Chapitre 70

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Kaum ist das Heulen verklungen, wird die Tür zu unserem Zimmer aufgerissen und Bernard erscheint auf der Schwelle. "Chloé? Henri?"

Ich rolle von Henri herunter auf meine Seite des Betts und bemühe mich, meine Verlegenheit zu überspielen. "Ja?"

Bernards gewohnt stoische Miene zeigt keine Regung. Trotzdem bin ich mir sicher, dass er weiß, was zwischen Henri und mir vorgefallen ist. Schließlich ist er mein Mate. Diese Vorstellung gefällt mir immer weniger. Es kommt mir vor, als hätte ich plötzlich kein Privatleben mehr.

"Wir kriegen Besuch", erklärt Bernard und will sich schon wieder abwenden. Dann scheint er es sich jedoch noch einmal anders zu überlegen und ergänzt: "Und damit meine ich nicht die kriminellen Nachbarn."

Henri schlägt die Decke zurück und schwingt die Beine aus dem Bett. "Kann ich etwas tun?"

"Ja", antwortet Bernard, während er in der Diele verschwindet. "Am Leben bleiben."

Henri verharrt unschlüssig auf der Stelle. "Hat er das ernst gemeint?"

"Ich glaube schon", erwidere ich und quäle mich aus dem Bett. Mein Bein ist einigermaßen schmerzfrei, aber mein Rücken fühlt sich an wie eine steife Schiffsplanke, die eben erst einen schweren Sturm überstanden hat. "Und ich denke da genau wie er. Es wäre mir sehr recht, wenn du am Leben bleiben würdest."

"Na und mir erst", gibt Henri zurück und streckt mir den Arm hin, damit ich mich daran festhalten kann.

Das Heulen wiederholt sich. Es wird vom Alpha des Rudels initiiert und von den restlichen Wölfen aufgegriffen. Ein eisiger Schauer kriecht meine Wirbelsäule hinauf. Obwohl ich im Moment ein Mensch bin, kann ich die Drohung in der Tonlage des Alphas erahnen. Seinen Zorn. Seinen abgrundtiefen Hass.

"Nicht gerade unauffällig", meint Henri, während er mir zur Tür hilft. Als er meinen fragenden Blick bemerkt, fügt er hinzu: "Na, jetzt wissen wir, dass sie kommen. Es wäre doch viel schlauer gewesen, sich anzuschleichen und uns zu überraschen."

Auf der anderen Seite der Türschwelle liegt eine kleine Diele, von der zwei weitere Türen und eine enge Treppe abzweigen. Die Wände sind - genau wie in Henris Zimmer - von einer abgewetzten Raufasertapete bedeckt. Durch eine halb offene Tür kann ich einen Blick in das altmodische Badezimmer werfen. Waschbecken, Toilette und Badewanne bestehen aus waldgrüner Keramik. Durch die hellbraunen Fliesen und das kleine Fenster wirkt der Raum sehr dunkel und vollgestopft, auch wenn ich nur wenig Krimskrams ausmachen kann. Lediglich auf der Ablage über dem Waschbecken stehen ein paar Kosmetik- und Waschutensilien. Unsere drei Badezimmer im Rudelhaus quellen dagegen über. Allein Chalice' selbstgemachte Naturkosmetik-Sammlung benötigt ein ganzes Regal. Und meine Mutter sammelt teure Parfümflakons, die alle einen besonderen Platz in ihrem Badezimmer haben. Dazu kommen die Unmengen an Deos, die wir im Sommer verschleißen, um den Wolfsgeruch zu überdecken.

Die schmale Treppe führt hinunter ins Café, wo wir bereits von Bernard, Chalice und Madame Fournier erwartet werden. Henris Oma sitzt auf einem Stuhl am Tresen, die Schrotflinte, die ich noch von meiner ersten Begegnung mit Henri kenne, auf dem Schoß. Sie trägt eine altrosafarbene Bluse unter einem hellgrauen Wollkardigan und wirkt bereit, in die Schlacht zu ziehen. Auf ihrem Puppengesicht liegt die ganze Entschlossenheit einer Frau, die in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist, einen Weltkrieg und einen Ehemann überlebt hat und ein Café beinahe in die Pleite gewirtschaftet hätte.

"Was sollen wir tun?", frage ich, ohne um den heißen Brei herumzureden.

"Chalice und ich haben bereits alle Ein- und Ausgänge verriegelt", erklärt Bernard. "Aber wir müssen uns noch um die Fenster kümmern."

Leider gibt es im Café viele Fenster. Ohne entsprechendes Werkzeug wird es unmöglich sein, sie effektiv zu verrammeln.

"Unten im Keller sind noch die Spanplatten, die wir nach dem Einbruch zum Abdichten der Fenster verwendet haben", sagt Henri.

Bernard nickt ihm zu und die beiden Männer verschwinden im Korridor beim Hinterausgang. Dort führt eine weitere Treppe in einen Keller, dem ein modriger Geruch entströmt.

"Wie geht es Ihnen?", erkundigt sich Chalice bei Madame Fournier. "Werden Sie das durchstehen?"

Henris Oma lächelt nachsichtig und tätschelt den Lauf ihrer Flinte. "Ich hab' schon Wölfe abgeknallt, da waren Sie noch gar nicht geboren." Die alte Dame mustert Chalice neugierig. "Sie sind also die Frau von Chloés Onkel?"

"Oh, nein", wehrt Chalice ab und streicht sich etwas verlegen eine widerspenstige Locke hinters Ohr. "Bernard und ich sind nicht verheiratet. Wir führen eher so etwas wie eine wilde Ehe."

Mein Blick fällt durch die Fenster auf die Straße hinaus. Ein unangenehmer Schneeregen wird vom Sturm durch die schmale Häuserschlucht gewälzt. Rhythmisch prasseln die Tropfen auf das Kopfsteinpflaster und verwandeln den Schnee auf den Bürgersteigen und Autodächern in grauen Matsch. In regelmäßigen Abständen wird der Himmel über der kleinen Stadt von Blitzen erleuchtet und die Donner sind so laut und intensiv, dass es sich jedes Mal anfühlt, als würde der Boden unter meinen Füßen vibrieren.

"Du hast doch nicht immer noch Angst vor Gewitter, oder?", fragt Chalice mit einem Augenzwinkern.

"Nein", lüge ich. "Kein bisschen."

Im nächsten Moment zucke ich erschrocken zurück und stoße gegen einen der Barhocker, die vor dem Tresen aufgereiht stehen. Auf der Straße vor dem Café ist ein Wolf aufgetaucht. Er ist so rabenschwarz, dass er mit der Dunkelheit abseits der Weihnachtsbeleuchtung zu verschmelzen scheint. Das ist es jedoch nicht, was mir Angst gemacht hat. Der Wolf ist groß und schlank, mit langen Läufen und einem sehnig-muskulösen Körper, der Zähigkeit und Ausdauer verspricht. Seine Augen sind so intensiv rot, dass es aussieht, als würden sie von innen brennen. Schlecht verheilte Narben zieren seine Haut und winden sich wie Geschwüre durch sein dichtes Fell.

Hoch aufgerichtet steht der schwarze Wolf auf der Straße und es ist, als würde durch ihn etwas Wildes, Urtümliches in diese Welt Einzug halten. Als wäre der Schleier der Zivilisation plötzlich dünn geworden. Als könnte ich die barbarische Dunkelheit sehen, die dahinter hervorquillt. Mir ist sofort klar: Dieser Wolf ist kein Stadtwolf, sondern ein Krieger. Ein Alpha. Im archaischsten Sinne. Ein Wolf, der gelernt hat, zu kämpfen und sich durchzusetzen. Nicht weil er klug und freundlich ist, sondern weil er jeden tötet, der es wagt, ihn herauszufordern.

Mein hilfesuchender Blick wandert zu Chalice, die den fremden Wolf ebenfalls bemerkt hat. Ihr sonst so heiteres Gesicht verwandelt sich in eine starre Maske. "Das ist er, oder?", flüstere ich.

Chalice nickt. "Guy Durand."

Mon Loup: Mein WinterwolfWo Geschichten leben. Entdecke jetzt