Chapitre 30

245 55 21
                                    

Die Stimme gehört Henris Oma. Sie ist 74 Jahre alt, aber nach eigener Aussage noch immer en pleine forme. Nur die Gicht sei ein Problem. Gerade deswegen sei sie froh, dass sie Henri – ihren petit trésor – habe. Wenn sie das sagt, leuchten ihre wasserblauen, von filigranen Runzeln und tiefen Furchen umgebenen Augen auf. Henri scheint ihr exzessives Lob ein wenig peinlich zu sein. Er widerspricht höflich und wirft mir über den Tresen hinweg verstohlene Blicke zu, als wollte er sagen: Ich liebe sie, aber sie übertreibt maßlos.

"Und du kommst aus Paris, Liebes?", fragt Madame Fournier, als wir wenig später an einem der Tische sitzen und Kakao mit Zimt und Sahne trinken. Dabei legt sie ihre zarte, von bläulichen Adern und knotigen Wucherungen überzogene Hand auf meine.

"Geboren und aufgewachsen in Passy", erwidere ich lächelnd. Alte Menschen mögen mich und ich mag alte Menschen. Ich bewundere ihre Lebenserfahrung und die ätherische Eleganz, die sich viele von ihnen bis ins hohe Alter bewahren.

"Und was studierst du?", fragt Madame Fournier weiter.

"Chloé geht noch zur Schule", antwortet Henri an meiner Stelle. "Und du sollst sie nicht so ausfragen."

"Aber ich muss doch wissen, wer die hübsche junge Frau an deiner Seite ist", empört sich seine Großmutter. Ihr rundliches, von feinen Locken umrahmtes Gesicht hat trotz der Falten und Altersflecken etwas Puppenhaftes. Sie sieht beinahe so niedlich aus wie ein kleines Mädchen.

Ich nippe an meinem Kakao und freue mich über das Kompliment. Dabei fällt mein Blick durch die Fensterscheibe auf die Straße vor dem Café. Dort parkt noch immer Bernards Range Rover. Mein Aufpasser selbst lehnt an der Motorhaube und raucht. Es ist ewig her, dass ich Bernard zuletzt rauchen gesehen habe. Eigentlich habe ich gedacht, er hätte sich diese unschöne Angewohnheit abgewöhnt.

"Ein zwielichtiger Typ, nicht wahr?", fragt Madame Fournier. "Ich habe das Gefühl, dass er dich beobachtet, Kindchen."

Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

"Nein, mamie. Das ist der Kerl, der unsere Tür kaputt gemacht hat", erklärt Henri. Er sieht aus, als würde er Bernard gern zur Rede stellen und mir wird klar, dass ich schnell eingreifen muss, bevor er etwas Dummes versucht.

"Sein Name ist Bernard. Er ist mein Onkel", flunkere ich. Eine Ausrede, die ich schon häufig verwendet habe, um zu erklären, warum ich während einer ausgelassenen Party in ein Auto mit laufendem Motor gezerrt werde. Mein Vater hat es in der Vergangenheit immer Bernard überlassen, mich für meine Vergehen zu bestrafen oder einzuschreiten, wenn ich ein klein wenig über die Stränge geschlagen bin.

"Dein Onkel?", wiederholt Madame Fournier ungläubig. "Sag' das doch gleich." Sie stützt sich auf ihren Gehstock und quält sich auf die geschwollenen Beine.

"Was hast du vor, mamie?", fragt Henri.

"Na, was wohl?", erwidert seine Oma. "Ich werde ihn hereinbitten. Chloés Onkel sollte nicht draußen in der Kälte ausharren müssen."

Ich gebe Henri mit Blicken zu verstehen, dass ich das für keine gute Idee halte. Doch selbst mit vereinten Kräften gelingt es uns nicht, seine Oma von ihrem Vorhaben abzubringen. Wir können nur tatenlos zusehen, wie sie ins Freie humpelt und auf Bernard zugeht. Es ist, als würde ich einem Autounfall zusehen. Alles scheint in Zeitlupe abzulaufen. Halb rechne ich damit, dass er sie ignoriert. Halb befürchte ich, er könnte sie nicht ignorieren. Bernard auf eine heiße Schokolade einzuladen, ist, als würde man einen schlafenden Löwen mit einem Bund Petersilie kitzeln.

Doch meine Bedenken stellen sich als unbegründet heraus. Fassungslos beobachte ich, wie sich Bernard von Madame Fournier in eine Unterhaltung verstricken lässt, freundlich lächelt, seine Zigarette austritt und der alten Dame ins Innere des Cafés folgt.

Beim Eintreten wirft er mir hinter dem Rücken der alten Dame einen mörderischen Blick zu. Er scheint zu denken, dass wir nach dieser Angelegenheit mehr als quitt sein werden und ich bin versucht, ihm zuzustimmen.

"Sieh' an, ich habe deinen Onkel völlig falsch eingeschätzt." Madame Fournier dreht sich um und strahlt Bernard an. Sofort zwingt er sich wieder zu einem Lächeln. "So ein netter Mann, Chloé."

"Dieser nette Mann hat unsere Tür kaputt gemacht", gibt Henri zu bedenken.

"Das war bestimmt nur ein Missverständnis", erwidert seine Oma und bittet Bernard mit einer einladenden Geste, bei uns am Tisch Platz zu nehmen.

Die schwarze Katze, die durch das Lokal stolziert als wäre sie die Hausherrin, lässt ein aggressives Fauchen vernehmen und flüchtet sich hinter die Theke. Anscheinend ist Bernard bei unseren felinen Artgenossen auch nicht sonderlich beliebt.

Nachdem Onkel Bernard mit einer heißen Schokolade und einem Stück Torte versorgt ist, scheint Madame Fournier endlich wieder zur Ruhe zu kommen. Vermutlich keine Sekunde zu früh, denn sie wirkt erschöpft und atmet schwer. Mir wird klar, dass sie keineswegs bei so guter Gesundheit ist, wie sie uns vorzumachen versucht.

"Du solltest dich ausruhen, mamie", sagt Henri mit sorgenvoll gerunzelten Brauen. "Komm', ich bringe dich nach oben."

Seine Oma macht eine abwiegelnde Handbewegung. "Nein, nein, schon gut. Ich muss mich nur kurz ausruhen."

"Ihr Blutzucker ist zu niedrig", meint Bernard und schiebt Madame Fournier seinen Kuchenteller hin. "Essen Sie ein Stück, dann geht es Ihnen gleich besser."

Ich werfe ihm einen fragenden Blick zu und er tippt sich unauffällig an die Nasenspitze. "Ja, ja", stimme ich mit ein. Bernard muss ihren erniedrigten Blutzuckerspiegel gerochen haben. "Hier, ich helfe Ihnen", setze ich nach und teile mit der Gabel ein Stück Kuchen ab.

Zum Glück gibt Henris Oma nach und lässt sich die Gabel reichen. Zitternd führt sie den Kuchen zum Mund. Schon nach dem ersten Bissen scheint es ihr besser zu gehen. Wenige Minuten später hat sie fast das gesamte Tortenstück verputzt und wirkt wieder deutlich munterer.

Während sie Bernard über Beruf und Freundin ausquetscht, nutzen Henri und ich die Gelegenheit, um über Kunst und Literatur zu fachsimpeln. Henri ist ein großer Fan von Alexandre Dumas. Ich liebe alte Mantel-und-Degen-Filme. Mein Herz gehört den klaren Farben und kräftigen Grüntönen auf den postimpressionistischen Gemälden von Rousseau, Henri hat den gleichen Vornamen wie der Künstler. Es ist fast ein wenig gruselig, wie gut wir zusammenpassen. Die ganze Zeit über kann ich nicht anders, als ihm in die Augen zu sehen, in dieses hübsche Karamellbraun, und mich zu fragen, wie ich diese Farbe wohl in meinem Malkasten zusammenmischen könnte.

Unser geselliges Beisammensein wird jedoch abermals gestört. Dieses Mal durch ein seltsames Pärchen, bei dessen Anblick Henris Lächeln erstarrt und der Ausdruck in seinen Augen kalt und abweisend wird.

Mon Loup: Mein WinterwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt