D R E I Z E H N

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Julian schmeckte weder das Bier noch die Pizza. Und die Stimmung in Killians und Jannis' neuer Wohnung war auch eher bedrückend.
Julian wusste nicht so recht, warum er überhaupt noch hier war. Sie waren fertig mit malern und mit hochtragen auch. Die Wohnung sah zwar aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen, aber das war nicht Julians Problem.
Den Transporter hatte Jannis mit Kai zurückgebracht, während Kilian und Julian schweigend auf die Pizza gewartet hatten. Eigentlich konnten Julian und Kai verschwinden, für sie gab es hier nichts mehr zu tun.

Während Kilian und Jannis über die Musik und den Bluetooth-Lautsprecher stritten, fiel Julian auf, dass Kai schon vor einer ganzen Weile aus der Küche verschwunden war. Mal schnell pinkeln gehen konnte nicht so lange dauern.
Julian überließ die beiden Streithammel sich selbst und machte sich auf die Suche nach Kai. Weil er das Gefühl hatte, jetzt wäre vielleicht ein guter Zeitpunkt zum Reden. Neutrales Territorium und zwei, die jederzeit dazwischen gehen konnten, sollte es eskalieren. Wer weiß, wann sich wieder so eine Situation ergeben würde.
Julian fand Kai auf dem Balkon. Er hatte die Unterarme auf dem Geländer abgestützt und starrte die Straße hinunter, als gäbe es dort etwas sehr Interessantes zu sehen. Er hielt das Glas mit der Wodka-Sprite-Mische locker am Rand fest. Es war noch fast voll. Schien dem Jüngeren heute auch nicht zu schmecken.
Julian fand, Kai hatte nie besser ausgesehen. Mit der hochgekrempelten schwarzen Trainingshose aus Polyester und dem blaugesprenkelten weißen T-Shirt. Im Licht der untergehenden Sonne schimmerten seine Haare noch immer ein wenig blau, obwohl er vorhin eine ganze Weile versucht hatte die Farbe auszuwaschen.
Julian zögerte nun doch, aber nur kurz, dann ging er durch das Wohnzimmer und blieb in der Balkontür stehen. Er lehnte sich gegen den Rahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war eine Art Schutzmechanismus. Sollte Kai gleich etwas Verletzendes sagen, würde ihn diese Haltung schützen. Ganz bestimmt.
»Na, schaust du ob mit deinem Auto noch alles in Ordnung ist?«
Kai zuckte vor Schreck so heftig zusammen, dass Julian für einen kurzen Moment dachte, er würde sein Glas fallen lassen.
Als Kai sich wieder gefangen hatte und zu ihm umdrehte, versuchte er sich nichts anmerken zulassen und setzte diesen Blick auf, der den Anschein erwecken sollte, dass ihn nichts aus der Ruhe bringen konnte. Aber Julian konnte den Sturm, der in seinem Inneren tobte, ganz genau erkennen.
»Was gibt's?«, entgegnete Kai, ohne auf Julians Frage einzugehen.
»Warum bist du hier draußen?«, fragte Julian ungerührt.
Kai zuckte mit den Schultern. »Die ganze Wohnung stinkt nach Farbe. Wollte frische Luft schnappen und so.«
Blödsinn, war das erste was Julian dachte. Aber das würde er Kai nicht sagen, weil er ihn nicht in die Ecke drängen wollte. Nicht schon wieder. Denn dann würde der Fluchtinstinkt wieder durchschlagen.
Sie sahen sich schweigend an. Julian wollte irgendetwas sagen. Irgendetwas unverfängliches. Aber ihm fiel beim besten Willen nichts ein, dass Kai nicht in den falschen Hals bekommen könnte. Julian hatte das Gefühl, dass Kai alles falsch verstand, was zurzeit seinen Mund verließ.
Kai wich seinem Blick für ein paar Sekunden aus, als würde er nach den richtigen Worten suchen.
»Ich denke, ich sollte langsam abhauen. Wir sind ja fertig für heute, oder?«
Julian bekam Panik, weil Kai recht hatte. Und wenn er wirklich mit ihm reden wollte, musste er jetzt langsam mal den Mund aufkriegen. Sonst würde Kai verschwinden und er hatte seine Chance ungenutzt verstreichen lassen.
»Kai ich-«
»Hey, was macht ihr beiden denn hier draußen? Die Party steigt in der Küche!«, unterbrach ihn Jannis in diesem Moment.
Julian warf seinem jüngeren Bruder über die Schulter hinweg einen mörderischen Blick zu. Sein Ernst jetzt? Erst provozierte er ein Gespräch und dann grätschte er dazwischen und versaute Julian seine Chance.
»Wir schnappen frische Luft. Stinkt voll nach Farbe da drinnen«, sagte Kai und zuckte mit den Schultern. »Und ich wollte jetzt so wieso abhauen. Oder braucht ihr meine Hilfe noch?«
Julian wollte nicht auf Jannis' Hilfe angewiesen sein. Aber sein kleiner Bruder war im Moment der Einzige, der Kai mit einem plausiblen Grund aufhalten konnte.
Julian versuchte Jannis mit einem Blick zu verstehen zu geben was er von ihm wollte. Aber Jannis beachtete ihn gar nicht. Und Julians Puls begann zu rasen.
»Wie du willst schon gehen? Ich dachte wir feiern unsere vorgezogene Einweihungsfeier zusammen! Kilian hat extra 'ne Luftmatratze und Wodka besorgt!«
Julian zweifelte daran, dass Kai sich davon aufhalten lassen würde. Er ließ die Schultern hängen, weil die aufkommende Hoffnungslosigkeit ihm die Körperspannung nahm, und senkte den Blick.
Deswegen bemerkte er nicht, dass Kais Augen für einem Moment auf ihm lagen, bevor er seufzte und sagte: »Okay du Blödmann, ich bleib'. Wo ist die Musik?«
Jannis lächelte, schlang Kai einen Arm um die Schulter und dirigierte ihn durchs Wohnzimmer zurück in Richtung Küche.
Julian atmete erleichtert aus, hielt die Luft aber gleich wieder an, nachdem Kai sich noch einmal zu ihm umdrehte und sich ihre Blicke kreuzten.
»Kommst du auch? Oder lässt du mich mit den beiden Spinnern alleine?«, fragte Kai.
Julian nickte. »Ich komm' gleich, gib' mir noch ein paar Minuten.«
»Okay Jule«, entgegnete Kai und schob dieses typische 1000 Watt Grinsen hinterher, bevor er aus Julians Sichtfeld verschwand.
Julians Knie wurden weich und er fragte sich ernsthaft, wie das weitergehen sollte.

Jannis' vorgezogene Einweihungsfeier entpuppte sich schlussendlich als ziemlich kurze Party. Weil der mittlere Brandt in der Rekordzeit von zweieinhalb Stunden fast fünf Bier getrunken hatte, kotzen musste und danach von Kilian ins Bett gebracht wurde.
Aber er hatte erreicht, dass Kai nicht mehr fahren konnte und Julian war sich sicher, dass er um diese Uhrzeit keine andere Möglichkeit mehr hatte, um irgendwie nach Dortmund zu kommen.
Deswegen ließen sich die beiden von Kilian die mitgebrachte Luftmatratze geben und verzogen sich ins Wohnzimmer.
Zum Glück besaß Kilian auch so eine altmodische Luftpumpe. Denn Julian würde den Teufel tun, dass riesen Ding mit dem Mund aufzupusten. Danach konnte man ihn guten Gewissens beerdigen, da war er sich sicher.
Julian schob die Luftmatratze direkt unter das Fenster, damit sie nachts wenigstens ein bisschen frische Luft schnappen konnten. Die ganze Wohnung war so stickig und es stank noch immer so sehr nach Farbe.
Julian war sich zwar ziemlich sicher, dass er neben Kai kein Auge zukriegen würde, aber er ließ sich gerne eines Besseren belehren.
Die Farbe auf ihren Maler-Klamotten war mittlerweile trocken und weil sie beide keine anderen Wechselklamotten dabeihatten, ließen sie die alten Sachen an, als sie unter ihre Decken krochen.
Die beklemmende Stille kehrte wieder zurück. Aber dieses Mal hatte Julian nicht das Gefühl etwas sagen zu müssen. Und auch nicht die Kraft dazu.
Und im Gegensatz zu seiner Erwartung, dauerte es keine fünf Minuten, bis der Schlaf Besitz von ihm ergriff und ihn auf einer traumlosen Wolke davontrug.



Bis zum Elfmeterpunkt | BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt