E I N S

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Der Elfmeter ist ein wichtiges Element im Fußball. Es ist der vermutlich einzige Augenblick, in dem das ganze Stadion auf zwei Spieler konzentriert ist. Für einen Moment blendet man alles aus. Fangesänge, Zurufe von der Trainerbank, den fokussierten Blick des gegnerischen Teams. Bis zu diesem Punkt muss viel passiert sein. Einen Elfmeter bekommt man nicht mal ebenso.
Allein mit dem Ball. Niemand, der einem helfen kann. Man setzt alles auf eine Karte, schon während man anläuft. Manchmal muss man seine Strategie im entscheidenden Moment noch einmal ändern und dann kommt doch alles ganz anders.
Klappt es und der Ball landet im Tor, hüpft einem vor Freude fast das Herz aus der Brust. Scheitert man, lastet die Enttäuschung des ganzen Teams auf einem und bricht über einen herein, wie ein Tsunami.
Mit der Liebe ist es irgendwann so, wie mit einem Elfmeter. Man kommt an einen Punkt, an dem man alles auf eine Karte setzt. Entweder dein gegenüber erwidert deine Gefühle, dann ist der Ball drin. Oder man bleibt allein mit seinem Herzklopfen, dann ist es, als würde der Ball hart am Pfosten abprallen.
Und vom Mittelpunkt bis zum Elfmeter ist es ein ziemlich weiter Weg, den man nicht immer gehen will. Denn manchmal weiß man einfach schon vorher, dass es nichts wird.



...

DU FRAGST MICH KIND, WAS LIEBE IST?

EIN STERN IN EINEM HAUFEN MIST.

- HEINRICH HEINE

...





Es war eine laue Sommernacht. Die Straßen in Dortmund leer. Alle Nachtschwärmer waren entweder noch in den Clubs unterwegs oder lagen schon zuhause in ihren Betten. Und dann gab es noch fünf Jungs, die durch die Straßen stolperten, sich gegenseitig anrempelten. Sie lachten und grölten, die Musik des Clubs hallte noch in ihren Ohren nach.
Eigentlich waren die vier Fußballspieler von ihnen keine Trinker. Vermutlich vertrugen sie deshalb auch kaum Alkohol und hatten bereits nach drei Cocktails einen Pegel erreicht, für den andere deutlich mehr intus haben mussten. Aber sie hatten eine Mission: Kai helfen. Denn dessen Freundin hatte plötzlich Schluss gemacht. Als er Mitch und Sam beim Training davon erzählt hatte, verkündete er selbstbewusst, dass er an ihrem trainingsfreien Wochenende unbedingt um die Häuser ziehen und richtig einen draufmachen wollte. Und so kam es, dass die drei sich am Freitagnachmittag in Kais Auto setzten und Julian in Dortmund einen kleinen Besuch abstatteten. Der staunte nicht schlecht, als er vom Training nachhause kam und vor seiner Tür von seinen alten Mannschaftskollegen abgefangen wurde.
Julian wusste am längsten von der Trennung. Kai hatte ihn keine halbe Stunde danach angerufen. Erst hatte er seine Ex-Freundin verflucht, weil er die Welt nicht mehr verstand. Danach hatte er Julian gefragt, was er getan hatte, um das zu verdienen. Und schlussendlich hat er geweint und Julian gedroht, ihn zu erschießen, wenn er jemandem davon erzählte. Dem Blonden tat sein bester Freund so leid, dass er am liebsten sofort nach Leverkusen gefahren wäre. Aber an besagtem Dienstag war der BVB gerade auf dem Weg nach Berlin, wo sie am Mittwoch ein Spiel hatten. Also hatten sie sich für das Wochenende verabredet. Doch von Mitch und Sam war am Telefon nicht die Rede gewesen und von feiern gehen auch nicht. Als Kai dann auch noch vorschlug, Julians Bruder Jannis einzuladen, dämmerte es dem Blonden langsam: Sein bester Freund brauchte Ablenkung, also scherte er eine Hand voll Menschen um sich, die ihn bespaßen sollten, bis die Trennung vergessen war.
Also gingen sie etwas essen und streunten dann ziellos durch die Clubs und Bars in der Dortmunder Innenstadt. Sie tranken eine ganze Menge Alkohol, Kai und Mitch am meisten Julian und Sam am wenigsten. Jannis wankte irgendwo in der Mitte. Mal grölte er mit durch die Nacht, mal schämte er sich für die Lautstärke von Kai und Mitch.
Jetzt hatten sie einstimmig beschlossen, genug zu haben und dabei war ihnen aufgefallen, dass sich keiner von ihnen um eine Schlafgelegenheit gekümmert hatte. Also beschlossen die Leverkusener, Julians Wohnung zu belagern.
Die neue Wohnung in Dortmund war kleiner als die in Leverkusen. Obwohl es hier angebracht gewesen wäre, hatte er auf ein Gästezimmer verzichtet. Dafür war die Dachterrasse so groß, dass man darauf ein Zelt aufbauen konnte, wenn man das wollte. Jannis sicherte sich nach einer kurzen Rangelei mit Mitch erfolgreich das Sofa. Und Sam beschloss nach ein paar unsicheren Blicken, dass er es sich auf dem Palletten-Sofa draußen gemütlich machen würde. Mitch folgte ihm, wegen des Mangels an Alternativen. Also blieb Kai nur der Platz neben Julian in dessen Bett.
Kai fand Julians Wohnung toll. Er mochte die zwei Ebenen und die Wendeltreppe, die mitten im Wohnzimmer ins Obergeschoß führte. Und das Schlafzimmer mit den Dachschrägen und dem großen Fenster, wo morgens immer die Sonne reinknallte.
Sie stießen sich auf dem Weg ins Bett jeder zwei Mal den Kopf. Als sie sich gleichzeitig auf die Matratze fallen ließen, sahen sich an und fingen an zu kichern, wie Teenager. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatten und als sie sich gegenseitig fragten, warum sie so gelacht hatten, bekamen sie beinahe den nächsten Lachkrampf, denn keiner von ihnen kannte eine Antwort.
Irgendwann schafften sie es, sich die Jeans auszuziehen und zum Kopfende hochzurutschen. Julian breitete seine Decke über sie beide aus und dann sahen sich einfach nur an. Schlagartig wieder hellwach, aber noch immer nicht nüchterner.
»Geht's dir jetzt ein bisschen besser?«, fragte Julian irgendwann.
Und er war erleichtert, als Kai sagte: »Ja.«
»Hast du nochmal mit ihr gesprochen?«
»Nein.«
»Nein, weil du den Grund nicht wissen willst oder nein, weil du die Wahrheit nicht erträgst?«, hakte Julian nach. Er wusste, es war eine unangenehme Frage. Aber wenn kein anderer die unangenehmen Fragen stellte, dann blieben sie meistens am besten Freund hängen. Und Freunde sind dazu da, um auch mal unangenehme Fragen zu stellen.
Kai schweigt einen ziemlich langen Moment. Irgendwann sagte er: »Ich kenne die Antwort, aber ich will sie nicht ausgesprochen hören!« Und er klingt schon wieder, als würde er gleich anfangen zu heulen.
Julian rutschte so nah an seinen besten Freund heran, dass sich Ihre nackten Knie berührten.
»Warum hat sie dich verlassen?«
»Aus demselben Grund wie du«, antwortete Kai flüsternd.
Julian zog die Stirn kraus und rutschte wieder ein Stück nach hinten. Es dauerte eine Weile, bis ihn in seinem vernebelten Gehirn dämmerte, was Kai meinte.
»Wie kannst du das denn miteinander vergleichen? Das hat doch überhaupt nichts miteinander zu tun!«
»Du wolltest dich verbessern und hast deswegen den Verein gewechselt und sie wollte, dass ich aufhöre zu spielen. Für mich ist das so ziemlich dasselbe!«
Julian wollte die ernste Situation eigentlich nicht ins lächerliche ziehen, aber Kais Aussage war so absurd, dass er doch anfing zu lachen. Kai verzog beleidigt das Gesicht, bevor er sich auf die andere Seite drehte und das Gesicht von Julian abwandte. Des Blonden Lachens erstarb urplötzlich. Schuldbewusst rutschte er wieder an seinen besten Freund heran. Er bohrte ihm einen Finger in den Rücken.
»Bist du jetzt sauer?«, erkundigte er sich. Und Kai antwortete nicht.
Er pikste ihm nochmal in den Rücken. »Tut mir leid. Ich verstehe dich.« - Julian gluckste - »Deine Vergleiche sind trotzdem scheiße!«
»Genauso wie deine Balltechnik!«, murmelte Kai nach ein paar Sekunden.
»Was hast du da gesagt?« - Julian klappte vor Empörung die Kinnlade herunter.
Kai drehte sich wieder zu seinem besten Freund um und funkelte ihn herausfordernd an. »Dass deine Balltechnik scheiße ist!«
»Na warte!«, kreischte Julian und stürzte sich auf seinen besten Freund, um ihn durch zu kitzeln. Es war ihnen egal, dass sie mit ihrem Geschrei den Rest der Übernachtungsgäste wecken könnten. Julian fand, dass hatten sie schon viel zulange nicht mehr gemacht. Einfach nur herumgealbert.
Sie rangelten, rollten sich über das Bett. Kai gelang es viel zu oft Julian zu überwältigen. Und irgendwann war dem Blonden zu schwindelig, um weiterzumachen. Er blieb unter Kai liegen, der seine Arme links und rechts neben Julians Kopf auf der Matratze festpinnte.
Ein überlegenes Grinsen zierte Kais Mund. »Ich hab' gewonnen. Sogar darin bin ich besser als du!«
»Vielleicht habe ich dich auch einfach gewinnen lassen, damit du dich besser fühlst!«, entgegnete Julian selbstbewusst und mit einem frechen Grinsen im Gesicht.
»Du Arschloch!« - »Gleichfalls!«
Die Rangelei war offensichtlich vorbei und dennoch hockte Kai noch immer auf Julian und hielt seine Handgelenke fest. Und er machte keine Anstalten, seinen Posten aufzugeben.
»Ich hab' dich vermisst«, murmelte Kai nach ein paar Sekunden der Regungslosigkeit und meinte es wirklich ernst. Seit sie nicht mehr im gleichen Verein spielten, sahen sie sich viel zu selten. Oder dann viel zu kurz.
»Ich dich auch!« - Julian meinte es noch viel ernster als Kai. Sein bester Freund fehlte in Dortmund jeden Tag.
»Mit dir ist alles so einfach Jule.«
Was danach passierte, überraschte Julian und schockierte ihn. Vor allem, weil er nicht wusste, wie Kai auf die Idee kam ihn zu küssen. Er hatte bemerkt, dass sich die Luft um sie herum aufgeheizt hatte und das sich nach ihrer Rangelei irgendetwas zwischen ihnen verändert hatte. Aber er schob es konsequent auf den Alkohol, von dem sie beide reichlich getrunken hatten.
Und das unglaubliche Gefühl von Kais Lippen auf seinen, schob er darauf, dass Kai verletzt und betrunken war und die Sehnsucht nach Nähe ihn übermannt hatte.
Er sollte das beenden. Wenn sie weitergingen, könnte das vielleicht ihre Freundschaft zerstören. Julian wusste das. Aber er hatte verdammt lange niemanden mehr geküsst und Kai küsste zu gut, um einfach aufzuhören.
Kai ließ Julians Arme los und vergrub seine Hände in den blonden Haaren. Er presste sich gegen Julian und ihre Unterleiber rieben aneinander. Die Welle der Erregung trieb sie dazu ihre Lippen für einen Moment von denen des anderen zu lösen. Kai lehnte seine Stirn gegen Julians und beide keuchten atemlos.
Sie sahen sich lange an und tauchten mit ihren Augen tief in die des anderen ein, stellten sich stumm eine Millionen Fragen. Ob es richtig war, gut war. Ob sie weitermachen sollten, weitermachen konnten. Was das aus ihnen machte oder ob es gar nichts aus ihnen machte. Würden sie danach noch Freunde sein können und sich so nahestehen können? Oder würde sie diese Nacht entzweien?
Keiner von ihnen kannte die Antworten auf diese Fragen. Weder die richtigen noch die falschen. Aber sie wussten beide, dass der Alkohol ihnen das Gefühl vorgaukelte, dass sie die Lippen des anderen brauchten. Für diesen Moment waren sie süchtig danach. Und morgen würden sie sich schämen.
Im Hinterkopf speicherte Julian den Gedanken ab, dass sie morgen darüber reden mussten. Er war der Ältere, er trug die Verantwortung. Außerdem war er nicht so betrunken wie Kai. Und es war schon zu viel passiert, um das einfach stillschweigend an ihnen vorbeiziehen zu lassen.
»Darf ich dich nochmal küssen?« - Kais Stimme klang so leise, als wären seine Stimmbänder entzündet und gleichzeitig so verzweifelt, als würde er alles dafür geben, wieder etwas fühlen zu können. Und als könnte er dieses Etwas jetzt von Julian bekommen.
Julian kam der Gedanke, dass Kai ihn nicht um seinen Willen wollte. Sondern weil er verletzt war und sich etwas beweisen wollte. Den Alkohol, den er getrunken hatte, durfte man auch nicht vergessen! Julian sollte sich nicht von seinem Körper überwältigen lassen, der ihm hier eine einmalige Chance aufzeigte, die eigentlich gar nicht da war. Ja, er war seit langer Zeit alleine und von One-Night-Stands hielt er nichts, deswegen war er auch schon seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr auf seine Kosten gekommen. Aber deswegen mit seinem besten Freund schlafen? Etwas dümmeres konnten sie gar nicht tun. Das ging viel zu weit über das übliche Herumexperimentieren oder zusammen wichsen hinaus. Julian fiel absolut keine Rechtfertigung für ihr Handeln ein. Aber als er Kais glasige Augen im Licht der aufgehenden Sonne wahrnahm, wusste er, dass er ihm auch diesen Wunsch nicht abschlagen konnte. Selbst, wenn das ihre Freundschaft zerstören würde. Für Kai würde Julian alles tun.
»Küss mich nochmal«, murmelte Julian heiser und zog Kai im selben Moment zu seinen Lippen hinab.
Doch dieses Mal blieben seine Hände nicht untätig neben seinem Kopf liegen. Er legte sie an Kais Hüften und von dort aus suchten sie sich von ganz alleine ihren Weg unter dem lockeren T-Shirt. Während Kai ihn besinnungslos küsste, schaffte Julian es, sich über dessen Seiten bis hin zur Brust vorzutasten. Er schob sie über die weiche, frisch rasierte Haut und rieb über Kais Nippel, machte ihn mit diesen Berührungen fast verrückt. Kai zog keuchend an Julians Unterlippe und schob sein Unterleib noch etwas mehr nach vorne. Julian keuchte in Kais Mund. Kai richtete sich auf und zog Julian am T-Shirt mit sich nach oben. Es war eine komische Position für Kai, denn er ist ohnehin etwas größer als Julian und musste sich jetzt, wo er auf seinem Schoß saß noch ein Stück weiter zu ihm hinabbeugen. Aber dafür bekamen sie beide so eine bessere Gelegenheit dazu, sich gegenseitig die Shirts über den Kopf zu ziehen.
Die aufgehende Sonne tauchte das Zimmer und ihre Körper in ein rotgoldenes Licht und Julian konnte den Oberkörper, den er schon gefühlte Millionen Mal unter der Dusche gesehen hatte, endlich anfassen und erkunden. Mit Fingern, Zähnen, Zunge.
Julian beschloss sein Gehirn auszuschalten. Sie waren schon viel zu weit gegangen, um das rückgängig zu machen. Und wenn er schon die Gelegenheit dazu bekam, wollte er dieses Erlebnis für sie beide so besonders machen, wie es eh schon war.
Selbstsicher stieß er Kai auf das Bett und kletterte nun über ihn. Er küsste sich vom Bauchnabel bis zu seinem Mund nach oben und sah ihm dann ganz tief in die Augen, bat stumm um Erlaubnis, weitermachen zu dürfen.
Bis Kai endlich nickte vergangen schier endlose Sekunden, doch als es soweit war, bestanden keine Zweifel mehr – und vor allem gab es kein Halten mehr, für keinen von ihnen! Es war, als gäbe es da eine Menge ungeklärter Dinge zwischen ihnen, derer sie sich gerade entledigten.



Bis zum Elfmeterpunkt | BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt