Chapitre 86

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Ich halte den Atem an und warte darauf, dass die Rückwand des Kamins oder der Boden unter Henris Füßen nachgeben. Doch nichts davon geschieht.

"Ach", macht Henri ärgerlich.

"Was ist?"

"Das war nur die Klappe vom Rauchabzug."

Bernard seufzt. "Hier gibt es keinen Geheimgang. Selbst als Wolf würde ich nichts finden."

Ein großer Klumpen der Enttäuschung sackt in meine Magengrube, aber ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen.

Henri klettert wieder aus dem Kamin. Er sieht frustriert aus und klopft sich den Ruß aus den Haaren. "Tut mir leid."

"Das bedeutet, der Geheimgang führt nicht zur Hütte", murmelt Bernard und wendet sich ab. Langsam spaziert er zur Tür hinüber. Dabei reibt er mit der Hand über seine freie Gesichtshälfte.

Ich werde ungeduldig. Die Zeit läuft uns davon. Wer weiß schon, wie die Verhandlungen zwischen meinen Eltern und Guy Durand verlaufen und wie lange sie dauern werden?

"Als ich Guillaume das erste Mal im Wald entdeckt habe, war das nicht weit von hier", brummt Bernard. "Ich habe mich gewundert, was er dort gemacht haben könnte. Doch ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Sein Geruch hat mich abgelenkt."

Ich erinnere mich an meinen ersten Traum. An den struppigen Wolf mit den roten Augen und an den Geruch, der mir beinahe körperliche Schmerzen zugefügt hat. Inzwischen verstehe ich, was ich damals wahrgenommen und wieso ich so empfunden habe.

"Also endet der Geheimgang vielleicht nicht hier, sondern an einer anderen Stelle im Wald", schlägt Henri vor. Er hat den Satz kaum vollendet, da ist Bernard schon zur Tür hinaus.

Henri und ich müssen uns beeilen, um ihn einzuholen. Als wir bei ihm ankommen, hat er sich schon ausgezogen und verwandelt. Ich zupfe ihm das Verbandszeug von der Schnauze. Dann machen wir uns zum wiederholten Mal auf den Weg.

Als Wolf bewegt sich Bernard schnell und zielstrebig. Seine dreieckigen Ohren zucken unablässig und seine eisblauen Augen wandern suchend über den Waldboden, während seine Nase die eigentliche Arbeit erledigt. Geschmeidig wie ein Jungwolf schlängelt er sich durch das Gestrüpp, während Henri und ich häufig Umwege machen müssen.

Nach einigen Minuten kommen wir an einen kleinen Windbruch. Die entwurzelten Bäume liegen hangaufwärts geneigt, ihre Wurzelballen ragen mitsamt der dazugehörigen Erde in die Luft.

Leichtfüßig springt Bernard über die Stämme und verschwindet schon bald aus meinem Sichtfeld.

Ich bleibe stehen und lasse meinen Blick über das Unterholz wandern, das uns umgibt. Meine Lider senken sich. Ich atme den Duft der Natur ein. Erdig. Harzig. Ein bisschen muffig. Die Gerüche werden von Sekunde zu Sekunde intensiver. Das transzendente Knistern und Raunen des Waldes schwillt an, als würde es von einer Brandungswelle in meine Richtung getragen. Manchmal habe ich diese Momente, in denen meine Wolfssinne aus keinem nachvollziehbaren Grund stärker werden. Früher fand ich das nervig. Jetzt ist es katastrophal.

Denn die Geräusche und Gerüche bringen auch Erinnerungen mit sich. An eine missglückte Flucht. An schwarze Wölfe mit roten Augen, die sich gegenseitig zerfleischen. An eine finstere, viel zu enge Felsspalte. An nackte Todesangst. Die Erinnerungen sind seltsam. Irgendwie zerrissen. Irgendwie durcheinander. Irgendwie nicht meins. Natürlich nicht. Denn ich war ein Wolf, als ich sie gemacht habe. Und Wölfe erinnern sich anders. Trotzdem schnüren mir diese Eindrücke die Kehle zusammen. Meine Fingerspitzen werden kalt, meine Lippen kribbeln. Ich fürchte mich. Fürchte, die Beherrschung zu verlieren.

"Chloé?" Henri fasst mich an den Schultern und betrachtet mein Gesicht. Seine Miene ist verschwommen. Ich muss mich nicht im Spiegel sehen, um zu wissen, dass meine Augen goldfarbenes Mondschimmern zeigen. "Alles in Ordnung?"

"Ja ...", antworte ich schwach, aber Henri sieht mühelos durch meine brüchige Fassade.

"Das ist bestimmt nur eine Angstattacke", sagt er, schlingt einen Arm um meine Taille und dreht sich um die eigene Achse, sodass ich herumgewirbelt und etwas unsanft gegen seinen Körper gepresst werde. "Sieh' mal", haucht er und deutet mit ausgestrecktem Arm zum Himmel hinauf, der wegen des niedergedrückten Sturmholzes gut zu sehen ist. Zwischen den Wolken schimmern einzelne Sterne hervor. "Der Sternenhimmel. Ist doch schön, oder?"

Die Sterne scheinen endlos weit weg zu sein. Genau wie ich selbst.

"Das da ist Orion", erklärt Henri ohne den Arm zu senken. "Und da vorne ... der Große und der Kleine Hund."

Er lächelt mich erwartungsvoll an. Als müsste ich mich freuen, weil er eine verwandte Spezies erwähnt hat. Und tatsächlich. Ein flüchtiges Lächeln zuckt über mein Gesicht. Es ist wie verhext.

Henri zieht mich noch etwas enger an sich. "Der Stern da, beim Großen Hund, das ist Sirius. Der hellste Stern am Nachthimmel. Er ist nur knapp 9 Lichtjahre entfernt und etwa 240 Millionen Jahre jung. Stell' dir das mal vor. 240 Millionen Jahre."

Ich stelle es mir vor. Wir sind nur winzige Funken in der Asche eines sterbenden Universums. Jede Sekunde ist ein Tropfen Unendlichkeit, der in einem See des Vergessens versinkt. Wie lautet noch gleich das Gegenteil von Ewigkeit? Große Gedanken machen mein Wolfshirn müde und besänftigen meine Gefühle. Ich kann wieder freier atmen.

Zum Dank strecke ich mich und küsse Henri auf die Wange. Dann löse ich mich von ihm und klettere mit zittrigen Fingern auf die entwurzelten Bäume hinauf. Mit dem Golfschläger stütze ich mich ab und springe von Stamm zu Stamm. In den Himmel aufragende Äste zwingen mich zu einem kleinen Ballett. Die knorrige Rinde bröckelt unter meinen Schuhsohlen. Da es abwärts geht, muss ich meinen Lauf ein paar Mal bremsen, um nicht den Halt zu verlieren. Henri folgt mir. Nicht unbedingt graziler, aber deutlich enthusiastischer.

Es dauert nicht lange, bis wir die andere Seite erreichen. Dort werden wir schon von Bernard erwartet. Er schnappt nach meinem Hosenbein und führt uns zu einem Loch im Boden, das mir unter normalen Bedingungen vermutlich nie aufgefallen wäre. Es liegt in einer moosbewachsenen Grube, ganz ähnlich der Vertiefung, in die ich bei meinem Kampf mit den zwei Solitaires gestürzt bin. Der Spalt wirkt im ersten Moment zu schmal, um sich hineinzuzwängen, doch als ich mich auf Hände und Knie herablasse, kann ich seine wahren Dimensionen erahnen.

Henri kauert sich neben mich und zieht eine kleine Stabtaschenlampe aus der Innentasche seiner Jacke. "Tut mir leid, aber ich sehe nicht so gut im Dunkeln." Er schaltet die Lampe an und leuchtet in die Finsternis.

Direkt unter uns befindet sich ein gemauerter Tunnel. Am Grund hat sich schmutziges Wasser angesammelt. Wurzeln und Flechten bedecken Mauern aus porösem Ziegelstein. Es riecht feucht und modrig.

"Das ist ein Geheimgang", frohlockt Henri, als hätte er den Heiligen Gral entdeckt.

Bernard drängelt sich zwischen uns hindurch und verschwindet mit einem Satz in der Dunkelheit.

Henri nimmt die Taschenlampe in den Mund, klemmt sich die Flinte unter den Arm und folgt ihm. Wasser spritzt, als er mit den Füßen in der Pfütze landet. Nachdem er sich orientiert hat, streckt er die Arme aus, um mir zu helfen.

Ich seufze innerlich, setze mich auf den Hintern und lasse mich in die Tiefe gleiten.

Mon Loup: Mein WinterwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt