Chapitre 80

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"Papa, warte!"

Mein Vater geht noch ein paar Schritte, bis zu den Mülltonnen, die sich an der Backsteinmauer zum Nachbargrundstück aufreihen und einen unangenehmen Geruch verströmen, und bleibt dann stehen. Aus seiner Körperhaltung wird deutlich, dass er keinerlei Interesse an einer Unterhaltung hat, und normalerweise käme ich nie auf die Idee, mich meinem Vater und Alpha aufzudrängen, aber das ist mir unter diesen Umständen herzlich egal.

"Muss es jetzt sein, Chloé?", fragt Papa, als ich bei ihm ankomme.

"Ja, muss es", antworte ich und ignoriere Le Capitaine, der auf eine randvolle Blechtonne springt und mich anfaucht. "Mir gefällt das auch nicht", setze ich nach. "Und wenn ich es totschweigen könnte, würde ich es tun, aber das ist im Moment keine Option."

Papa stemmt die Hände in die Taille, die in den letzten Jahren immer umfangreicher geworden ist, und lässt seinen Blick über die Umgebung schweifen.

Der Himmel ist bewölkt, doch in einiger Entfernung hat die Wolkendecke einen länglichen Riss bekommen. Das hindurchbrechende Sonnenlicht scheint sich in mehrere, klar voneinander abgrenzbare Strahlen aufzufächern, die sanft über die feucht glänzenden Hausdächer von Poussant streichen. Der malerische Anblick führt mir vor Augen, dass ich schon lange nichts mehr gezeichnet habe. Als ich Paris verlassen habe, war mir bewusst, dass ich in den folgenden zwei Wochen meiner Kindheit Lebewohl sagen würde, aber dass es so abrupt geschehen und alle Bereiche meines Lebens aufrütteln würde, habe ich nicht erwartet.

Papas Blick kehrt zu mir zurück. Ein Muskel in seinem Gesicht zuckt. Dann scheint er sich geschlagen zu geben. "Chloé... Wir wussten wirklich nicht, dass Guy dahintersteckt. Dass er es war, der Bernards Familie ausgelöscht hat. Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir dich niemals ins Wintercamp geschickt."

Ich verschränke die Arme vor dem Körper und krame in meinem Kopf nach einer guten Erwiderung. Alles in mir sehnt sich danach, wieder die kleine Chloé sein zu können, die bei jeder Gefahr auf Papas Schoß gekrabbelt ist. Die wusste, dass alles gut werden wird, solange Papa in Reichweite ist und mit seinen goldenen Wolfsaugen über sie wacht. Doch diese Zeit ist vorbei. Die süßen Kindheitstage, in denen meine Chemie-Note und meine kleine Fehde mit der Klassenzicke Clemence meine größten Sorgen waren, sind endgültig vorüber.

Schlagartig wird mir klar, dass es ab jetzt immer so weitergehen wird. Die Zeit wird mir im Nacken sitzen und die Gegenwart unter meinen Pfoten in Vergangenheit verwandeln. Lang gehegte Träume werden vorüberziehen, ohne je gelebt worden zu sein. Wie auch? Als Kind kann man sich vorstellen, irgendwann die erste Weltraumpiratin und Ninja-Höhlenforscherin zu sein, denn das Erwachsenenalter ist weit weg und kommt einem wie eine gänzlich andere Realität vor, doch dann ist man 17 und die Wunschgedanken werden von der Wirklichkeit überrollt.

Die Erkenntnis schnürt mir den Hals zusammen. Traurigkeit und Bedauern ballen sich in meiner Brust zu einem festen Klumpen zusammen. Ich blinzle rasch, um meine Gefühle zu überspielen.

"Ich weiß nicht, was ihr gewusst habt", sage ich zögernd, den Blick auf Le Capitaine gerichtet, der feindselig zurückstarrt. "Aber irgendetwas habt ihr gewusst." Um Rechtfertigungsversuchen zuvorzukommen, setze ich nach: "Ihr habt Bernard damit beauftragt, mich zu begleiten, und seid selbst in Poussant geblieben. Keines der anderen Mädchen hatte diese Form des Geleitschutzes. Also müsst ihr etwas gewusst haben."

Papas Schultern sinken herab. Nie hätte ich gedacht, ihn jemals so zu sehen. Nicht den Vater oder den Alpha, sondern den Mann hinter dem weißen Pelz und der unsichtbaren Krone. "Glaub mir, das war so nicht geplant, Chloé. Etwa eine Woche vor unserer Abreise hatte deine Maman einen Albtraum. Sie hat mir nicht gesagt, was sie geträumt hat, aber es hat sie zutiefst erschüttert."

"Hat sie das öfter?"

Papa schüttelt den Kopf. "Früher manchmal. Da ist sie oft schreiend nachts aufgewacht. Vermutlich weil sie gesehen hat, was Guy tun musste, um Alpha eines Solitaire-Rudels zu werden." Seine Stimme wird leiser. "Aber dann hat es irgendwann aufgehört." Er sieht mich an und es liegt ein seltsames Flackern in seinem Blick. Was ist das? Unsicherheit? "Ich denke, Guy hat absichtlich seinen Beta geschickt, um Bernards Familie auszulöschen. Weil er nicht persönlich anwesend war, hat deine Maman nichts gespürt. Du solltest ihr also keine Vorwürfe machen."

"Habt ihr denn nie gedacht, dass sich Guy irgendwann rächen würde?"

"Doch", antwortet Papa schnell. "In den ersten Jahren haben wir ständig damit gerechnet." Er seufzt und es klingt wie ein Blasebalg mit einem Loch. "Aber die Zeit verging. Es gab viel zu tun. Nach einer Weile bekamen wir Jules und schließlich dich." Ein kurzes, sehnsüchtiges Lächeln huscht über seine Miene. Vielleicht wünscht er sich auch, wieder jung sein zu können. Vielleicht wünschen wir uns das alle, wenn die Gegenwart zu schwer wird, um sie zu ertragen.

Wieder sieht er mich an. Mit dieser Hochachtung, die mir völlig fremd ist. Als wäre ich nicht mehr ich, sondern ein Schmetterling, der nach Jahren der liebevollen Hege und Pflege endlich aus seinem Kokon geschlüpft ist. "Du warst schon immer etwas Besonderes, Chloé." Papa schmunzelt. "Ich weiß, das sagen alle Eltern über ihre Kinder. Aber in diesem Fall ist es wahr. Du bist schlau. Nicht nur als Mensch - das wissen wir schon seit du auf die Louis-le-Grand gehst - sondern auch als Wolf. Schlauer als die meisten von uns. Schlauer als ich auf jeden Fall."

Ich glaube ihm kein Wort, aber ich presse die Lippen fest zusammen, um mich an einer Antwort zu hindern. Meine Nase kribbelt und meine Umgebung verschwimmt. Nur vage bekomme ich mit, dass sich die Wolkendecke schließt und der Hinterhof in düstere Schatten getaucht wird. Ein Schauer überläuft meine Arme. "Ganz egal, was damals passiert ist", sage ich leise, weil ich meiner eigenen Stimme nicht traue. "Wir müssen den anderen Wölfen im Camp helfen. Wir können sie nicht den Durands überlassen."

"Nein. Und das werden wir nicht", stimmt Papa mir zu. "Aber wir müssen schnell handeln. Am besten, bevor die Girards und die Leroys hier eintreffen." Als er meinen misstrauischen Blick bemerkt, ergänzt er: "Wenn herauskommt, dass ihre Kinder meinetwegen in Gefahr geraten sind, wird das unsere Vormachtstellung schwächen. Die Leroys mögen so tun, als ob sie uns wohlgesonnen seien, aber hinter unserem Rücken warten sie schon lange auf eine Gelegenheit, unsere Macht anzufechten. Und die Girards sind geschickte Diplomaten. Sie wissen, wie sie Kapital aus einer Situation schlagen können."

Ich teile die Ansichten meines Vaters nicht, aber mir ist alles recht, was zu einer schnellen Lösung des Problems führt. "Und was sollen wir tun? Können wir gegen sie kämpfen?"

"Nicht, ohne die Geiseln in Gefahr zu bringen."

"Dann muss sich irgendwer von uns reinschleichen und die Geiseln befreien, während du und Maman ihn ablenkt", schlage ich vor. Vermutlich habe ich das aus irgendeinem Hollywood-Film.

"Und wer soll das tun?", erwidert Papa. "Mathéo?" Er schüttelt den Kopf. "Reinschleichen ist nicht seine Art. Außerdem wird Guy misstrauisch werden, wenn wir ohne Mathéo bei ihm auftauchen."

"Dann sollte das vielleicht jemand übernehmen, der glaubhaft tot spielen kann", erklingt eine schwache Stimme von der Tür, die in den Hinterhof führt.

Mon Loup: Mein WinterwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt