Chapitre 77

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Ich bin hin und hergerissen. Einerseits verstehe ich, wieso Papa das getan hat, andererseits scheint es mir gar nicht zu seinem Charakter zu passen. "Und wieso würdest du heute anders handeln?"

Papa bedenkt mich mit einem nachsichtigen Lächeln. "Ich habe Guy alles genommen. Seine Soulmate. Seine Freunde. Sein gewohntes Umfeld. Alle Hoffnung auf ein normales Leben." Er bewegt unruhig die Schultern. "Das hat ihn zerstört. Durch seine Adern fließt schwarzes Blut und er hat schon damals mit den Gesetzen des Swarg sympathisiert. Ich denke, deswegen hat er sich den Solitaires zugewandt."

"Ein Solitaire-Rudel gegründet", spinne ich den Gedanken weiter. "Und ist nach Korsika ausgewandert."

Meine Eltern nicken.

"Als ihr Juliens Namen im Katalog des Wintercamps gelesen habt ..."

"Wir waren überrascht", sagt Maman schnell.

"Und nicht positiv", ergänzt Papa.

"Aber wir hielten es für möglich, dass er dein Soulmate sein könnte. Schon allein, weil sein Vater der Mate deiner Mutter war."

Ich reibe mir mit den Händen über das Gesicht.

Derweil wendet sich Papa an Bernard. "Nach allem was wir jetzt wissen, vermute ich, dass Guy zehn Jahre gebraucht hat, um sich bei den Solitaires als Alpha zu etablieren. Danach ist er zurückgekehrt, um Rache zu üben."

"Aber warum hat er Bernards ganze Familie getötet und nicht nur Frédéric und sein Rudel?", frage ich, auch wenn ich wirklich nicht weiß, was für eine Antwort ich darauf erwarte.

"Weil er bösartig ist", antwortet Maman mit reichlich Bitterkeit in der Stimme.

"Und offenbar hat er auch einen Hang zur Dramatik", murmelt Bernard. Als er unsere verwunderten Blicke bemerkt, ergänzt er mühsam: "Meine Familie starb am neunten Januar 2006, dem ersten Tag des islamischen Opferfests. Deswegen waren auch alle Rudelmitglieder im Rudelhaus versammelt. Bis auf meinen Bruder und meine Eltern ist keiner von uns je wirklich gläubig gewesen, aber das höchste Fest im Kreis der Familie zu feiern, hat zu unseren Traditionen gehört. Ein kleines Stück Heimat, haben meine Eltern immer gesagt."

"Wenn ich nicht entschieden hätte, Guy zu verjagen. Wenn ich Frédéric nicht dazu angestiftet hätte, mir zu helfen. Wenn ich nicht nur an mich selbst und meine Zukunft gedacht hätte. Dann wäre das alles nicht passiert", sagt Papa und beugt sich über den Tisch, um Bernard direkt ins Gesicht sehen zu können. "Es tut mir leid, mein Freund. Ich habe nicht gewusst, was Guy tun würde, aber ich hätte ahnen müssen, zu was er fähig ist."

Bernard erwidert seinen Blick. Er scheint etwas sagen zu wollen, aber dann wendet er sich plötzlich an meine Mutter. "Sie haben nicht gewusst, zu was Guy Durand in der Lage ist?"

Maman schluckt. "Doch. Ich habe es gewusst."

"Aber Sie haben nicht gewusst, was er getan hat?"

"Nein", antwortet Maman leise.

Ich zucke erschrocken zusammen, als Bernard aufspringt und dabei seinen Stuhl umwirft.

Sofort ist Mathéo auf den Beinen und packt ihn an den Schultern. Er scheint ihn jedoch mehr auffangen als aufhalten zu müssen.

Bernards Gesicht ist kreidebleich und gleichzeitig verzerrt vor Zorn. So habe ich ihn noch nie gesehen. "Natürlich haben Sie gewusst, was Guy getan hat! Sie haben es die ganze Zeit gewusst!"

Maman presst die Lippen aufeinander und schüttelt den Kopf.

Normalerweise ist sie knallhart, doch dieser Teil ihrer Vergangenheit scheint ihr ungewöhnlich nahe zu gehen.

Mon Loup: Mein WinterwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt