Chapitre 61

221 46 6
                                    

Es ist, als ob Julien eine Rauchgranate in den Kellerraum geworfen hätte. Die Qualmentwicklung ist gewaltig. Innerhalb weniger Sekunden ist der ganze Raum von bitteren Rauchschwaden erfüllt. Die Jungs flüchten in die hinterste Ecke und ziehen sich ihre Jacken und Pullover über Mund und Nase. Ich weiche in die andere Richtung zurück und weiß nicht so genau, was ich tun soll. Der Rauch sticht in meine Nase und brennt in meinen Augen.

"Das Fenster!", höre ich Gael sagen. "Wir müssen es irgend-" Der Rest seines Satzes geht in einem Hustenanfall unter. Als er sich wieder beruhigt hat, ergänzt er: "Chloé, keine Angst, wir schaffen das. Halt' dich nur von uns fern."

Ich nicke. Was soll ich auch sonst tun? Das Wolfskraut wird alles schlimmer machen. Und wenn unsere Instinkte erwachen und die Hormone dazukommen ... ich mag es mir gar nicht ausmalen.

"Wir haben keine Zeit mehr", grollt Pierre. Sein Adamsapfel wandert auf und ab. Er stiert mich an, als wäre ich ein Beutetier, das ihm unvorsichtigerweise vor die Schnauze gelaufen ist.

Gael packt ihn am Pullover und hält ihn fest. "Na los, Florent. Das Fenster!"

"Wieso ich?", jammert Florent, während er in sein Hemd atmet, als bräuchte er dringend eine Sauerstoffflasche.

"Muss ich dir das wirklich erklären?"

"Ich bitte darum."

"Vielleicht mach' ich dir lieber eine Zeichnung!"

Bevor Florent etwas erwidern kann, zuckt Pierre plötzlich. Ein Schauer durchläuft seine Gestalt. Sein Gesicht verformt sich und sein Körper krümmt sich zusammen, so ruckartig, dass ich seine Wirbel knacken und bersten hören kann. Ich sehe, wie ihm die Haare ausfallen und sich eine dunkle Pigmentierung über seinen Rumpf ausbreitet. Die fleckige Haut spannt sich über seinen Schädel wie ein bis zum Bersten gefüllter Luftballon. Seine Gestalt schrumpft erst zusammen und dehnt sich dann abrupt wieder aus. Dabei zerreißt seine Kleidung. Im Zeitraffer sprießen ihm Fell, Schnauze und Rute. Die ganze Transformation dauert nur ein oder zwei Sekunden. Dann ist Pierre ein Wolf. Und seine kupferfarbenen Augen sind immer noch direkt auf mich gerichtet.

"Florent!", zischt Gael und packt Pierres Rute.

Florent fängt keine weiteren Diskussionen an, sondern rennt zum Fenster. Als Didi ihm helfen will, wird mir klar, warum Gael zuerst Florent angesprochen hat. Didi ist schlichtweg zu klein und zu schmächtig. Aber auch Florent hat Probleme, das Fenster zu erreichen. Erst als Didi die Hände zu einer Räuberleiter verschränkt, geht es besser. Gerade als er sich erneut nach dem Fenster streckt, reißt sich Pierre von Gael los und stürzt auf mich zu.

Ich packe die nächstbeste Kartoffelkiste und schlage sie ihm auf den Kopf. Natürlich will ich ihm nicht wirklich wehtun, aber wie heißt es so schön? Wer nicht hören will, muss fühlen?

Kurz darauf bin ich diejenige, die etwas zu fühlen bekommt. Pierre verbeißt sich in der Kiste und schüttelt den Kopf, als wollte er ein Beutetier zerreißen. Mein Handgelenk wird dadurch schmerzhaft hin und her gezerrt, bis ich die Kiste loslassen muss.

Im gleichen Moment ist Gael heran. Er wirft sich in Wolfsgestalt gegen Pierre und beißt ihn in die Flanke, um ihn von mir wegzudrängen und ihm zu zeigen, wer der Anführer dieses Rudels ist. Doch Pierre wäre nicht Pierre, wenn er sich das gefallen ließe. Jedenfalls nicht mit einem Büschel Wolfskraut in der Nase.

"Chloé!", dringt Florents Schrei zu mir. Er hat es mit Didi zu tun, der sich in seinem Hosenbein verbissen hat. "Komm' schnell!"

Ich löse mich von Pierre und Gael, die zu einem knurrenden, keifenden Fellknäuel geworden sind. Die Atmosphäre im Keller hat in den vergangenen Sekunden etwas Fremdartiges bekommen. Nicht nur wegen des Verhaltens meiner Freunde, sondern auch aufgrund des Rauchs, der sich in wirbelnden Schwaden im Raum verteilt. Seltsame, bedrohliche Formen zeichnen sich darin ab. Sie scheinen ein Eigenleben zu besitzen, wie Traumgestalten, die mich von allen Seiten bedrängen.

Ich spüre, wie in mir der Drang erwacht, mich zu verwandeln. Er erfasst mich wie ein Fieber. Es beginnt in meinen Zehen und Fingerspitzen. Ein Kribbeln und Jucken, das ich kaum unterdrücken kann. Dann frisst es sich in meine Knochen, mein Herz und mein Bewusstsein. Nagt an mir, wie Feuer an einem Kohlebrikett.

Ich klammere mich an meinen Verstand, an die Dinge, die mich menschlich machen. Papa und Bernard haben mir gezeigt, wie es funktioniert. Ein Mensch sein. Normalerweise fällt mir das nicht schwer. Doch jetzt muss ich kämpfen. Ich löse Matheaufgaben und sage Reime auf, während ich mich durch den Dunst zum Fenster bewege.

J'aime papa
J'aime maman,
Mon p'tit chat,
Mon p'tit chien.
J'aime papa,
J'aime maman,
Mon p'tit chat,
Mon p'tit chien,
Et mon gros éléphant !

Dann bin ich bei Florent. Ihm sprießt schon das Fell aus den Ohren, aber er grinst von einer Wange zur anderen. "Sieh' mich an", haucht er, während Didi an seinem Fuß zerrt. "Ich steh' immer noch nicht auf dich."

Ein Blick über die Schulter zu Gael und Pierre sagt mir, dass er damit in der Unterzahl ist. Die beiden scheinen ihre Streitigkeiten beigelegt und ein gemeinsames Ziel gefunden zu haben. Mich.

"Und weißt du, was das bedeutet?", fragt Florent, wartet aber nicht auf meine Antwort. "Ich bin zu absolut einhundert Prozent schwul. Als Mensch und als Wolf. Ist das nicht-"

"Das Fenster!", unterbreche ich ihn.

Gael und Pierre stürzen los, als würde ihnen jemand einen saftigen Hühnerschenkel vor die Nase halten.

"Es ist offen", erwidert Florent. "Julien muss vergessen haben, es zuzumachen."

Ich weiß nicht, ob ich das glaube. Aber ich verbringe auch keine Zeit damit, darüber nachzudenken. Die Verwandlung schießt durch meine Glieder.

Mit meinem letzten Rest Menschenverstand packe ich Florents Schulter, stoße mich mit dem Fuß von seinem Oberschenkel ab und strecke mich nach dem Fenster. Mein Rücken protestiert schmerzhaft gegen die Belastung, doch das Gefühl wird von einer watteweichen Opioid-Wolke hinweggespült.

Durch den Rausch spüre ich, wie meine Pfoten über unebenes Mauerwerk schaben. Meine Schnauze stößt gegen staubiges Glas, doch der Widerstand gibt unter meinem Druck nach. Ich quetsche mich durch ein viel zu enges Loch. Dabei wird mein Brustkorb auf geradezu unmögliche Weise zusammengepresst. Ohne die körpereigenen Schmerzmittel wäre es vermutlich kaum auszuhalten, aber aufgrund der Transformation schaffe ich es ins Freie.

Kälte umfängt mich. Der Geruch fremder Wölfe. Blut und Salzwasser. Das Wolfskraut brennt in meiner Nase. Es gibt eine Redensart unter uns Wölfen: Kontrollierst du die Nase, kontrollierst du den Wolf. Und so ist es. Ich kann nichts dagegen ausrichten. Meine Instinkte sind stärker. Ohne auf meine Umgebung zu achten, fliehe ich. Geradezu kopflos. Das Kraut treibt mich an, betäubt meinen Verstand, lässt das Adrenalin in meinem Körper pulsieren.

Meine Flucht bleibt jedoch nicht lange unbemerkt. Schon bald sind mir mehrere schwarze Wölfe auf den Fersen.

Mon Loup: Mein WinterwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt