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Aramis lehnte den Kopf ans Fenster und wartete ab. Eigentlich sollte Anne schon hier sein. Sie hatten sich doch um Zwei Uhr vor ihrer Haustüre treffen wollen, aber jetzt schlug es schon halb Drei und von Anne weit und breit keine Spur. Genervt trommelte er mit den Fingern auf das Fensterbrett. Sie liess ihn immer häufiger viel zu lange warten. Er wusste gar nicht, warum er überhaupt pünktlich kam und warum er wartete.

Er spielte schon mit dem Gedanken nach Hause zu gehen oder einen anderen Spielkameraden aufzusuchen, als sich die Türe doch noch öffnete. Ihr hellbraunes, schon fast blondes Haar tauchte hinter der schweren Holztür auf. Traurig blickten die grünen Augen in seine grauen. „Ich kann heute nicht. Ich muss noch lernen und Madame Lesère will mit mir noch an meiner Ausdrucksweise arbeiten. Es tut mir Leid, Aramis."

Geschockt starrte Aramis seine Freundin an. Erst liess sie ihn eine halbe Stunde im Regen vor ihrer Haustüre stehen, nur um ihn dann wegzuschicken? Dass war nicht die Anne, die er kannte. Diese hätte ihn nie auch nur eine Sekunde warten lassen. Die würde ihm nie irgendwelche lächerlichen Hofetiketten vorziehen. Stumm drehte er sich von ihr weg um machte einige Stritte in den Garten Richtung Tor. „Es tut mir wirklich Leid. Sehen wir uns morgen?"

„Spar dir deine Entschuldigungen. Darauf habe ich keine Lust. Aber von mir aus, lern du deine wunderschönen Ausdrucksweisen und lass mich weiter vor mich hin gammeln. Aber erwarte nicht, dass ich hier jeden Tag antanze, um dann abgeschoben zu werden. Wenn du langweilig, trocken, künstlich und überheblich werden willst, dann kannst du das meinetwegen machen, aber dann lass mich in Ruhe!"

„Wie bitte?!" Jetzt trat Anne ganz aus der Türe und stand mit blitzenden Augen vor ihrem Spielkameraden aus Kindertagen. „Ja, du hast recht gehört: Du bist langweilig!" Wütend baute sie sich vor ihrem Spielkameraden auf. „ICH BIN NICHT LANGWEILIG! Ich werde Königin!" Giftig schleuderte dieser Anne eine Antwort entgegen. „Aber nur, weil du einmal Königin wirst, heisst das nicht, dass du nicht langweilig bist", zischte er hämisch. „Und welcher König will schon eine langweilige Frau? Vielleicht findet er dann eine andere, eine interessantere! Aber wenn du so überzeugt bist, dass du nicht langweilig und steif bist, dann beweis es mir."

„Wie?", keuchte sie ausser Atem vor Wut. Er ging auf sie zu und verschränkte die Arme. „Heute Nacht. Du schleichst dich aus dem Haus und bringst eine Nachtblüte aus dem Wald mit. Diese zeigst du mir morgen früh als Beweis, dass du nicht langweilig bist." Anne schluckte. Ein Nachtblüte aus dem Wald? Sie konnte nicht tricksen. Sie musste nachts in den Wald, denn wie der Name schon sagte, blühte diese Blume nur nachts und war am Tag nicht zu finden. Zusätzlich wuchsen diese Blumen nur auf einer bestimmten Lichtung, zu der es keinen anderen Weg gab, als mitten durch das dunkelste Zentrum des Waldes. „Siehst du", grinste er, „ich wusste, dass du langw... "

„Ich mach's und ich werde dir diese Blume bringen. Darauf kannst du dich verlassen." Damit drehte sie sich mir rauschendem Kleid ab und zog die Türe hinter sich laut ins Schloss. Wütend kickte Aramis einen Stein von sich weg. Sie musste aber auch stur sein und konnte es nicht einfach bleiben lassen. Na gut, er hätte es wissen müssen, dass sie seine Herausforderung annehmen würde. Wenn er genauer darüber nachdachte, war ihm die ganze Sache doch nicht so geheuer.

Das Abendessen brachte Aramis kaum hinunter und das wenige, das er gegessen hatte, bereitete ihm Bauchschmerzen. Er entschloss sich, gleich nachdem ihm seine Mutter einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn gedrückt hatte, aus dem Fenster zu steigen und Anne von ihrem Vorhaben abzubringen. Er würde sich auch entschuldigen für das, was er gesagt hatte, aber dafür musste sie ihm versprechen, nicht alleine in den Wald zu gehen, wenn es dunkel war. Doch er kam zu spät. Als er das grosse Haus erreichte, war Anne schon auf dem Weg zur Waldlichtung. Ihm blieb nichts anderes übrig als abzuwarten.

Die Wolken zogen ihre Bahnen über den Himmel. Weit und breit keine Anne in Sicht. Als sich die Wolken auch noch zu grossen, dunklen Gebilden auftürmten und es zu regnen begann, bekam Aramis es mit der Angst zu tun. Niemand wusste, was Anne ganz alleine geschehen konnte. Er hätte diese Mutprobe einfach niemals vorschlagen dürfen. Er rannte zur Haustüre und klopfte wie ein Wahnsinniger an das massive Holz, bis ein wütender Monsieur Debarrie die Türe öffnete.

„Was in Gottes Namen?", rief der Mann aus. Aramis senkte den Kopf ehrerbietend. „Excusez-moi, Monsieur. Aber es ist wirklich wichtig." Und er erzählte dem Vater die ganze Geschichte, von Anfang an und ohne ein kleines Detail auszulassen.

Die Hand war schnell, doch nicht so schnell, als dass Aramis nicht hätte ausweichen können. Aber er wich nicht aus, denn er hatte es verdient. Noch immer mit brennender Wange machten sich Aramis, Monsieur Debarrie und alle männlichen Angestellten des Hauses mit Laternen ausgerüstet auf den Weg in den Wald um Anne zu finden.

„Anne? ANNE?", schrien alle durch das Dickicht. Doch von Anne keine Spur. Wenigstens hatte der Regen nachgelassen. Aramis fühlte sich mit jedem Schritt schlechter und schlechter. Nicht nur seine Wange brannten, nein, er fühlte sich auch ganz und gar nicht wohl in seiner Haut. Er war Schuld an all dem. Hätte er Anne nicht dazu gedrängt, würde sie jetzt nicht irgendwo alleine herumsitzen und sich fürchten. Neben den ganzen Schuldgefühlen hatte er auch noch Angst. Panische Angst, dass Anne etwas geschehen sein könnte. Dass sie verletzt war, gefangen oder vielleicht sogar schon tot! Erfroren in der kalten Nacht, Ertrunken in einem Weiher... Jedes erdenkliche Schreckensszenario ging dem Jungen durch den Kopf. Aramis vernahm ein leises Wimmern. Er blieb stehen und lauschte. Ganz klar, es kam aus dieser Richtung. Vorsichtig schob er sich durch das dichte Unterholz.

Weit entfernt, aber doch genug nah, dass er sie erkennen konnte, sass eine kleine Gestalt am Boden. Eingewickelt in einen samtig roten Mantel kauerte sie mit bebenden Schultern auf einer mondbeschienenen Lichtung. Aramis kannte diesen Mantel; der gehörte Anne. Er wagte es kaum zu atmen, aber er wusste, dass dies Anne sein musste. Und er musste zu ihr! Also rannte er los.

Dornen rissen ihm Löcher in die Kleider und hinterliessen Schrammen auf seiner Haut, aber es war ihm egal. Er merkte es nicht einmal richtig. Er wollte einfach nur zu dieser Lichtung gelangen und Anne in die Arme nehmen. Wieso weinte sie nur? Er musste sie trösten! Endlich stolperte er aus dem Dornenmeer hinaus, liess sich auf die Knie fallen und umarmte die kleine Gestallt so fest er konnte. Anne in seinen Armen zitterte und schluchzte leise in seine Schultern. Schliesslich löste sie sich von ihm und blickte ihn mit tränenverschleierten Augen an.

„Anne, was ist denn los? Warum weinst du? Du brauchst keine Angst mehr zu haben, ich bin jetzt da." Sie schniefte trotzig. „Ich weine nicht, weil ich Angst habe" - kleines Hicksen - „aber der Fuchs hat ein Kaninchen getötet. Schau nur wie jung es noch war. Und jetzt ist es tot und seine Mutter hat bestimmt ganz schreckliche Angst!" Erst als sie seinen Blick auf ihre Arme lenkte, sah er, dass Anne ein totes Kaninchen in den Armen hin und herwiegte. „Anne, es ist doch schon tot. Du kannst nichts mehr tun..."

„Bitte, Aramis." Sie flüsterte nur noch. Neue Tränen kullerten ihr über die Wangen. „Aber...", setzte er erneut an. „Bitte", flehte sie nur. Aramis wusste sich nicht zu helfen. Er wollte doch auch, dass das Kaninchen hüpfte und seine Anne glücklich war, aber er konnte es doch auch nicht wieder lebendig machen. Schweigend löste er Annes klammernde Finger aus dem Fell, stand auf und legte das Tierchen unter einem grossen Baum nieder. Aramis suchte die wenigen Blumen auf der Lichtung zusammen und ordnete sie um das Kaninchen herum an. Anne half ihm, als sie verstand, was er vorhatte. Minuten später legte Anne eine letzte blühende Nachtblüte zwischen die Pfoten des Tierchens und nahm schliesslich Aramis Hand. So standen die Zwei noch eine Weile ganz still vor dem Kaninchengrab. Auch auf dem Heimweg sagte keiner der beiden ein Wort, aber Aramis konnte nicht lange um das Tier trauern. Er war einfach zu glücklich, dass er seine Anne gesund und unversehrt zurück hatte. Auch Monsieur Debarrie brachte seiner Tochter für Geschichte mit dem toten Kaninchen kein Verständnis entgegen. Er schloss sie fest in die Arme und verschob die Strafpredigt auf den nächsten Morgen.

Das Leben einer KöniginWo Geschichten leben. Entdecke jetzt