1609

12K 749 21
                                    

Über das Blatt gebeugt sassen die kleinen Kinder da. Stolz ruhte der Blick der Erzieherin auf ihren Schützlingen. Mathilde nahm an, sie würden mit den kürzlich erhaltenen Farben malen und somit ihre künstlerische Kreativität entdecken — ein wichtiger Schritt im Leben eines Kindes. Dass Anne und Aramis nicht wegen den prächtigen Farben kicherten, konnte die gute Frau nicht wissen. Dass die Kinder gerade den nächsten Streich an ihr ausheckten, noch weniger.

Aramis zeichnete Anne auf, wie er seinen Streich plante und sie meckerte an jedem Detail herum, bis auch das Mädchen daran glaubte, dass es so gelingen könnte. Schliesslich schlichen die Kleinen von ihrer Zeichenecke weg, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Auf ging es durch den breiten Spalt des kalten Metallhages, durch das Gemüsebeet. Leise, dass der freundliche Gärtner nichts mitbekam. Als eine fette, braune Ratte vorbei huschte, kreischte Anne kurz auf. Um sie zum Schweigen zu bringen, legte ihr Aramis die Hand auf den Mund. „Shht, nicht so laut, sonst hört uns der Gärtner noch!" Sie nickte und zog an seiner Hand herum um los zu kommen. Er solle sie endlich loslassen, zischte sie. „Damit der Gärtner auf uns aufmerksam wird und der Streich misslingt? Nein!"

„Aber ich habe eine Idee!" Mit fragendem Gesicht liess Aramis die Hand sinken. „Was denn für eine?" Theatralisch reckte die Kleine das Kinn, trotzdem überragte ihr Spielgenosse sie noch um einige Zentimeter. „Ich habe Angst vor Ratten. Sie sind eklig und schmutzig." Aramis wollte wissen, was das jetzt mit ihrem Streich zu tun hatte. „Vielleicht mag Mathilde Ratten auch nicht!" Die beiden Kinder grinsten sich an. Jetzt würde ihr Streich noch viel besser werden!

Leise schlichen sie dem Nager durch den Gemüsegarten nach. Aramis voraus, Anne an seiner Hand hinterher. Sie wollte grundsätzlich immer als Erste gehen, aber bei Ratten liess sie lieber anderen den Vortritt. Diese waren wirklich nichts für Mädchen wie sie. Immerhin würde sie einmal eine Königin sein.

Vor dem Schuppen blieb die Ratte letztendlich sitzen. Sie knabberte an einem Stück Stoff herum, das der Gärtner achtlos liegengelassen hatte. Aramis liess Annes Hand los und bewegte sich lautlos näher, um sich blitzschnell auf das Tier zu stürzen. Quickend sass dieses nun unter seinen Händen fest. Strahlend zeigte Aramis seine Beute, doch Anne schauderte es nur. Die Kinder schlichen sich auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen waren, zurück und legten die vor Angst zitternde Ratte ungesehen in den Wäschekorb von Mathilde. Die Ratte wusste nicht, wie um sie geschah und auch als Aramis und Anne sich entfernten und sich auf der anderen Seite des Fensters hinknieten, blieb sie auf den sauberen Laken sitzen.

Die arme Amme trat nichts ahnend in das Zimmer, um ihren Wäschekorb zu holen und wie die Kleinen es sich gewünscht hatten, schrie sie auf und sprang vor Schreck sogar einige Meter vom Korb weg. Mathilde konnte Ratten nichts abgewinnen und verabscheute die Nager noch mehr als Anne, da sie sie für den Tod ihres Bruders verantwortlich machte. Dieser war nämlich an der Infektion eines Ratenbisses gestorben.

Durch die nicht aufhörenden Schreie Mathildes angelockt, riss der Herr des Hauses die Türe zur Wäschestube auf, um seine Angestellte zu beruhigen. Mit einem schnellen Blick sah er seine Tochter und den Nachbarsjungen davonsausen und als er auch noch die schlotternde Ratte sah, reime er sich gleich zusammen, was vorgefallen war.

Er konnte es Aramis nicht verübeln, dass er der Amme einen Streich gespielt hatte — er war nun mal ein Junge und sollte sich austoben — aber seine Tochter, sie sollte doch Königin werden und der König würde bestimmt keine unziemliche Frau, die sich mit solchen Kindereien abgab, an seiner Seite akzeptieren. Anne war noch jung, aber sie musste jetzt schon lernen, wie sich eine Dame aus gutem Hause zu benehmen hatte. Das gehörte zu ihrer Bürde als zukünftige Königin Frankreichs.

Mit hängendem Kopf trottete Anne an diesem Abend aus dem Haus. Niedergeschlagen erzählte sie Aramis von der Zurechtweisung ihres Vaters. Deutlich hatte der ihr klargemacht, dass sie keine Königin werden würde, wenn sie ihrem Personal Streiche spielte. Von jetzt an sollte sie jeden Nachmittag mehrere Stunden bei einer Anstandsdame lernen, wie sie sich zu benehmen hatte.

Aramis verstand das nicht. Er stampfte wütend auf den Boden, als seine Freundin zurück ins Haus schlurfte. Warum musste sie lernen sich zu benehmen? Wenn sie erst einmal Königin war, konnte sie doch so oder so tun und lassen, was sie wollte, warum durfte sie das dann jetzt nicht? Diese blöden Nachmittagsstunden würden sie doch bloss von Wichtigerem abhalten! Wer sollte jetzt mit ihm Musketier-und-Königin spielen, wenn nicht Anne? Keine konnte das so gut wie sie.

Das Leben einer KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt