Chapitre 54

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Nachdem wir kurz über unser Vorgehen beratschlagt haben, entscheiden wir, uns in Wolfsgestalt auf den Weg zu machen. Schließlich wissen wir nicht genau, wo die Hütte ist, und werden daher die Hilfe unserer Nasen brauchen können.

Gael und Florent leihen uns ihre Wanderrucksäcke, die so konstruiert sind, dass wir sie bequem im Maul tragen konnten. Darin verstauen wir unsere Kleidung und Schuhe. Dann machen wir uns auf den Weg. Erst zum See und anschließend flussaufwärts in den Wald.

Aus meinem Traum weiß ich, dass sich die Hütte in der Nähe von Fluss und Zaun befinden muss, also irgendwo am Rand des Campgeländes. Didi ist der Wolf mit der besten Spürnase und daher auch der erste, der auf eine Fährte stößt.

Er verharrt auf der Stelle, jeder Muskel seines eher plumpen Wolfskörpers gespannt wie eine Bogensehne. Seine Nase bewegt sich leicht, während er Witterung aufnimmt. Er gibt ein leises Wuffen von sich.

Pierre, Louanne und ich rücken zu ihm. Durch die körperliche Nähe geht seine Anspannung auf uns über. Unsere Gerüche und Gedanken vermischen sich. Ich spüre seine Aufregung, seine Neugier, seine Furcht. Didis Denkweise ist sogar in Wolfsgestalt erstaunlich strukturiert. Während Pierres wirbelnder Gedankenstrom von Gefühlen und Impulsen durchsiebt wird, reihen sich Didis Gedanken wie an einer Schnur aneinander. Louanne ist dagegen eine durch und durch praktische Natur.

Noch ehe ich überhaupt die Spur einer Fährte wahrgenommen habe, klebt ihre Nase schon am Waldboden. Sie macht ein paar Schritte hierhin und dorthin, dann scheint sie zu wissen, was Didi wahrgenommen hat. Ihr Kopf zuckt hoch und sie hechelt. Der Atem, den sie dabei ausstößt, schwebt wie eine kleine Wolke vor ihr in der Luft. Fremde Wölfe. Ein Rudel. Solitaires. Die Informationen sind uneindeutig. Ganz ähnlich wie ich, verbringen die anderen Jungwölfe zu viel Zeit in Menschengestalt, um die Feinheiten eines komplexen Geruchs analysieren zu können.

Der Wald scheint sich enger um uns zu ziehen. Ich höre das trockene Knacken im Geäst, wenn die rauschenden Sturmböen über die Baumspitzen hinwegfegen. Feiner Pulverschnee rieselt knisternd auf uns herab. Die Klänge des Sturms übertönen alle Geräusche am Waldboden. Unter diesen Bedingungen könnte sich ein fremder Wolf mühelos an uns heranpirschen. Wir verständigen uns über Körperberührungen und entscheiden, dass es besser ist, nicht zu lange an einem Ort zu verharren.

Die Fährte von Didi und Louanne führt am Fluss entlang nach Nordwesten. Inzwischen sind wir alle sehr angespannt. Unser Instinkt sagt uns, dass es besser wäre, die Mission abzubrechen. Wären wir echte Wölfe, hätten wir das auch bestimmt getan. Aber wir sind keine echten Wölfe, sondern Mischwesen, die nicht existieren sollten. Wir werden nicht von unseren Instinkten beherrscht - jedenfalls nicht rund um die Uhr - und deswegen setzen wir unseren Weg fort. Mit Erfolg.

Nach einigen Minuten schälen sich scharfkantige Umrisse aus der ewigen Düsternis des Waldes. Ohne Beleuchtung wirkt die Hütte viel unheimlicher als noch in der vergangenen Nacht. Schwarz und einsam. Der Geruch von modrigem Holz und alter Fäulnis umweht sie. Gepaart mit dem Duft eines erloschenen Kaminfeuers und dem Gestank von Blut. Diese Gerüche sind so intensiv, dass sogar ich sie wahrnehmen kann.

Pierre ist der erste von uns, der seinen Rucksack fallen lässt und sich verwandelt. Wir anderen leisten seinem Beispiel Folge. "Das ist-"

"Blut", beendet Louanne den Satz für ihn.

Ich erinnere mich an die Ereignisse aus der vergangenen Nacht. Das Knacken im Gebüsch, das mich aus meinem Traum katapultiert hat.

Vorsichtig, um kein lautes Geräusch zu verursachen, schnappe ich mir meinen angesabberten Rucksack und nähere mich dem Gebäude. Auf dem Weg dorthin öffne ich das große Fach und streife mir meine Kleidung über. Barfuß schleiche ich an der Veranda entlang und biege um die nächstgelegene Ecke. Genau wie mein Mate vor ungefähr 16 Stunden. Hinter der Hütte führt der Stacheldrahtzaun entlang. Die Siegel, die in regelmäßigen Abständen daran befestigt sind, glimmen wie eine vorweihnachtliche Festtagsbeleuchtung.

Bevor ich meinen Weg fortsetzen kann, packt mich Louanne an der Schulter. "Was hast du vor?", zischt sie.

"Ich muss etwas sehen", antworte ich und streife ihre Hand ab.

Hinter uns spähen Pierre und Didi durch eines der Fenster ins Innere der Hütte. "Es ist niemand da", lautet ihre sichtlich erleichtert klingende Beobachtung.

Ich lasse Louanne stehen und taste mich auf Zehenspitzen bis zur Rückfront der Hütte. Hier befindet sich die Hintertür mit dem kleinen Fenster. Genau wie in meinem Traum. Zunächst fühle ich mich von diesem Anblick wie paralysiert. Als hätte ich ein mächtiges Déjà-vu. Dann bemerke ich das Blut auf dem Waldboden und die Spur, die sich von der Hütte bis zum Zaun zieht. Ich gehe in die Hocke und lege meinen Zeigefinger auf das Blut. Es ist bereits gefroren. Hätte ich bei Crime Scene Paris, Profilage und den ganzen anderen Krimisendungen, die meine Eltern gerne sehen, besser aufgepasst, wüsste ich vielleicht, was die Form der Blutflecken bedeutet. So kann ich nur sagen, dass es nach sehr viel Blut aussieht und dass die Tat schon eine Weile her sein muss.

"Sapperlot!", haucht Pierre und krallt eine Hand in die blonden Haarsträhnen, die ihm wegen des Seitenscheitels immer in die Stirn fallen.

Ich stütze mich auf den Oberschenkeln ab und stemme mich wieder auf die Beine.

"Wessen Blut ist das?", fragt Louanne.

"Das meines Seelenverwandten", murmele ich. Mehr kann ich nicht sagen. Mein Geruchssinn ist nicht gut genug, um das Blut einem Wolf zuzuordnen. Aber vielleicht will ich es auch gar nicht wissen. Vielleicht gibt es einen Teil von mir, der sich gegen die Wahrheit zu sperren versucht.

Didi tritt neben mich und mustert die Spur, die zum Zaun führt. "Blut gefriert bei etwa 3° Grad Celsius. Aber wir haben schon die ganze Nacht und den ganzen Morgen Temperaturen um den Gefrierpunkt, also..." Er wirft mir einen um Verzeihung suchenden Blick zu.

Ich zwinge mich zu einem verständnisvollen Nicken, dann folge ich Pierre und Louanne zum Zaun. Die Siegel verströmen ein gleißendes Licht, das mir grünlich vorkommt, auch wenn es eigentlich violett ist.

"Da ist ein Waldweg", bemerkt Pierre. "Er führt direkt am Zaun entlang." Er springt an das Maschendrahtgeflecht und klettert in die Höhe, um besser sehen zu können. "Vermutlich führt der Weg zur Hauptstraße nach Poussant."

Plötzlich gibt der Zaun unter seinem Gewicht nach und wir bemerken, dass jemand einen großen Schlitz hineingeschnitten hat. Schon wieder habe ich das Gefühl, ein Déjà-vu zu erleben. Pierre rettet sich mit einem Sprung und einer erstaunlich eleganten Schulterrolle vor dem Sturz.

"Wie kann das sein?", flüstert Didi. "Der Zaun sollte doch repariert sein."

"Ja, sollte", erwidere ich düster und deute auf die Reifenspuren, die sich auf dem Waldweg im dünnen Schnee abzeichnen. Dort endet die Blutspur. Entweder ist es meinem schwer verletzten Mate irgendwie gelungen, sich zu seinem Wagen zu retten, oder er wurde gegen seinen Willen von hier weggeschafft.

Mon Loup: Mein WinterwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt