Chapitre 32

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"Ihr habt uns wirklich sehr geholfen", sagt Henri, als wir wenig später auf der Straße vor dem Café stehen, um uns zu verabschieden.

Wir haben unsere Schokolade ausgetrunken, ich habe ihm die Kleidung seiner Oma wiedergegeben; es gibt nichts, was mich jetzt noch in Poussant halten würde. Das Herz ist mir schwer, denn ich genieße jede Sekunde in Henris Nähe. Ich liebe die Art, wie er mit seiner Großmutter umgeht. Das Rudel ist für einen Werwolf sehr wichtig und Henri scheint - obwohl er ein Mensch ist - genauso zu empfinden. Außerdem ist es schön, jemanden zu haben, mit dem ich über ernste Themen reden kann. Über Literatur, Filme, Musik und Kunst. Wir sind nicht in jedem Aspekt einer Meinung, aber es fühlt sich nie an, als würden wir streiten. Er versteht mich und ich verstehe ihn. Das ist ein Gefühl, dass ich in meinem bisherigen Leben selten hatte und dass ich, wenn ich ganz ehrlich bin, nicht mehr missen möchte.

"Das haben wir wirklich gern gemacht", antworte ich, während ich im Hintergrund beobachte, wie Bernard Madame Fournier ein paar Geldscheine überreicht. Sie will ablehnen, aber er bleibt hartnäckig. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Henri und seine Oma auch Bernard ans Herz gewachsen sind, selbst wenn er das vermutlich niemals zugeben würde. "Und es ist ja auch unsere Schuld, dass ihr in diese Situation geraten seid."

Henri winkt ab. "Halb so wild. Ich meine", er wendet sich dem Laden zu, "die Tür sieht doch eigentlich ganz in Ordnung aus. Vielleicht sogar besser als vorher." Sein Blick wandert zu Bernard und seine Augenbrauen wölben sich sorgenvoll. "Ist er wirklich dein Onkel?"

"Nein", erwidere ich. "Bernard ist der Beta meines Rudels."

"Und dein Vater ist der-"

"Der Alpha, ganz genau." Ich lächle unsicher, weil ich nicht weiß, wie Henri diese Informationen aufnehmen wird. Für ihn muss das alles verwirrend sein. Vielleicht auch abstoßend. Ich weiß es nicht, aber ich kann mir denken, was meine Schulfreundinnen sagen würden, wenn sie wüssten, dass ich manchmal rohes Fleisch esse und nackt durch die Wälder laufe oder mit meinem ganzen Rudel in einem Zimmer schlafe. Vermutlich hätte ich sehr schnell keine Freunde mehr.

Doch Henri nickt nur. "Und wie ... wie macht ihr das, wenn ihr euch verabschiedet?" In seinen Augen blitzt Schalk auf. "Muss ich an deinem Popo schnüffeln oder an deinen Ohren knabbern?"

Ich merke, wie mir bei dieser Vorstellung die Hitze in die Wange steigt. "Nein. Das heißt ... das kommt schon vor, aber nicht in Menschengestalt."

"Chloé?", fragt Bernard, der bereits auf dem Weg zum Range Rover ist.

"Moment", rufe ich zurück und wende mich wieder an Henri, der mich noch immer erwartungsvoll ansieht. Ich spüre seine Augen gerne auf mir ruhen. Obwohl ich nicht schüchtern bin, fühle ich mich manchmal befangen, wenn mich ein Junge längere Zeit ansieht. Doch bei Henri ist es anders. Durch seine Blicke habe ich das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Es ist verrückt. Eigentlich kennen wir uns ja kaum, aber ich habe schon den Eindruck, dass ein Teil von mir hier bleiben wird, wenn ich Poussant den Rücken kehre. "Also nein, wir beschnüffeln nicht unsere Hinterteile", fahre ich fort.

Henri lacht und seine Augenbrauen tanzen einen ungarischen Volkstanz. Es ist schön, ihn lachen zu sehen. Sein ganzes Gesicht gerät dabei in Bewegung, nicht bloß die Lippen.

"Aber wir könnten uns zum Abschied umarmen", schlage ich vor und hoffe, dass er mich nicht für aufdringlich hält.

"Na gut, aber nur, wenn du mir versprichst, dass mich dein Onkel nicht auffrisst", erwidert Henri.

Ich schüttele den Kopf. "Keine Sorge. Das habe ich im Griff."

"Er guckt aber schon ganz schön böse", meint Henri.

Dessen ungeachtet zieht er mich in eine vorsichtige Umarmung, die ich nur zu gerne erwidere. Ich lege die Arme um seine Taille und genieße für einen Moment, das Gefühl, in ihm zu versinken. In seiner Wärme und seinen Gerüchen, nach Zimt und Wacholder, nach alten Büchern, staubigen Bibliotheken, gutem Kaffee, einem dezenten Aftershave und stiller Leidenschaft. Am liebsten hätte ich ihn noch fester gedrückt, aber das traue ich mich nicht. Erstens, weil Bernard dabei ist. Zweitens, weil ich noch immer nicht weiß, wie Henri für mich empfindet. Drittens, weil mir klar ist, dass diese Sache zwischen uns - so klein und unbedeutend sie auch sein mag - keinerlei Zukunft hat.

Als wir uns schließlich voneinander lösen, bringe ich es nicht mehr über mich, ihm in die Augen zu sehen. Eilig schultere ich meinen Rucksack, verabschiede mich von seiner Großmutter und folge Bernard zum Auto. Beim Losfahren winke ich Henri noch einmal zu und fühle, wie ich dabei von einer Kälte überkommen werde, die nichts mit den derzeit herrschenden Außentemperaturen zu tun hat. Mir ist nach heulen zumute.

"Bist du jetzt zufrieden?", fragt Bernard.

Er fängt selten von sich aus eine Unterhaltung an. Dadurch fühle ich mich gezwungen, ihm zu antworten. "Ja. Und nein." Ich rutsche tiefer in den Sitz und verschränke die Arme vor dem Körper. "Aber danke für alles, was du für Henri und seine Oma getan hast."

Die Winterlandschaft gleitet an uns vorbei, doch all die Pracht und Schönheit kommt mir hohl und leer vor. Vielleicht hat Bernard Recht. Ich bin ein Teenager - und zwar sowohl ein menschlicher als auch ein wölfischer. Ohne mein Rudel und außerhalb des Einflusses meiner Maman spielen meine Hormone verrückt. Trotzdem kann ich mich nicht einfach zusammenreißen.

"Ich weiß, du willst nicht, dass ich davon spreche", sage ich und halte meine Tränen mit Macht zurück. "Aber ich wäre wirklich lieber ein Mensch. Ich hasse es, ein Wolf zu sein."

Bernard nimmt meine Worte schweigend hin. Ich weiß auch nicht, was ich dem noch hinzufügen soll. Und so lausche ich dem Rauschen der Autoreifen auf der dünnen Schneedecke, dem Brummen des Motors und dem Schlagen der Glocken, das über die weißen Felder hallt.

Nachdem wir die Stadtgrenze hinter uns gebracht haben und den Nadelwald erreichen, der das Camp umgibt, biegt Bernard in eine Haltebucht ein. Der Range Rover kommt zum Stillstand. Bernard stellt den Motor ab. Dann nimmt er die Hände vom Lenkrad und sieht mich an.

"Was ist?", frage ich verwirrt.

"Lass uns rennen", erwidert Bernard.

Mon Loup: Mein WinterwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt