Chapitre 20 ✔

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Am nächsten Tag bin ich zurück im Camp. Papa, Maman, Bernard und Chalice begleiten mich. Im Speiseraum führen sie ein langes Gespräch mit Monsieur Vincent, Madame Bonnet und einem ziemlich verwahrlost aussehenden Mann namens Guillaume, der wohl so etwas wie der hiesige Hausmeister ist und dem man ansieht, dass er die meiste Zeit in Wolfsgestalt verbringt.

»Ich kann einfach nicht verstehen, wieso das passiert ist«, stöhnt Madame Bonnet, die so angespannt auf der Stuhlkante sitzt, als wollte sie jederzeit aufspringen. »Die Gesetze der Winterwanderung sind heilig. Wer würde es wagen, dagegen zu verstoßen?«

»Nun, das wird sich bestimmt bald zeigen«, erwidert mein Vater, dem es wunderbar gelingt, Ernsthaftigkeit und Ruhe zu verkörpern.

Beim Frühstück hat er meine Drohung aus der vergangenen Nacht mit keinem Wort erwähnt. Vielleicht will er die ganze Angelegenheit einfach totschweigen, was mir zugegebenermaßen vorläufig nicht unrecht wäre. Ich habe noch immer keine Lust, mein vorherbestimmtes Schicksal anzunehmen, aber seit Bernards Offenbarung ist das alles unbedeutend geworden.

»Zunächst einmal ist es wichtig, dass wir vorbeugende Maßnahmen treffen, damit so etwas nicht noch einmal geschieht.«

Monsieur Vincent beobachtet Bernard, der am Fenster steht und auf die schneebedeckten Wiesen hinaussieht. »Sie meinen, Wachposten?«

»Vorerst«, antwortet mein Vater. »Einige meiner Wölfe sind noch in der Nacht hier eingetroffen und patrouillieren jetzt das Gebiet.«

Ich frage mich, ob Mathéo auch gekommen ist, aber dann verwerfe ich den Gedanken wieder. In Vaters und Bernards Abwesenheit muss er sämtliche Alpha-Aufgaben übernehmen und wird in Paris gebraucht.

Mein Blick fällt auf Bernard, der mir den Rücken zugekehrt hat. Seine Worte aus der letzten Nacht schwirren mir noch immer im Kopf herum. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, was ich empfände, wenn mein Rudel ermordet worden wäre und ich plötzlich die Chance vor mir sähe, die Mörder zu fassen und Rache zu üben. Gleichzeitig macht mir der Gedanke, die Täter könnten irgendwo ganz in der Nähe sein, große Angst. Wer schon einmal ein komplettes Rudel ausgelöscht hat, schreckt sicher nicht vor einem weiteren Massenmord zurück.

»Sieh mal, ma puce«, sagt Maman und deutet auf die Bilder an den Wänden. Es sind alles billige 70er-Jahre-Kunstdrucke unbekannter Werke. Kitschige Darstellungen mythologischer Wölfe vor einem kreisrunden, viel zu großen Mond, die genauso gut an den Wänden von Kinderzimmern hängen könnten, aber leider auch bei vielen Werwölfen gut ankommen. »Es sieht alles noch so aus wie früher.«

Ich spitze spöttisch die Lippen. »Jetzt sag nicht, du und Papa habt euch hier kennengelernt?«

»Haben wir dir das nicht erzählt?«, erwidert Maman überrascht. Sie legt beide Hände um meine Schultern und zieht mich enger zu sich. Ihre zierlichen, goldenen Cartier-Armbänder klimpern und ich werde von einer angenehm duftenden Parfümwolke eingehüllt. »Das war eine verrückte Zeit damals.«

Irgendwie kann und mag ich mir nicht vorstellen, dass meine Mutter mal in der gleichen Situation gewesen ist wie ich. Ich kenne alte Fotos von ihr und weiß, dass sie ein atemberaubend gut aussehendes Mädchen und ein nicht weniger schöner Wolf gewesen ist. Natürlich ist sie das immer noch, nur eben einige Jahre älter.

Auch mein Vater war früher schon ein ganz ansehnlicher Junge. Groß und breitschultrig, mit dunklem Haar, noch ohne Bart, aber dafür mit aufmerksamen, freundlich wirkenden Augen.

Ich hätte es verstehen können, wenn sich die beiden auch ganz ohne Seelenbund ineinander verliebt hätten. Doch natürlich weiß ich, dass die beiden vom Schicksal zusammengeführt wurden, auch wenn Bernard die Seelenverwandtschaft anzweifelt. Es sind Kleinigkeiten, die das verraten. Zum Beispiel die Art, wie sie sich ansehen und immer ganz genau zu wissen scheinen, was der andere denkt und fühlt.

Im Hintergrund höre ich, wie sich mein Vater mit Monsieur Vincent darauf einigt, dass seine Wölfe das Gebiet patrouillieren, bis die Sigillen repariert und der magische Schutz des Areals wiederhergestellt ist.

Guillaume ist derjenige, dem diese ehrenvolle Aufgabe zufällt, auch wenn er aussieht, als könnte er kaum einen simplen Satz formulieren. Mit seinem verwilderten Bart, den trüben Augen und dem geistlos offen stehenden Mund wirkt er ein klein wenig debil, was durchaus nicht ungewöhnlich ist für Werwölfe, die nie so recht gelernt haben, Mensch zu sein.

Chalice, die sich bis dahin mit den bunten Duftkerzen im Flur befasst hat, betritt den Raum und sucht Bernards Nähe. Etwas widerwillig lässt er es zu, dass sie sich bei ihm unterhakt. Sie ignoriert seinen offensichtlichen Unwillen und legt den Kopf gegen seine Schulter. Auch wenn sie und Bernard nicht seelenverwandt sind, muss sie spüren, dass er heute noch düsterer dreinschaut und wortkarger ist als sonst.

Nachdem die Gespräche abgeschlossen sind und reihum Hände geschüttelt wurden, brechen meine Eltern und Chalice auf.

Ich umarme alle fest und verspreche, in Zukunft vorsichtiger zu sein und mehr auf meine Nase zu hören – auch wenn es ja im Grunde meine verkorkste Nase war, die mich überhaupt erst in Schwierigkeiten gebracht hat.

Dann sehen Bernard und ich dem Mercedes nach, wie er sich über die lange Zufahrt entfernt. Guillaume fegt auf seinem Schneemobil hinterher, um meinem Vater das Tor zu öffnen.

»Nun denn«, seufzt Bernard.

Ich fasse die Riemen meines Rucksacks, sehe zu ihm auf und kann mir ein freches Grinsen nicht verkneifen. »Du schnappst dir die Mörder und ich mir meinen Mate?«

Bernard sieht aus, als wollte er mir eine Kopfnuss verpassen. »Keine Ausflüge mehr. Du bleibst in meiner Nähe.«

»Ist ja nicht so, als hätte ich mir dieses dumme Spiel ausgedacht«, erwidere ich.

»Ich rede von der Stadt«, gibt Bernard zurück. »Du wirst dich von der Stadt und ihren Einwohnern fernhalten.«

»Klar doch«, antworte ich und zwinge mich zu einem hoffentlich vertrauenswürdigen Lächeln.

Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, Bernard könnte durch mich hindurchsehen – direkt in meine Gedanken. Denn natürlich habe ich nicht vor, mich von der Stadt und ihren Einwohnern fernzuhalten.

Andererseits ist Henri streng genommen gar kein Einwohner. Er stammt schließlich aus Marseille.

Außerdem gebietet es die Höflichkeit, dass ich ihm die Sachen seiner Oma zurückbringe und mich noch einmal in aller Form für den nächtlichen Überfall entschuldige. Ich muss nur eine günstige Gelegenheit abpassen, um mich in die Stadt zu schleichen, ohne mich in Gefahr zu begeben.

Doch zuerst einmal muss ich den Winterwölfen unter die Augen treten. Schon allein der Gedanke, die jungen Rüden zu treffen, macht mich schrecklich nervös.

Mon Loup: Mein WinterwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt