22. Das Gefängnis

1K 91 6
                                    

The Child who is not embraced by the village, will burn it down to feel its warmth (African provers)

Sie hatte keine Wahl. Hutter gab ihr keine Wahl. Wie ein Mantra wiederholte sie diese Worte in ihrem Verstand und hoffte sich dadurch Mut machen zu können.

Der Fototermin hatte ihr den Rest gegeben, sie war am Ende ihrer Kräfte und hörte Milos Worte in einer endlosschleife. Zusammen wären sie stark genug, um weg zu gehen. Weit weg. Sie könnten frei sein. Endlich frei. Zitternd stand sie vor ihrem Kleiderschrank und suchte nach den dunkelsten Klamotten, die sie finden konnte.

Der Plan sah Verstohlenheit vor. Ihren grummelnden Magen und die im Sekundentakt fließenden Tränen ignorierend zog sie sich eine dunkelblaue Hose und einen passenden Pullover an. Die Nacht würde sie kalt empfangen und sie musste bereit sein. William schlief nicht, sie konnte es spüren. Seine Zimmertür war zwar zu aber sie konnte seinen unruhigen Verstand brodeln fühlen. Auch er war zutiefst erschüttert über die vergangenen Ereignisse.

Ava vermutete, dass ihm die Machtlosigkeit seiner Position nun endgültig in die Knochen gefahren war. Er war hilflos genau wie sie. Aber wenn sie Milo an ihrer Seite hätte, sehe ihr Leben anders aus. Ganz sicher. Dominik war schon vor einer Weile ausgegangen und nicht wieder zurückgekommen. Sein Verbleib war nur ein flüchtiger Gedanke.

Sie wollte diesen Mann nie wieder sehen. Vielleicht waren seine Handlungen nicht von bösen Absichten gelenkt, ihre Konsequenzen waren jedoch für sie untragbar. Egal was nach dieser Nacht passieren würde, sie wollte Dominik nicht mehr in ihrem Leben wissen. William dagegen...schnell schüttelte sie den Kopf. Daran konnte sie nicht denken.

Milo war ihr Ziel, nichts anderes durfte von Bedeutung sein. In der Stille der Nacht öffnete sie ihre Balkontür und ließ sich die zwei Stockwerke nach unten fallen. Telekinetisch federte sie ihren Fall ab und kam leichtfüßig auf der menschleeren Seitengasse zum Stehen. Der sichelförmige Mond beschien nur wenig von ihrer Umgebung und den Straßenlaternen folgend lief sie zu einem Taxistand. Nur ein einziges Fahrzeug wartete dort, zusammen mit seinem rauchenden Fahrer.

Der ältere Mann sah sie verwirrt an, doch durch einen kleinen Hauch Telepathie glaubte er jemand anderes vor sich zu haben als die berühmte Ava Park.

"Grüß Gott, Fräulein. Wohin seus gehen?", fragte er in einem tiefen Wiener Dialekt und lächelte sie höflich an.

"Viktor-Adler-Straße 18.", erklärte sie schüchtern. Näher als diese Straße würde sie an Milos Gefängnis nicht kommen. Den Rest des Weges würde sie zu Fuß zurücklegen müssen. Der Taxifahrer öffnete ihr die Tür zur Rückbank und schmiss seine Zigarette weg.

"Ka Problem. Moch i do gern für so a liabs Madl." Ohne weitere Worte stieg er ein und fuhr mit seinem Fahrgast los. Ava sah nervös aus dem Fenster. Sie hatte einen Plan, aber ob der wirklich gut war, würde sich zeigen.

Ihr Vorhaben hingen stark von den geerbten allerdings ungeschulten Fähigkeiten ab. Ohne sie würde sie sehr bald neben Milo liegen, aber zumindest würde sie sagen können, dass sie für ihre Freiheit gekämpft hatte, dass sie es versucht hatte. Die Welt zog an ihr vorbei, beruhigte ihr rasendes Herz langsam. Es war die Ruhe vor dem Sturm.

"Wos mocht so a liabs Madl um die Zeit no draußen. Is ned scho fü zu spät?" Ava schüttelte kleinlaut den Kopf. "Ich muss meinen Bruder sehen. Es ist wichtig. Geht sozusagen um Leben und Tod."

"Na dann steig i a bissl aufs Gas, abgemacht?" Und tatsächlich wurde das Auto schneller. Dankbar lächelte sie den Mann an. Es dauerte nicht lange, bis er das Fahrzeug zum Stehen brachte und sich zu Ava umdrehte.

"Da simma. Das wär a zwanziger, gnädigste." Ava besaß kein Bargeld. Sie hatte nie eines besessen. Wenn sie etwas brauchte, wurde das Online bestellt, um so den Kontakt mit Menschen zu vermeiden und ihre Ausgaben kontrollieren zu können. Bargeld brachte eine Autonomie, die die Regierung stets verachtet hatte.

Erbsünde  #Wattys2021Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt