Z W E I

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Ein Foul war im Fußball nichts Außergewöhnliches, denn sie passierten so häufig, dass es schon fast keinen Sinn machte, sie zu zählen.
Beim ersten Foul, beließ man es in der Regel bei einer mündlichen Verwarnung – je nach Schwere des Vergehens. Beim zweiten kam meistens auch damit davon. Beim dritten würde es schon kritisch werden, aber beim vierten konnte man sich sicher sein, dass man dafür gelb sehen würde.
Ein Foul ist ein risikoreiches Unterfangen mit hoher Verletzungsgefahr. Und wenn es danach keinen Freistoß gab, dann musste man den Ball erst wieder zurückerobern. Man musste quasi wieder von vorne anfangen.
In der Liebe sind Fouls die kleinen und großen Momente, in denen man merkt, dass nicht immer alles einfach ist. Dass andere dir Steinen in den Weg legen können. Es sind die Momente, in denen du hart auf dem Boden der Realität aufschlägst und wieder ganz genau weißt, dass du nicht alleine auf dem Feld stehst und nicht alle deine Freunde sind.
Man sollte es nicht zu einer gelben Karte kommen lassen, denn dann lief man Gefahr ausgeschlossen zu werden.


...

WENN MAN LIEBT,

SUCHT MAN DIE SCHULD BEI SICH,

NICHT BEI ANDEREN

- RICHARD BURTON

...



Julian duschte solange, dass er das Zeitgefühl völlig verlor. Vielleicht machte er es aber auch mit Absicht. Weil er hoffte, die anderen würden genervt von seiner Abwesenheit abhauen.

Er fühlte sich kein Stück besser, als er sich wenig später ein Handtuch um die Hüften band und sich die Haare trockenföhnte. Er ratterte seine Badroutine mechanisch hinunter. Haare kämen. Zähne putzen, heute zweimal. Dreckige Wäsche in die Waschmaschine schmeißen. Den Dunst vom Spiegel abwischen. Vielleicht verlängerte er die Zeit im Badezimmer auch mit Absicht unnötig lange. Weil er sich immer noch einbildete, Stimmen von draußen zu hören. Und er wollte heute niemanden mehr sehen. Vor allem Mitch und Sam nicht. Wenn er Pech hatte, erzählten die beiden Kai am Montag, wie komisch Julian sich heute benommen hatte. Und Julian wollte nicht für noch mehr wirre Gedanken in Kais Kopf sorgen.
Irgendwann kam der Moment, in dem es im Badezimmer für Julian nichts mehr zutun gab. Er atmete tief durch, bevor er sich wieder hinaus traute. Für einen kurzen Moment durchflutete seinen Körper pure Erleichterung. Die anderen waren weder zu sehen noch zu hören. Doch dann zog sich sein Herz zusammen, als Jannis im Türrahmen zur Küche auftauchte. Er lehnte sich mit hochgezogenen Augenbrauen und vor der Brust verschränkten Armen am weißgestrichenen Metall an.
Julian schluckte. Er ahnte, dass das hier ein sehr unangenehmes Gespräch werden würde.
»Wo sind die anderen?«, fragte Julian. Er wusste, dass seinen Bruder nichts und niemand davon abhalten konnte, die Frage, die ihm auf der Zunge brannte, laut auszusprechen. Aber er wollte auf keinen Fall, dass Mitch oder Sam davon etwas mitbekamen. Und er traute seinem Bruder diese Diskretion nicht zu.
»Mitchs Freundin hat sie vor circa einer halben Stunde abgeholt. Sie wollten auf dich warten, aber du kamst ja ewig nicht wieder und dann sind sie abgehauen!«
Julians Bauch krampfte sich schmerzhaft zusammen. Die Leverkusener hätte er vors Loch schieben können, um Jannis Fragen auszuweichen. Jetzt war er seinem Bruder auf dem offenen Schlachtfeld schutzlos ausgeliefert. In seiner leeren kleinen Wohnung, ohne eine Möglichkeit zu fliehen.
Der Jüngere stieß sich schwungvoll vom Türrahmen ab und kam auf Julian zu. Selbstsicher, aber irgendwie auch bedrohlich. Jannis machte sich immer größer und Julian wurde immer kleiner.
»Wirst du mir sagen, warum Kai abgehauen ist?«, fragte Jannis neugierig.
Irgendetwas an seinem Ton verriet Julian, dass Jannis mehr wusste, als er zugab. Jannis kannte die Antwort auf seine Frage bereits. Er wollte nur sichergehen, dass er mit seiner Annahme richtiglag.
Jannis war nicht nur Julians Bruder, er war auch sein Beschützer. Obwohl sie drei Jahre Altersunterschied trennten und sie sich manchmal gegenseitig die Pest an den Hals wünschten, wusste Jannis irgendwie immer, was gut für Julian war und was nicht. Und wovor er Julian schützen musste – manchmal auch vor sich selbst.
»Ich weiß es nicht!« - Julian zuckte mit den Schultern, als wäre Kais Verschwinden nichts weiter, als eine Lappalie - »Vielleicht hat seine Freundin ja wirklich angerufen und es gibt ein Happy-End!«
Jannis setzte seinen „Echt jetzt?!" Blick auf und kam noch einen Schritt auf Julian zu. Julian wiederrum fühlte sich so sehr in die Ecke gedrängt, dass es gleich ungemütlich werden würde – für sie beide.
»Er hatte dein T-Shirt an, auf links gedreht. Und er sah aus, als hätte er ein Gespenst gesehen!« - Jannis seufzte, als Julian noch immer nicht dazu ansetzte, mit der Sprache herauszurücken - »Ich habe euch gehört!«
Das war's! Mehr brauchte es nicht, um Julian den Boden endgültig unter den Füßen wegzuziehen. Er stolperte einen Schritt nach vorne und musste sich an der Sofalehne festhalten. Seine Beine fühlten sich an wie Wackelpudding. Aber nicht wie der gute mit Himbeergeschmack. Diese Wackelpudding-Beine schmeckten nach Waldmeister. Und Julian hasste Waldmeister!
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst!«
Das Alter, in dem man sich gegenseitig anlog, weil man nicht verpetzt werden wollte, hatten sie eigentlich schon längst überschritten. Und Julian hatte in den vergangenen drei Jahren keinen Grund dafür gehabt seinen Bruder anzulügen. Er war der einzige Mensch, auf den er sich zu 100 Prozent verlassen konnte und das würde nicht funktionieren, wenn sie sich gegenseitig Dinge verschwiegen. Julian wusste das
Aber über die Kai Sache wollte Julian zuerst mit Kai reden. Und wenn der nicht darüber reden wollte, dann würde er die vergangene Nacht unausgesprochen mit ins Grab nehmen. Er fragte Jannis ja auch nicht über seine Bettgeschichten aus. Aber Jannis ging betrunken auch nicht mit seinem besten Freund ins Bett – das musste man ihm zugutehalten!
»Ich geh mir was anziehen«, murmelte Julian ausweichend. Ohne seinen Bruder eines Blickes zu würdigen, stieg er die Treppe hinauf und verschwand nach links in seinem kleinen Ankleidezimmer. Die beiden Räume auf der oberen Etage waren so klein, dass in sein Schlafzimmer nicht mehr als ein Bett passte und in den anderen nicht mehr als ein Kleiderschrank und eine Kommode. Julian gefiel die räumliche Teilung.
Julian bekam plötzlich das dringende Bedürfnis, seine Bettwäsche abzuziehen und zu verbrennen. Genau das gleiche hätte er gerne mit den vergangenen Stunden getan. Aber das konnte er nicht tun, solange Jannis im Wohnzimmer herumlungerte. Dem würde das in die Karten spielen. Julian holte sein Handy aus dem Schlafzimmer, bemüht darum die Erinnerungen nicht zu nah an sein Bewusstsein heranzulassen. Und er atmete erleichtert aus, als er die Schlafzimmertür mit einem lauten Knall hinter sich ins Schloss ziehen konnte.
Genau in diesem Moment kam Jannis die Treppe nach oben gelaufen und starrte ihn an, als hätte er nicht mehr alle Latten am Zaun. Vermutlich fehlten da wirklich ein paar.
»Ich muss jetzt los. Kilian will noch ein paar Sachen einkaufen und sein Auto ist grad' in der Werkstatt!«
Kilian ist einer von Jannis Mitbewohner. Der einzige, mit dem er sich wirklich gut versteht. Julian mag ihn auch. Und weil er Jannis im Augenblick eh nicht um sich haben will, nickte er und hoffte seine hysterische Begeisterung sah man ihm nicht an.
Jannis sah einen Moment so aus, als wollte er Julian umarmen. Doch dann winkte er nur zögerlich und trippelte die Treppe wieder hinunter. Einen Augenblick später fiel die Wohnungstür ins Schloss und Julian atmete zum zweiten Mal innerhalb weniger Sekunden erleichtert aus. Dann warf er einen vorsichtigen Blick auf sein Handy. Weil er hoffte und irgendwie auch nicht, dass Kai ihm geschrieben hatte. Doch die Nachrichtenleiste war inhaltslos und Julian wusste nicht, wie er das finden sollte. Aber er traute sich auch nicht den ersten Schritt zu gehen und zu schreiben. Also blieb die Konversation leer.
Foul Nummer Eins.

Bis zum Elfmeterpunkt | BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt