Chapitre 28

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Nachdem ich mich in meinem Zimmer davon überzeugt habe, dass das Bild von Henri fehlt, mache ich mich auf die Suche nach Bernard.

Ich finde ihn bei den Außenduschen, die in einem kleinen Unterstand nahe der großen Wiese hinter dem Haupthaus untergebracht sind. Dort waschen sich die Wölfe die Spuren der morgendlichen Hasenjagd von den Körpern. Im Gegensatz zu mir scheinen hier alle an Nacktheit gewöhnt zu sein. Und eigentlich sollte mir das auch keine Probleme bereiten. Eigentlich.

"Morgen, Chloé", grüßt mich Gael.

Ich lächle ihm zu und bemühe mich, ihm ins Gesicht zu sehen. Natürlich nehme ich trotzdem wahr, dass er einen schönen Körper hat, der für sein Alter bereits recht reif zu sein scheint. Jedenfalls ist er nicht mehr so schlaksig wie die meisten anderen Jungs, die ich kenne.

"Da ist ja die heiße Braut!", ruft Pierre und setzt dazu an, mich zu umarmen. Erst als ihm Bernards tödlicher Blick auffällt, lässt er die Arme wieder sinken und fährt sich verlegen mit der Hand durch die feuchten Haare.

"So wirst du nie eine Seelenverwandte finden", meldet sich Florent zu Wort, der in einer der offenen Duschen steht und sich das Blut vom Gesicht wäscht. Die Kabinen sind mit dunkelblauen Fliesen ausgekleidet. In kleinen Wandnischen stehen Duschgel und Shampoo irgendeiner Sportmarke bereit. Es herrscht eine Atmosphäre wie in einer Dampfsauna.

"Irrtum", korrigiert ihn Pierre. Meine Seelenverwandte kann gar nicht anders als mich so zu mögen wie ich bin."

"Das ist wohl die einzige Hoffnung, die dir bleibt", erwidert Florent trocken.

Pierre wendet sich an mich. "Ist the Pack wirklich so furchtbar?"

"Pierre ...", meint Gael in einem besänftigenden Tonfall. Offenbar will er verhindern, dass Pierre mich auf eine Weise bedrängt, die ich als unangenehm empfinden könnte. Aber was das angeht, bin ich durch meinen Bruder Jules abgehärtet, der in Menschengestalt nie ein Gefühl für soziale Etikette entwickelt hat.

"Also erst einmal solltest du dir den dämlichen Spitznamen abgewöhnen", erkläre ich ihm. "Und dann-"

"Nein, Stop", unterbricht mich Pierre, während seine Freunde reihum in Gelächter ausbrechen. "Aufhören!" Er presst sich beide Hände auf die Herzgegend und mimt den tödlich Verwundeten. "Alles nur nicht den Namen", jammert er dabei.

"Und du solltest dringend aufhören, auf Motorhauben zu springen", fahre ich fort.

Florent und Gael lachen noch lauter.

Mein Blick fällt auf Bernard, der uns den Rücken zugewandt hat. Klares, in der Kälte dampfendes Wasser rinnt über seine kupferfarbene Haut. Ich lasse die Jungs stehen und gehe zu ihm, sorgsam darauf bedacht, mein Kleid vor Spritzwasser zu bewahren. "Wir müssen reden."

Bernard dreht sich langsam zu mir um. Noch immer klebt etwas Kaninchenblut an seinem Hals. "Um was geht es?"

"Julien Durand war diese Nacht in meinem Zimmer." Erst als ich die Worte ausspreche, merke ich, wie wütend ich bin. "Er hat mein Bild gestohlen."

"Ich weiß", gibt Bernard zu, ohne mir in die Augen zu sehen.

"Und wo warst du? Wolltest du nicht auf mich aufpassen?"

Bernard nickt. "Es tut mir leid. Ich hatte etwas zu erledigen."

Mir fehlen die Worte. Bernard versagt nie bei einer Aufgabe. Das ist nicht seine Art. Außerdem würde er nie etwas tun, das mich in Gefahr bringen könnte. Ich bin so überrumpelt, dass ich ihn für einige Sekunden nur anstarren kann. Mein Zorn verraucht so schnell wie er gekommen ist. Im nächsten Moment kehrt er mit Wucht zurück. "Was hattest du denn zu erledigen?"

Bernard reibt über seinen Hals, um die letzten Blutreste zu entfernen. "Eine Privatsache."

"Eine Privatsache?", wiederhole ich entgeistert. "Du bist doch nicht etwa ... du warst doch nicht bei Henri, oder?"

"Ich war nicht bei Henri", erwidert Bernard, aber es fällt mir schwer, ihm zu glauben. Welchen Grund hätte er sonst haben können, mich und das Camp zu verlassen?

"Wie schon gesagt, es tut mir leid, Chloé", ergänzt Bernard. "Wenn du mit deinem Vater darüber sprechen willst-"

"Nein", falle ich ihm ins Wort. "Nein, das will ich nicht, aber du wirst mich sofort zu Henri bringen. Ich will sehen, dass es ihm gut geht."

"Vertraust du mir nicht?"

Ich recke das Kinn und sehe Bernard direkt in die dunklen Augen, auf denen noch ein blasser Schatten seiner Wolfsgestalt liegt. Sie sehen in diesem Zustand irgendwie wilder aus als Menschenaugen. Weniger menschlich. "Es wäre doch nicht das erste Mal, dass du einen Menschen getötet hast. Oder?"

Bernard erwidert meinen Blick. Ruhig, aber nicht so gelassen, wie ich es von ihm gewohnt bin. Vielleicht ist es mir tatsächlich gelungen, ihn mit meinen Worten zu verletzen. "Na schön", sagt er und stellt die Dusche aus. Das Rauschen verstummt. Heißer Dampf steigt auf und hüllt uns in eine Dunstwolke. "Ich bringe dich zu Henri. Aber zuerst muss ich wieder normal sehen können." Er hebt mahnend den Zeigefinger. "Und spar' dir deinen Triumph. Ich mache das nur, damit du nicht heimlich zu ihm aufbrichst und dich in Gefahr begibst."

Ich widerspreche Bernard nicht, auch wenn ich mir sicher bin, dass seine Beweggründe anderer Natur sind. Er schämt sich für seine Abwesenheit in der vergangenen Nacht. Und das vollkommen zurecht. Julien war in meinem Zimmer. Er hätte mir und Manon alles mögliche antun können.

Bernard greift nach einem Handtuch, das über der gekachelten Seitenwand der Kabine hängt, und beginnt, sich trocken zu rubbeln. Nackt wird ganz deutlich, was ihn von den Jungs in meinem Alter unterscheidet. Obwohl er von schlanker und eleganter Statur ist, sind seine Schultern kräftig, die Taille schmal, die Bauchmuskeln fest wie Zement. Hier und da wird seine Haut von Narben geziert. Ein paar davon kenne ich und weiß, wie sie entstanden sind. Andere sehe ich heute tatsächlich zum ersten Mal.

"Falls es dich beruhigt, Julien hat lediglich dein Bild gestohlen", erklärt Bernard.

"Was hatte er denn damit vor?"

Bernard reibt das Handtuch über sein Gesicht. "Anscheinend wollte er es zerstören. Mathéos Wölfe haben ihn jedoch vorher aufgespürt und davon abgehalten. Im Moment ist dein Bild bei Monsieur Vincent. Er hat versprochen, ein ernstes Wort mit deinem Verehrer zu sprechen."

"Meinem Verehrer?" Ich gebe ein verächtliches Schnauben von mir. Was auch immer Julien dazu bewogen hat, meine Zeichnung zu stehlen, hat mit Sicherheit nichts mit Eifersucht zu tun. Ich habe seit meiner Ankunft im Camp kaum ein Wort mit ihm gewechselt. Andererseits habe ich beobachtet, was er mit Louannes Tasche gemacht hat. Der Kerl hat offenbar ein ernsthaftes Aggressionsproblem.

Mon Loup: Mein WinterwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt