N E U N

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Julian schlief in dieser Nacht nicht mehr. Er stillte seinen knurrenden Magen mit Toast und Frischkäse. Danach kochte er abwechselnd Kaffee und Tee und trank so viel davon, bis er deutlich zu viel Koffein im Blut hatte und ihm schlecht war.
Er setzte sich auf seine Dachterrasse und wartete darauf, dass es wieder hell wurde. Als er merkte, dass die einkehrende Erschöpfung nicht mal vom Koffein besiegt werden konnte, legte er sich aufs Sofa und stellte sich vorsichtshalber einen Wecker. Dann kuschelte er sich in das Kissen, welches am wenigsten nach Kai roch und schloss die Augen, riss sie aber sofort wieder auf, als sein Unterbewusstsein ihm Bilder von Kai vorhielt.
Sein Wecker klingelte um fünf. Er ging duschen und trank noch einen Kaffee, bis er sich kurz vor sechs ins Auto setzte und die Fahrt nach Bremen antrat.

Julian hatte seinen Eltern ein Haus gekauft. Ein großes, modernes. So eins hatte sich seine Mutter schon immer gewünscht. Seine Familie liebte es, weil sie alle viel Zeit dort zusammen verbracht hatten. Julian würde sich dort nie wirklich zuhause fühlen. Es gab zwar ein Zimmer, in dem seine alten Möbel standen. Aber es war eben nicht sein Zimmer. An diesen vier Wänden hingen keine Erinnerungen an seine Kindheit. Deswegen bereute er den Hauskauf manchmal. Aber das behielt er für sich. Er wollte seiner Mutter kein schlechtes Gewissen machen.
In der Neubausiedlung waren Parkplätze Mangelware. Es gab zwar breite Spielstraßen und lange Einbuchtungen, aber die waren alle bereits besetzt. Und Jannis blockierte mit seinem Auto den dritten freien Platz unter dem Carport.
Julian musste mit seiner Reisetasche und einem flauen Gefühl im Bauch eine ziemlich weite Strecke zurücklegen, bevor er vor der Haustür seiner Eltern stand. Er besaß einen Schlüssel und bemühte sich darum, keinen Krach zu machen, als er sich im Flur Schuhe und Jacke auszog.
Doch als er sich umdrehte, stand seine Mutter im Bademantel in der Tür zur Küche und sah ihn an, als hielte sie ihn für eine Einbildung.
Sie blinzelte verwirrt. »Also das ist definitiv ein ganz neues Level an Unpünktlichkeit, selbst für deine Verhältnisse. Wolltest du nicht gestern Abend schon hier sein? Oder hab' ich was falsch verstanden?« - Julian konnte nicht richtig einordnen, ob sie belustigt oder angefressen war.
»Sorry, mir ist etwas dazwischengekommen«, murmelte er und platzierte sein Cap auf der Hutablage der Garderobe.
»Du hättest dich ja wenigstens mal melden können! Dein Vater wollte schon eine Vermisstenmeldung aufgeben!«
Julian kniff die Augen zusammen. Seine Mutter war angefressen!
»Tut mir leid Mama, kommt nicht wieder vor«, sagte er und bemühte sich um einen reuevollen Ton. Das hatte er als Kind schon besser gekonnt als seine beiden Brüder. Ihm hatten die Eltern das immer abgekauft.
Seine Mutter tat für ein paar Sekunden gar nichts aus und Julian wurde schon beinahe nervös. Doch dann verdrehte sie die Augen und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel danach.
»Willst du auch einen Kaffee?«
Julian schüttelte hektisch den Kopf. Bei dem Gedanken an noch mehr Kaffee, drehte sich ihm der Magen um. Von dem Zeug wollte er jetzt erstmal ein paar Tage nichts mehr wissen. Obwohl ihn spätestens morgen die Macht der Gewohnheit wieder einholen würde.
Für einen kurzen Moment sah man seiner Mutter an, dass sie sich über das merkwürdige Verhalten Ihres Sohnes wunderte. Aber sie sagte nichts dazu.
»Lieber Tee? Jannis hat gestern beim Einkaufen einen ganzen Vorrat zusammengetragen.«
Am liebsten würde Julian schlafen. Er war plötzlich so müde, dass er ohne Probleme zwei Tage durchschlafen könnte. Es fiel ihm schwer sich auf seine Mutter zu konzentrieren.
»Tee klingt gut«, murmelte er aber, weil er seine Mutter nicht enttäuschen wollte, und folgte ihr in die Küche.
Seine Eltern sah er viel zu selten. Und manche Gelegenheiten hatte er bewusst ausgelassen. Meistens, weil er mit Kai verabredet gewesen war. Dann hatte seine Mutter immer so traurig am Telefon geklungen. Danach schrieb er meistens nur noch, wenn er es mal wieder nicht nachhause schaffte. Anrufen traute er sich nicht mehr. Weil er das schlechte Gewissen nicht ertrug.
Die Küche war wie ein U in den quadratischen Raum eingelassen. In der Mitte stand ein runder Esstisch, an dem vier Stühle standen und an der freien Wand hingen unzählige Familienfotos.
Julian ließ sich auf einem der Stühle nieder. Seine Mutter schien schon eine Weile wach zu sein. Ihr Tablet lag auf dem Tisch und daneben ein Stapel Werbeprospekte für nächste Woche.
»Was willst du denn für einen Tee? Türkischer Apfel, Pfefferminz oder« - sie stockte und runzelte die Stirn - »Italienische Zitrone mit Honig?«
»Das letzte«, antwortete Julian und zog eins der Werbeprospekte zu sich hinüber.
Während der Wasserkocher vor sich hin brodelte, setzte seine Mutter auch neuen Kaffee auf und räumte die Spülmaschine ein.
»Jascha hat heute ein Freundschaftsspiel, quasi als Abschluss der Saison. Er würde sich bestimmt freuen, wenn du mitfährst!« - das Klappern der Teller und Tassen hörte sich in Julians Ohren an wie eine Explosion - »Er hat sich wirklich gut geschlagen, in diesem Jahr!«
Julian bekam Kopfschmerzen und ihm wurde schlecht.
»Ich muss mal kurz auf Klo«, presste er mühevoll heraus, sprang auf und suchte die Gästetoilette direkt neben der Haustür auf.
Er schaffte es nicht mal die Tür abzuschließen, da wollte es schon aus ihm heraus. Julian kam der Gedanke, dass es ungesund war, so viel zu kotzen, aber was sollte er schon dagegen tun? Sich dagegen wehren war bestimmt noch viel ungesünder.
Er spülte seinen Mageninhalt hinunter und lehnte sich dann haltsuchend gegen die Wand. Ihm war zwar nicht mehr übel, dafür fühlten sich seine Beine schon wieder nach Waldmeister-Wackelpudding an. Julian starrte die LED-Spots in der weißgestrichenen Decke an, als könnten sie ihm Antworten auf seine Fragen liefern. Aber natürlich konnten sie das nicht.
Ein paar ruhige Minuten vergingen, dann hörte er plötzlich Schritte im Flur. Ruckartig stand er auf, spülte sich den Mund aus und wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser. Dann lehnte er sich mit dem Rücken gegen das Waschbecken und wartete darauf, dass seine Mutter anklopfte und fragte, wo er so lange blieb. Doch nichts dergleichen geschah.
Julian schloss die Augen und versuchte mit tiefen, langen Atemzügen seinen aufgekratzten Puls zu beruhigen, bevor er das Badezimmer wieder verließ und in die Küche zurückkehrte.
Sein Vater hockte jetzt auch am Esstisch und sah ihn überrascht an.
»Ach nein, der verlorene Sohn ist heimgekehrt!«, begrüßte er ihn. »Hast du dich auf dem Weg hierher verfahren oder hast du verschlafen?«
»Mir ist etwas dazwischengekommen«, murmelte Julian schuldbewusst und angelte sich seine Tasse Tee vom Küchentresen.
»Ah ja«, sagte sein Vater vielsagend und grinste verschmitzt in seine Kaffeetasse.
Julian ahnte in welche Richtung seine Vermutung ging und wollte deswegen nicht weiter darauf eingehen. Denn es war die falsche. Zu mindestens ein Teil davon.
Aber sein Vater hatte noch nicht genug. »Wirst du uns dieses etwas vorstellen oder erfahren wir alles im Internet?«
Julian verkrampfte die Finger um seine Tasse. Er konnte seine Eltern glauben lassen, dass es ihm gut ging, obwohl er innerlich vor Wut schrie. Dafür brauchte er in der Regel nur zwei gut einstudierte Gesichtsausdrücke auflegen. Aber sie anzulügen, so richtig mit Worten, darin war er wirklich grottig. Seine Lügen hatten nicht nur kurze Beine, sondern gar keine. Das konnte er schon als Kind nicht. Im entschuldigen und Reue zeigen war er besser.
»Es ist kompliziert«, murmelte Julian mit gesenktem Blick.
»Kompliziert heißt nicht unmöglich!«, mischte sich nun seine Mutter ein. Sie hatte und würde nie zulassen, dass ihre Söhne irgendetwas kampflos aufgaben. Das war manchmal eine große Stütze, manchmal eine große Last.
Julian ignorierte den Kommentar seiner Mutter und setzte sich neben seinen Vater.
»Mama hat gesagt, Jascha hat heute ein Spiel; wann denn?«, fragte er und bemühte sich, möglichst interessiert zu klingen.
Julians Vater blätterte gelangweilt durch ein Supermarkt Prospekt. »Um eins ist Anstoß, um zwölf muss er da sein. Fährst du mit? Jannis will auch mitfahren.«
Die Aussicht, zwei Stunden zwischen Jannis und seinem Vater am Spielfeldrand in der prallen Sonne zu stehen, war nicht gerade verlockend.
Andererseits wäre das eine gute Gelegenheit, Frieden mit Jannis zu schließen. Der hatte sich nämlich in den vergangenen Tagen kein einziges Mal gemeldet, also schien er immer noch sauer zu sein. Genauso wie Jascha.
»Mal sehen«, murmelte Julian und leerte seine Tasse in einem großen Schluck.
Dann stand er auf. »Ich werd' mal meine Tasche nach oben bringen«, sagte er.
»Aber mach' nicht zu lange, in einer halben Stunde gibt's Frühstück. Kannst die beiden Langschläfer gleich mitbringen!«, informierte ihn seine Mutter.
Julian erschauerte. Jannis und Jascha waren nur Frühaufsteher, wenn sie Alkohol getrunken hatten. Ansonsten hatten sie morgens ähnlich schlechte Laune wie er. Julian würde sich eher beide Beine ausreißen, bevor er in die Höhle des Löwen oder den Pumakäfig ging.
»Mach' du das mal lieber, sonst hast du danach nur noch zwei Söhne«, entgegnete er unsicher.
Seine Mutter verdrehte genervt die Augen. »Du bist ein Spinner!«
Julian holte seine Tasche aus dem Flur und stieg die Treppe nach oben, ging vorbei an Jaschas und Jannis' Zimmer und betrat „sein" Zimmer. Seine Mutter hatte die Möbel irgendwie hingestellt. Im alten Haus waren die Wände voller Poster und Familienfotos gewesen. Hier waren sie kahl und weiß. Viele persönlichen Dinge hatte er mit nach Wolfsburg und von dort aus mit nach Leverkusen genommen. Was er zurückgelassen hatte, stand in Umzugskartons verpackt unter dem Schreibtisch, beschriftet mit seinem Namen. Seine heißgeliebte Werder-Bremen-Bettwäsche wurde gegen simple rot-weiß-karierte ausgetauscht und die Trophäen und Medaillen aus seiner Jugend standen unsortiert auf dem Schreibtisch herum.
Julian stellte seine Tasche auf dem Bett ab und legte Handy, Brieftasche und Schlüssel auf dem Nachttisch ab.
Auch wenn er sich hier nicht zuhause fühlte, war er trotzdem in Sicherheit. Julian merkte, wie die Anspannung von ihm abfiel und die Müdigkeit immer präsenter wurde. Wie in Trance sank er auf sein Bett, den Oberkörper gegen die Wand gelehnt und schlief keine drei Minuten später ein.



Bis zum Elfmeterpunkt | BravertzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt