V I E R

2.6K 94 3
                                    

Julian konnte sich an den Rest von Jannis Party am nächsten Morgen kaum noch erinnern. Er wusste nur, dass er schlussendlich einer der letzten im Bett war. Und definitiv einer der Vollsten. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatten Jascha und Jannis ihn gemeinsam irgendwie die Treppe zu seinem Schlafzimmer nach oben geschoben, um sicherzugehen, dass er sie nicht doch noch rückwärts wieder hinunterfiel.
Beschämt schlug er sich die Hände ins Gesicht. Er hatte schon einige Male gedacht, seinen persönlichen Tiefpunkt erreicht zu haben und jedes Mal war er der Meinung, er könnte nicht noch tiefer fallen. Die letzten zwei Wochen belehrten ihn eines Besseren. Die Kai-Sache war der tiefste Fall. Das Einzige was das noch steigern konnte, war die Tatsache das er seinen besten Freund verlor – für immer. Viel fehlte dazu auch nicht mehr. Weil sie sich lieber wie kleine Kinder aus dem Weg gingen und darauf warteten, dass der andere sich zuerst entschuldigte, statt wie Erwachsene einfach darüber zu sprechen. Trotzdem war es unfair, fand Julian. Er hatte sich das einfach vorgestellt. Hollywood vermittelte einem ein völlig falsches Bild von solchen Situationen. Dort gab es immer ein Happy-End.
Im Untergeschoss seiner Wohnung klirrte etwas, dass sich nach einem Glas oder einer Bierflasche anhörte. Julian hörte Jannis fluchen und Jascha, der sich entschuldigte. Der Älteste verdrehte die Augen. Natürlich waren die beiden schon wach, was auch sonst. Als würde der Konsum von Alkohol sie zu notorischen Frühaufstehern machen.
Julian strampelte die Decke von den Beinen und stieg aus dem Bett. Während er ins andere Zimmer schlürfte und ein frisches T-Shirt und eine Jogginghose herauskramte, überlegte er sich, was er seinen Brüdern sagen sollte und was er lieber für sich behielt. Fakt war, Jannis würde ihn fragen, was gestern zwischen Kai und ihm vorgefallen war. Und würde es Jannis nicht tun, würde Jascha seinen Mund aufmachen. Dessen Hoffnung auf ein baldiges Happy End kotzte Julian noch mehr an als alles andere. Am liebsten würde er seinem jüngsten Bruder diese absurde Idee aus dem Gehirn prügeln. Weil er selbst nicht daran glaubte. Und, weil er das Thema niemals unter den Tisch kehren konnte, wenn ihn ständig jemand anderes daran erinnerte.
Julian überlegte, auch wenn sein Gehirn noch nicht wirklich zum Arbeiten bereit war. Vielleicht sollte er versuchen, das Gespräch auf die Party zu fokussieren. Er sollte sich entschuldigen und danach so tun, als könnte er sich an nichts erinnern. Dann wäre Jascha bis zu seiner Abreise damit beschäftigt seine Erinnerungen aufzufrischen. Und da Jannis ihn heute nach Bremen begleiten würde, wäre er den auch los. Zwei Fliegen mit einer Klappe.
Julian lachte selbstironisch und auch etwas hysterisch in sich hinein. Als ob irgendeiner seiner Pläne in den vergangenen zwei Wochen funktioniert hätte. Er schaffte es ja nicht mal, sich mit sich selbst einig zu werden, darüber was er nun wollte und was nicht. Wie sollte er da seine Brüder von irgendetwas überzeugen?
Bevor er nach unten ging, atmete Julian noch einmal tief durch und legte sich die Worte zurecht. Doch kaum, dass er seine Brüder erblickte, verpufften die Worte in seinem Kopf und hinterließen nur eine schwarze Rauchwolke der Leere.
Jascha warf seinem ältesten Bruder einen feindseligen Blick zu, ehe er sich ins Badezimmer verdrückte. Auch Jannis sah nicht gerade erfreut über Julians Anwesenheit aus. Er warf ihm ebenfalls einen giftigen Blick zu, eher sich mit zwei Händen voll leeren Flaschen in die Küche aufmachte. Julian verzog beschämt das Gesicht und folgte seinem kleinen Bruder dann reuevoll.
»Tut mir Leid Jannis«, war das erste und einzige, was er sagte. Ihm fiel nichts Besseres ein und er meinte die Entschuldigung ernst, auch wenn er noch nicht genau wusste, wofür er sich eigentlich entschuldigte. Viel wusste er wirklich nicht mehr. Alles nach Kais Verschwinden lag hinter einem verschmierten Schleier verborgen. So als hätte Julian das alles gar nicht wirklich erlebt. Deswegen konnte er auch nicht mit Sicherheit sagen, welches Bild vor seinem inneren Auge zu einer Erinnerung und welches zu einem Hirngespinst gehörte.
Jannis stellte die leeren Bierflaschen wortlos in den Kasten vor dem Kühlschrank und schnipste ein paar Kronkorken in die Mülltüte direkt daneben. Er hatte Julian gehört, dass hatte sein Gesichtsausdruck verraten. Ganz kurz hatte man einen Anflug von Mitleid über Jannis Züge gleiten sehen, bevor sie sich wieder verhärtet hatten.
»Kann ich dir irgendwie helfen?« - Julian wollte es wiedergutmachen. Egal was er verbockt hatte.
»Geh lieber wieder ins Bett, du siehst echt scheiße aus!«, knurrte Jannis. Niedergeschrieben könnte man diese Aufforderung für fürsorglich halten. Aber ausgesprochen klang es böswillig, als wollte Jannis seinen Bruder absichtlich noch etwas mehr leiden lassen.
»Es tut mir wirklich leid!«
Jannis drehte sich um. Abgrundtiefer Hass glitzerte in seinen Augen. »Was denn genau? Weißt du das überhaupt noch? Bei der Menge Alkohol die du getrunken hast?!«
Einen kurzen Augenblick dachte Julian über diese Frage nach. Das letzte an das er sich wirklich erinnern konnte, war Kais Kopfschütteln, bevor er aus der Wohnung gestürmt war. Dunkel erinnerte er sich auch daran, dass Kai vorher etwas zu Jannis gesagt hatte. Aber wohl kaum „Ich habe deinen Bruder schon wieder geküsst und bin durcheinander und will gehen". Bestimmt hatte er irgendetwas anderes vors Loch geschoben. Irgendetwas, dass nachts um kurz vor zwölf total plausibel klang. Julian wollte nichts einfallen.
Jannis sah ihn noch einen Moment an, ehe er missbilligend die Luft durch zusammengebissene Zähne aus seinen Lungen entweichen ließ. »Wusst' ich's doch, du hast keine Ahnung!«, sagte er, ehe er sich grob an Julian vorbei und zurück ins Wohnzimmer drängelte. Es gab noch eine Menge zu tun und umso schneller er hier fertig war, umso schneller konnte er mit Jascha nach Bremen verschwinden. Seinen großen Bruder wollte er im Moment nicht sehen.
Während Jannis also das Wohnzimmer auf Vordermann brachte, kümmerte sich Julian um seine Dachterrasse. Er konnte sich zwar nicht daran erinnern, das außer ihm jemand hier draußen gewesen war, aber wer wusste schon, was nach Kais Verschwinden noch alles geschehen war. Die Terrasse sah auf jeden Fall nach einer richtig heftigen Party aus. Julian bekam Kopfschmerzen und ihm war schwindelig. Nachwehen des übermäßigen Alkoholkonsums. Unter anderen Umständen hätte Julian das Aufräumen aufgegeben und sich mit einer Aspirin auf sein Sofa zurückgezogen. Aber die Selbstbestrafung minderte seinen Selbsthass, also arbeitete er weiter. Es war dämlich, aber irgendwie hoffte er, dass so auch die Wut von Jannis verfliegen würde. Die Zeit heilte ja für bekanntlich alle Wunden.
Als Julian sich irgendwann zurück in seine Wohnung traute, stapelte sich ein Haufen Müll im Flur und eine Ansammlung Pfand in der Küche. Jascha und Jannis saßen auf den Barhockern an der Inseltheke und spielten mit ihren Handys. Julian bemühte sich um ein Lächeln, als er bemerkte, dass Jannis ihm eine Tasse Kaffee übriggelassen hatte.
Julian lehnte sich an die Theke gegenüber von seinen Brüdern. Er umklammerte die Tasse mit einer Kraft, dass es einen wundern konnte, dass sie nicht zersprang. Seit der Sache mit Kai war er ein wandelndes Nervenbündel, ständig von Nervosität und Angst geplagt. Früher hatte er sich nie großartig Gedanken darübergemacht, wie andere Leute mit ihm klarkamen. Er war einfach er selbst. Ein bisschen vorlaut, ein bisschen klugscheißernd, immer gut gelaunt. Die meisten Leute mochten ihn, ohne lange darüber nachzudenken. Und jetzt befürchtete er ständig, etwas falsch zu machen und er stieß Menschen die er mochte, mit seinem Verhalten vor den Kopf. Julian wusste selbst, dass er aktuell einfach nur zum Kotzen war! Aber wie sollte er das ändern?
»Wann wollt ihr los?«, fragte der Älteste, nachdem seine Brüder nicht den Anschein machten, etwas sagen zu wollen.
Jascha zuckte mit den Schultern und warf seinem Fahrer Jannis einen fragenden Blick zu. Der Mittlere Brandt, steckte sein Handy in die Tasche der Sweatshirt Jacke und sah seinen älteren Bruder anschließend an.
»Wolltest du dich nicht nochmal hinlegen?«
Aha, dachte Julian geknickt, Jannis war also noch immer sauer. Na gut, konnte er haben. Julian leerte seine Tasse in einem großen Zug.
»Deswegen frage ich ja! Denkst du, bei dem Krach den ihr macht, kann einer schlafen?«
»Wenn das alles ist, was dich stört!«
Julian knurrte. Okay, jetzt reichte es ihm. »Es tut mir leid, okay? Alles was ich gemacht habe! Entweder wir reden jetzt wieder ordentlich miteinander oder du haust besser wirklich ab! Ich habe andere Probleme, als dein nachtragendes Getue!«
»Scheiße man!« - Jannis sprang vom Barhocker auf - »Keiner hat dir gesagt, dass du mit Kai vögeln sollst! Hör auf deine schlechte Laune deswegen an allen anderen auszulassen!«
»Hätte ich gewusst, dass du mir das zu jeder Gelegenheit vorhältst, hätte ich es dir nie erzählt!«, fauchte Julian zurück. Er fühlte sich verraten. Und es verletzte ihn, dass selbst sein kleiner Bruder ihm diesen Fehler immer wieder vor Augen führte, wenn er mal für einen kurzen Moment nicht daran denken musste. Als würde das Schicksal wollen, dass er es bloß nicht vergaß.
»Ich hab's gehört, schon vergessen? Ich wusste es, auch ohne das du deinen Mund aufmachst! Und hät' ich's dir nicht auf die Nase gebunden, dann wär's immer noch ein Geheimnis, weil du deine Scheiß Fresse nie aufkriegst, wenn's drauf ankommt! Lieber gehst du dran kaputt, weil du keinen mit deinen Problemen belasten willst!«
Jascha sah verwirrt zwischen seinen älteren Brüdern hin und her. Er verzog das Gesicht, als ihm klar wurde, dass er mal wieder nicht alles wusste. Weil das immer so war, seit die beiden ausgezogen waren und so taten, als wären sie erwachsen. Jascha erfuhr gar nichts oder nur einen so kleinen Bruchteil, dass er schlussendlich eh nicht mitreden konnte.
»Fuck man, dass geht dich eigentlich gar nichts an! Ich frage dich doch auch nicht mit wem du in die Kiste steigst!«
»Ich treib's ja auch nicht mit meinem besten Freund, einfach mal so und tue danach als wäre nichts gewesen!«
Julian presste sich schmerzerfüllt die linke Hand gegen die Stirn. Sein Gehirn fühlte sich an, als hätte man ihn in einen Mixer gesteckt und auf höchster Stufe einmal durchgerührt. Und die Schuldgefühle hatte man auch untergemischt. Sie kündigten sich in seinem Hinterkopf an, zusammen mit den Tränen und der Traurigkeit von vor zwei Wochen.
»Ich weiß, dass ich's verbockt hab! Und es tut mir leid, dass ich dir deine Party versaut habe, ich hatte mich gestern echt nicht im Griff!« - Julians Stimme klang verzweifelt - »Aber ich will mich wegen diesem ganz Scheiß nicht mit dir streiten!«
Jannis sah so aus, als wollte er noch etwas sagen, doch dann seufzte er nur tief und schüttelte den Kopf. Julian musste sich eingestehen, dass sie beide die Rollen getauscht hatten. Sein kleiner Bruder war so viel reifer als er selbst. Jannis hätte dieses Problem sofort aus der Welt geschafft.
»Hast du wenigstens mit ihm geredet?« Jannis Frage war nicht unerwartet, traf Julian aber trotzdem völlig unvorbereitet.
Er blinzelte seinen jüngeren Bruder verwirrt an. »Was?«
»Ist er abgehauen, weil euer Gespräch scheiße gelaufen ist? Oder hast du ihn mit etwas anderem vergrault?«
»Du denkst, er ist wegen mir gegangen?«
»Wegen wem denn sonst?«
Julian verzog traurig das Gesicht. Er hatte von seinem Bruder ein bisschen mehr erwartet. Aber bestimmt nicht, dass dieser ihm die Schuld darangab, dass Kai so überstürzt seine Party verlassen hatte. Julian würde bestimmt nicht die Verantwortung dafür übernehmen. Sein Plan war es zu reden, nicht zu knutschen. Und das Kai damit nicht klarkam und wieder verschwunden war, ohne dass sie reden konnten, war auch nicht Julians Problem. Er hatte damit nicht angefangen. Mal wieder. Aber das wusste Jannis ja nicht.
Und wenn Jannis so oder so nicht auf seiner Seite war, würde er ihm auch nicht erzählen was vorgefallen war. Sein Bruder steckte in dieser Angelegenheit sowieso schon viel zu tief drinnen. Julian wollte ihm nicht noch mehr aufbürden. Außerdem nagte es an seinem Vertrauen, wie Jannis sich gerade benahm.
»Du hast recht, er ist wegen mir verschwunden – zufrieden?«, antwortete Julian niedergeschmettert.
»Habt ihr geredet?« - Jetzt klang Jannis wieder so, als würde er sich wirklich Sorgen darübermachen, dass das zwischen Kai und Julian nie wieder in Ordnung kam. Julian fand, sein Bruder war im Moment einfach nur Sensationsgeil. Und das würde er bestimmt nicht füttern.
»Das geht dich gar nichts an!«
Einen Moment lieferten sich die beiden Brüder ein Blickduell, bei dem jedoch Julian von Vorneherein die Oberhand behielt. Und so gab Jannis sich nach ein paar Minuten seufzend geschlagen.
»Wir hauen jetzt ab Jascha! Hol deine Sachen«, sagte Jannis zum jüngsten Brandt.
»Warum?« - verwirrt sah dieser wieder zwischen seinen beiden älteren Brüdern hin und her. Wollten sie jetzt wirklich im Streit auseinandergehen?
»Ich glaube wir sind hier nicht länger erwünscht!«
»Da hast du recht!«, stimmte Julian bissig zu. Er wollte jetzt wirklich alleine sein.
Jascha setzte dazu an noch etwas zu sagen, doch Julian warf ihm einen so giftigen Blick zu, dass dem jüngsten Bruder die Worte im Hals stecken blieben. Er schluckte sie widerwillig hinunter und verließ die Küche.
Jannis Gesichtszüge verhärteten sich, als er Julian wieder ansah. »Sieh zu, dass du deine schlechte Laune loswirst, bevor du nachhause kommst! Dein „Fresse ziehen" will keiner sehen! Und ich glaube wohl kaum, dass du Mama und Papa den Grund dafür erklären willst oder?«
Julian antwortete nicht und Jannis verließ die Küche und wenig später gemeinsam mit Jascha die Wohnung. Die Tür zogen sie so laut hinter sich ins Schloss, dass Julian kurz zusammenzuckte.
Es dauerte ein paar Minuten, dann holte er sein Handy aus der Hosentasche. Er bereute sein Verhalten. Seine Brüder konnten ja auch nichts dafür, dass gerade einfach alles irgendwie Scheiße lief. Aber als er die Konversation von Jannis und ihm anstarrte, entschied er sich doch dagegen etwas zu schreiben. Ein paar Tage Funkstille würde ihnen beiden guttun. Sie konnten das immer noch klären, wenn Julian am Donnerstag nach Bremen fuhr.
Julian kümmerte sich um den restlichen Dreck in seiner Wohnung und hoffte inständig, dass Kai ihm vielleicht schreiben würde. Noch war Wochenende, noch hatte er Zeit, noch könnte er herkommen und sie könnten reden. Doch alles was er von Kai zu sehen bekam, war ein neues Instagram-Bild von ihm und Nadine. Und statt die Initiative zu ergreifen, akzeptierte Julian es einfach, dass ihre Freundschaft Kai anscheinend egal war.
Er träumte in dieser Nacht von Kai. Und Küssen in seinem Bett. Und ganz lange verliebt anstarren. Es war ein komisch, schönes Gefühl. Aber die Realität am nächsten Morgen tat scheiße weh. Als würde man ihm auf dem Feld die Beine weggrätschen.
Und so ging es die ganze restliche Woche weiter. Julian igelte sich in seiner Wohnung ein. Er ignorierte seine Kollegen vom BVB, die etwas mit ihm unternehmen wollten. Mitch fragte wie es ihm ging und Julian ließ die Frage unbeantwortet. Sam fragte, ob sie gemeinsam zocken wollten und Julian schrieb, dass er keinen Bock auf Fortnite hatte. Er wartete vergebens auf eine Nachricht von Kai, die nicht kam.
Er blieb so lange wach, dass ihm die Augen jedes Mal vor Erschöpfung zufielen. Er träumte von Kai und hasste seinen Bauch für die Schmetterlinge, die er nicht mehr unter Kontrolle bekam und sein Herz für das ungesunde schnelle klopfe, sobald er sich daran erinnerte, was sich vor kurzem in seinem Bett zugetragen hatte. Er wollte nichts davon, nur seinen Freund zurück.
Den Dienstag verbrachte er fast ausschließlich auf seiner Dachterrasse. Er genoss die Sonne und die Wärme und lauschte den Dortmunder Stadtgeräuschen. Es lenkte ihn ein paar Stunden ab. Doch irgendwann kehrten seine Gedanken trotzdem zu Kai zurück. Und er bekam wieder Herzklopfen.
So hatte er sich zuletzt in der achten Klasse gefühlt, als er zum ersten Mal verliebt gewesen war. In dieses Mädchen was nach Erdbeer-Shampoo und süßem Parfüm gerochen hatte und in der Pause immer versucht hatte ihn zum Lachen zu bringen. Julian wurde immer nervös, sobald sie auf ihn zu kam. Irgendwann hatte sie sich getraut und ihn mit roten Wangen zum Eis essen eingeladen. Das Mädchen brauchte ihn nur anzulächeln und Julian bekam Herzklopfen und schwitzige Hände und stammelte und stotterte um die Wette. So klischeehaft, aber so ernst wie noch nie etwas zu vor in seinem Leben. Und Julian Brandt hätte niemals gedacht, dass er irgendwann mit Kai Havertz am selben Punkt ankommen würde. Aber man konnte sich nun einmal nicht aussuchen mit wem das passierte, man merkte es immer erst wenn es schon viel zu spät war, um noch umzukehren.
Julian wünschte sich, Kai würde es ähnlich gehen. Wenigstens ein bisschen, sodass sie gemeinsam überlegen konnten, wie sie weitermachen wollten. Aber Kai hatte Nadine, also kein Herzklopfen, wenn es um Julian Brandt ging. Er war für ihn nicht die Person, die nach Erdbeer-Shampoo und süßem Parfum roch.
Es war zum Verzweifeln. Und während er seinen Blick über die Stadt gleiten ließ, fing er still an zu weinen. Weil er in Kai Havertz verknallt war und das eigentlich nicht wollte ...



...

DIE LIEBE IST SO UNPROBLEMATISCH WIE EIN FAHRZEUG.PROBLEMATISCH SIND NUR DIE LENKER, DIE FAHRGÄSTE UND DIE STRAßE.

- FRANZ KAFKA

...



Okay, dachte Julian am frühen Donnerstagnachmittag, nachdem er seine Reisetasche vollgepackt vor der Badezimmertür parkte. Er hatte den Geschirrspüler ausgeräumt, den Müll nach unten gebracht, alle Pflanzen gegossen und alle Fenster verschlossen. Er war jetzt Abfahrbereit. Obwohl er das ganze gerne noch ein paar Stunden hinausgezögerte hätte, zog er sich seine Trainingsjacke über und schlüpfte in ein bequemes Paar Sneakers.

Julian fuhr mit gemischten Gefühlen nach Bremen. Nachdem Jannis und Jascha am Sonntag ohne Aussprache abgehauen waren, wusste Julian nicht mal, ob er zuhause überhaupt erwünscht war. Seine Brüder hatten sich nicht noch einmal bei ihm gemeldet, ebenso wenig seine Eltern.
Er hatte in den vergangenen drei Tagen nicht nur einmal mit dem Gedanken gespielt, sich mit irgendeiner lapidaren Ausrede vor dem Besuch zu drücken. Ihm ging es wegen Kai immer noch beschissen. Aber nach zwei Tagen hin und her überlegen musste er notgedrungen einsehen, dass so eine Aktion die Situation nur verschlimmern würde. Außerdem waren es nur vier Tage und er hatte ein Auto unterm Hintern. Sollte seine Familie ihm das Leben zur Hölle machen, könnte er jederzeit wieder abhauen.
Wenn alles gut ging, wäre er pünktlich zum Abendessen bei seinen Eltern. Und auf der zweieinhalbstündigen Fahrt konnte er sich genau überlegen, wie er seinen Brüdern aus dem Weg ging. Er wollte nicht schon wieder über die Kai-Sache reden. Der sich nebenbei bemerkt auch nicht bei Julian gemeldet hatte. Und Julian fand, dass der Jüngere dieses Mal zuerst schreiben sollte. Er würde sich nicht melden. Er wollte Kai Zeit geben, obwohl es ihm in den Fingern juckte zu schreiben. Es kostete ihn eine ganze Menge Selbstbeherrschung sich auch wirklich daran zu halten.
Doch als er sich am Flughafen dem Autobahnkreuz näherte und vor ihm „Leverkusen" in weiß auf diesem lächerlichen blau auftauchte, spielte er mit dem Gedanken noch einen kurzen Abstecher zu machen. Was war so falsch daran, dass ein für alle Mal zu klären? Dann könnte Julian viel beruhigter zu seiner Familie fahren und vielleicht schafften Kai und er es so, sich als Freunde einander wiederanzunähern. Er wollte ihn nicht verlieren, daran hatte sich trotz der erneuten Funkstille nichts geändert. Vielleicht wünschte er sich für die Zukunft ein bisschen mehr als Freundschaft, aber er könnte auch damit leben, wenn dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde. Er wollte Kai nur wieder um sich herumhaben. Die Schmetterlinge in seinem Bauch würden irgendwann schon von ganz alleine verschwinden – er brauchte nur Zeit. Da war sich Julian ganz sicher.
Die klingelnde Freisprecheinrichtung riss Julian schließlich aus seinen Gedanken. Und ihm blieb beinahe das Herz stehen, als die weibliche Computerstimme „Kai" sagte.
»Hallo?«, sagte Julian zögerlich, nachdem er das Gespräch angenommen hatte.
»Wo bist du?« - Kai klang abgehetzt und aufgewühlt. Wie nach einem wirklich guten Fußballspiel. Aber irgendwie auch nicht. Etwas schwang in seiner Stimme mit, dass Julian nicht benennen konnte. Weil er nicht wusste, dass Kai so klingen konnte. Er hatte das noch nie zuvor gehört.
»Ich bin auf dem Weg nach Bremen«, antwortete Julian nachdenklich. »Wo bist du?«
»Vor deiner Tür.«
Würde sich Julian nicht mitten auf einer Autobahn befinden, hätte er vermutlich eine Vollbremsung eingelegt und wäre sofort umgedreht. So fragte er einfach nur: »Und jetzt?«
»Bist du schon auf der Autobahn?«
»Ich bin gerade am Flughafen vorbei«, entgegnete Julian. Kai kannte die Strecke. Er hatte ihn schon nach Bremen begleitet.
Es war ein paar Sekunden still und Julian horchte aufgeregt Kais kurzen Atemzügen. Was würde als nächstes passieren? Julian schossen so viele Ideen und Möglichkeiten durch den Kopf, dass er keine festhalten konnte. Schlimm. Gut. Zerstörerisch. Hervorragend.
»Kannst du zurückkommen?« - Kais Stimme zitterte. Und Julians Herz hörte wirklich auf zu schlagen.
Sollte er es tun?
Konnte er es tun?

Bis zum Elfmeterpunkt | BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt