Chapitre 57

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Ein bekanntes Bild. Das Haus an der Küste. Steile Kreidefelsen, aufgewühlter Ozean, hellgraue Steinmauern, Efeu und Zaunwinden. Vorsichtig nähere ich mich dem Gebäude. Im Vorgarten blühen Lavendel und Narzissen. Ich vernehme das Gluckern des kleinen Bachs, der am Haus vorbeiführt. Das träge Knarzen des Mühlrads. Das Summen der Zikaden. Das Säuseln des Windes und das Rauschen des Meeres. Doch all diese Geräusche werden von einer schweren, drückenden Stille überlagert. Als wäre die Natur das Orchester und der Tod höchstselbst der Dirigent. Die Luft ist zäh wie Honig und schmeckt bitter wie Wermut.

Ich lege die Ohren an, um mich durch den Türspalt zu zwängen. Doch ich bin unvorsichtig. Der Nelkenkranz, der an einem Haken über dem Türfenster hängt, fällt herunter und trifft mich am Rücken. Vor Schreck mache ich einen Satz. Meine Krallen kratzen über den Fliesenboden. Ich rutsche aus und lande in einer glitschigen Blutlache. Ich will mich aufrichten, kann aber trotz meiner vier Pfoten keinen festen Stand finden. Meine Knie sind weich, meine Nase riecht nur noch Blut. Schwer und metallisch. Wie ein eiserner Anker zieht es mich hinunter.

Dann sehe ich einen Schemen in der Dunkelheit. Ich starre. Benutze meine Augen, auch wenn ich besser meine Nase verwendet hätte. Fell. Dunkelgraues Fell. Vorsichtig tapse ich darauf zu, halte mich irgendwie auf den Beinen. Ein Wolf. Vor mir liegt ein Wolf auf einem dünnen Sisalteppich. Seine Kehle ist durchgebissen. Die hellblauen Augen starren blicklos zur glockenförmigen Deckenlampe hinauf. Mein großer Bruder Frédéric. Sein Körper zeigt Anzeichen eines Kampfes. Zerzaustes Fell. Bisswunden. Ich stupse ihn mit der Schnauze an. Rieche an seinem leblosen Körper und spüre einen starken, gestaltlosen Schmerz. Eine Welle an Erinnerungen. Ich wehre mich dagegen. Dränge sie mit Gewalt zurück. Schlucke sie herunter.

Im gleichen Moment entdecke ich einen zweiten toten Wolf, der etwas weiter hinten im Wohnzimmer liegt. Auf schwachen Beinen stakse ich über die Schwelle. Ich komme mir vor, als würde ich über Watte wandern. Noch ein Wolf, halb verborgen unter einer verbeulten Kunstledercouch. Ein umgeworfener Sessel. Bücher, die aus den Regalen gefallen sind. Zerdepperte Vasen. Ein vierter Wolf an der Tür zur Küche. Ein Welpe. Vielleicht fünf Jahre alt. Sein Fell ist ganz weich und blutbesudelt, aber er hat die gleichen blauen Augen wie die anderen Wölfe. Der Schmerz in meiner Brust wird so stark, dass ich das Gefühl habe, nicht mehr atmen zu können. Es zerreißt mich. Ich will, dass es aufhört.

Und dann hört es auf. Ich fühle nichts mehr. Wie benommen wandele ich durch die Zimmer des Hauses, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Mein Blick gleitet über die Relikte der Vergangenheit. Die zerfledderten Bücher, aus denen unsere Eltern uns vorgelesen haben. Die krakeligen Bilder, die wir ihnen zum Dank gemalt haben und die gerahmt wie teure Kunstwerke den Treppenaufgang zieren. Der flauschige Badezimmerteppich, auf dem ich als Welpe bevorzugt geschlafen habe. Der Glastisch, an dem sich mein Bruder beim Toben den Kopf angeschlagen hat. Eine verstaubte Kiste mit Bällen und Beißringen, auf denen wir beim Zahnen herumgekaut haben. Das meiste davon ist mit glücklichen Erinnerungen verbunden. Doch ich werde nie wieder daran denken und so etwas wie Glück empfinden können. Das ganze Haus ist blutdurchtränkt und von Schatten durchzogen. Eine Krankheit hat davon Besitz ergriffen, als wäre das Unheil in die Bausubstanz gesickert und hätte den Boden verdorben.

Die Leichen meiner Verwandten pflastern die Räume wie Hagelkörner nach einem Sturm. Sie liegen einfach bloß da. So leblos und fremd. Der Tod hat sie verändert, hat ihnen alles genommen, was sie im Leben ausgemacht hat. Ich erkenne sie kaum wieder. In gewisser Weise sind es nicht meine Brüder und Schwestern, meine Nichten und Neffen, Tanten und Onkel. Es sind Puppen, die zufällig genauso aussehen wie die Wölfe, die ich liebe.

Ich tapse von Zimmer zu Zimmer. Es kümmert mich nicht mehr, wer mich hören oder riechen könnte. Der Sturm ist vorüber. Der Schaden ist angerichtet. Meine Bewegungen sind mechanisch. Ich komme mir vor wie ein Aufziehspielzeug. Mit einem Herz aus eisernen Zahnrädern, die dringend mal wieder geölt werden müssten. Ich weiß nicht, wie lange der Mechanismus mich noch antreiben wird. Vermutlich nicht mehr lange. Und wenn ich dann stehen bleibe, wird es niemanden mehr geben, der mich wieder aufziehen kann.

Meine Eltern finde ich im Kaminzimmer. Jedes Rudelhaus hat so einen Raum, der Wärme und Behaglichkeit ausstrahlt. Mit einem Holzdielenboden, der von Krallenspuren gemasert ist, und den Bildern der Vorfahren an den Wänden. Diese Gemälde fehlen bei uns. Meine Eltern konnten sie damals nicht mitnehmen, als sie aus Algerien nach Frankreich gekommen sind. Dafür sind die Wände mit Fotos geschmückt. Eindrücke aus glücklicheren Tagen. Doch irgendjemand hat die Fotos abgerissen und sie im Kamin verbrannt. Jedes einzelne. Die resultierende Asche hat er auf dem Boden vor dem Kamin verstreut und meine Eltern darauf aufgebart. Da liegen sie nun. Zwei reglose Körper, die mit Blut und Asche beschmutzt sind. Vier Augen, die immer nur das Wohlergehen ihrer Welpen im Blick hatten. Zwei Schnauzen, die sich kalt und trocken anfühlen. Nicht mehr warm und feucht, wie früher, wenn sie vor dem Schlafengehen mein Fell sauber geleckt haben.

In gewisser Weise bin ich froh, dass meine Eltern tot sind. Der Schmerz, ihre Geschwister und beinahe alle ihre Welpen zu verlieren, wäre zu viel für sie gewesen. Ist es auch zu viel für mich? Woher soll ich das wissen? Woher wissen wir, was wir ertragen können, bevor wir daran scheitern? Es gibt nichts, was einen Menschen oder Wolf auf eine solche Tragödie vorbereiten könnte. Als Wolf ertrage ich das Geschehene mit der Gelassenheit eines Wesens, das den Tod als Teil der natürlichen Ordnung begreift. Als Mensch sage ich mit einer Bitterkeit, die nur meinesgleichen empfinden kann: La mort est roi. Vive la mort!

Mon Loup: Mein WinterwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt