die Hände zu Fäusten zusammen, dann stöhnte er angespannt. »Scheiße!«, fluchte er. »Soll das jetzt jedes Mal so laufen, wenn wir uns sehen? Wir streiten, wir knutschen, wir landen im Bett und du verpisst dich danach, ohne darüber zu reden?«
Wieder Schweigen. Julian bekam immer mehr Lust dazu, Kai eine reinzuhauen. Der Selbstekel kam zurück. Jetzt bereute er wirklich, dass er Kai geküsst, wieder mit ihm geschlafen hatte.
So sollte das nicht laufen, schrie er sich selbst an. Weil es nichts geändert hatte. Er fühlte sich schon wieder benutzt und weggeworfen.
»Tut mir leid«, murmelte Kai. »Ich denke, es ist besser, wenn wir uns erstmal nicht mehr sehen. Vielleicht wird es dann einfacher!«
Er ging an Julian vorbei, der sich keinen Millimeter rührte. Erstarrt, schockgefroren, Herzstillstand.
»Mach's gut«, murmelte Kai, bevor er das Wohnzimmer verließ.
Als die Haustür ins Schloss fiel, fing Julians Herz wieder an zu schlagen. Resigniert ließ er die Schultern hängen. Er wollte nicht heulen, aus dem Alter war er längst raus. Aber mit den Tränen kam auch ein neuer Berg Schuldgefühle. Denn Julian hatte gerade so viel mehr verloren, als nur seinen besten Freund.

Bis zum Elfmeterpunkt | BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt