„Was steht drin?"

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Mein Atem stockt und bleibt mir in der Kehle stecken. Ich spüre, wie mein Herzschlag sich verdoppelt und ich habe Angst, dass es mir jeden Augenblick aus der Brust springt. Mit großen Augen starre ich auf eine Zeile, die mein Leben verändert.

Ich bin angenommen!

Mein Traum geht endlich in Erfüllung! Endlich kann ich hier verschwinden. Raus aus diesem öden, eintönigen Leben. Aus dieser Kleinstadt, die ich achtzehn Jahre lang meine Heimat genannt habe. Aus den Fängen meiner kontrollierenden Mutter. Ich kann die Freiheit förmlich riechen.

Vor Freude springe ich in die Luft. "WOHOO!", brülle ich so laut wie ich kann. Mir ist es egal, ob ich damit Aufsehen erregt habe. Auf diesen einen Moment habe ich so hart hingearbeitet.

Ich spüre, wie sich Tränen in meinen Augen bilden und drohen jeden Moment über meine Wangen zu rollen. Ich halte sie nicht auf. Es sind Freudentränen. Diese sind immer willkommen. Besser als Tränen der Trauer. Diese habe ich schon zu oft in der Vergangenheit vergossen.

Immer noch ungläubig starre ich auf die Zeilen vor mir. Ich kann es nicht realisieren. Immer wieder lese ich diese eine Zeile. Wort für Wort. Zeichen für Zeichen. Die Wörter brennen sich in mein Gedächtnis ein.

In den letzten Monaten habe ich gebangt und gezittert. Jeden Tag saß ich auf der Veranda und habe ich auf den Postboten gewartet. Wartend auf einen einzelnen Brief, welcher über meine Zukunft entscheiden wird. Ich wurde immer enttäuscht. Bis heute. Heute ist mein Glückstag.

Ich schrecke zurück, als etwas weiches mein Bein streift. Ich schaue zu Boden und sehe Merlin. Er ist mein Kater, welchen ich vor vielen von Jahren zum Geburtstag geschenkt bekommen habe. Die großen, braunen Augen starren mich intensiv an. So als wolle er fragen, was gerade passiert ist. Mit einem Lächeln auf den Lippen beuge ich mich vor und hebe ihn hoch. Er weigert sich zuerst, doch beruhigt sich schnell. Mit der einen Hand halte ich den Brief in meinen Händen, während ich mit der anderen meinen flauschigen Kumpanen umschlinge.

Mit einem breiten Grinsen laufe ich zurück zur Veranda, wo ich mich niederlasse. Ich lehne mich an den Zaun, jedoch bedacht darauf das sich die Farbe nicht löst. Unser Haus ist alt. Mit der Zeit verliert es an Farbe. Auch die Stabilität lässt zu wünschen übrig. Leider gibt es keinen in der Familie, der handwerklich begabt ist. Weder ich noch meine Mutter. Wir beide haben zwei linke Hände. In den meisten Familien erledigt der Vater solche Probleme. Auf die Hilfe kann ich nicht zurückgreifen. Ich habe keinen Vater mehr. Er hat uns vor sieben Jahren verlassen. Einfach so. Ohne Grund.

Um die schweren Gedanken zu verdrängen und mich auf das wesentliche zu konzentrieren, streichle ich Merlins langes, braunes Fell. Er schnurrt glücklich und drängt nach mehr Streicheleinheiten. Ich lege den Brief beiseite und kraule den Kater an seinen Lieblingsstellen. Hinter dem rechten Ohr oder an seinem flauschigen Bauch. Je länger ich durch sein weiches Fell fahre, desto ruhiger wird er. Seine Augen werden immer träger, bis er einschläft und keinen Ton mehr von sich gibt.

Mit dem schlafenden Merlin im Arm, sehe ich zu, wie die Sonne langsam ihren Weg hinter den Bergen findet. Der feuerrote Ball sinkt mit jeder Minute, bis die Dämmerung einbricht. Die Eulen beginnen ihren Tag. Gemeinsam mit den Glühwürmchen. Ich schaue zu, wie sich einige von ihnen in den Gräsern vor dem Haus herumtummeln und ihr Leuchten immer größer und farbintensiver wird.

Mein Blick schweift ab, als ich sehe, wie ein schwarzes Auto die Einfahrt hinauffährt. Die Scheinwerfer blenden mich und Merlin schreckt aus seinem kurzen Schlaf auf. Er springt aus meinen Armen und rennt hinter das Haus.

Die Scheinwerfer erlöschen. Die Tür geht auf und meine Mutter steigt aus dem Wagen. Sie schließt die Tür und läuft auf mich zu. Ihren hohen Absätzen klappern auf dem dunklen Asphalt. Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. Ihr Blick ist die ganze Zeit auf mich gerichtet. Als sie den Brief sieht, huscht eine neugierige Miene über ihr Gesicht.

„Kind, warum sitzt du denn noch hier draußen? Es ist doch kalt!" Sie kramt nach dem Schlüssel in ihrer Tasche.

„Ich wollte auf dich warten. Es gibt Neuigkeiten." Ich stehe auf und halte das Stück Papier in den Händen.

„Damit hättest du auch drinnen warten können. Ich möchte nicht, dass du dich erkältest", sagt sie, während sie aufschließt und ins Haus hinein geht. Ich eile ihr hinterher.

„Es ist doch noch nicht so kalt und außerdem", fange ich an zu erzählen, doch werde prompt von ihr unterbrochen. „Ich möchte trotzdem nicht, dass du im Dunkeln noch draußen herumläufst. Jeweils nicht allein."

Ein Seufzer entweicht meinen Lippen. „Mama, was soll mir schon passieren. Jeder, in diesem Ort, kennt mich seit meiner Geburt. Die Mehrheit unserer Nachbarn sind Senioren."

„Es könnten auch Fremde einfach hierherfahren und nach unschuldigen Kindern suchen. Du weißt, dass sie nie wieder lebendig gefunden werden." Sie hält sich die Finger an die Schläfe.

"Ich bin achtzehn Jahre alt! Ich bin kein Kind mehr", sage ich.

„Ich möchte bloß, dass du in Sicherheit bist. Mehr verlange ich nicht von dir". Sie nimmt mein Gesicht in ihre Hände.

Da ist sie wieder. Die besorgte Seite meiner Mutter. Sie kommt immer dann zum Vorschein, wenn ich wieder etwas gegen ihre Ansichten mache. Sie hat jeden Tag bedenken, dass mir etwas zustoßen könnte. Egal ob es eine Erkältung ist oder ich in einen Unfall verwickelt werde. Ich weiß nicht, woher diese Ängste kommen. Doch seitdem mein Vater uns verlassen hat, versucht sie mich so gut es geht vor der Welt zu beschützten. Besser gesagt, vor den Menschen auf dieser Welt. Sie möchte nicht, dass ich jemanden wie meinen Vater kennenlerne. Leider ist es dafür zu spät. Doch das ist eine andere Geschichte.

„Ich weiß, dass du nur das Beste für mich willst. Hast du vergessen, dass ich meinen High School Abschluss als Jahrgangsbeste abgeschlossen habe? Es wird Zeit mich gehen zu lassen. Findest du nicht auch?", frage ich nach und mache dann das, was ich immer in solchen Situationen mache. Ich kaue auf meiner Unterlippe.

Meine Mutter sieht mich streng an und lässt mein Gesicht los. „Was habe ich dir zu diesem Tick gesagt? Ich möchte nicht, dass du ständig darauf herum beißt."

Mit einem Augenrollen höre ich auf. Jetzt wäre der Zeitpunkt ihr meine Neuigkeit mittzuteilen. Ich weiß, dass sie nicht begeistert sein wird. Eher im Gegenteil. Sie wird wütend sein oder enttäuscht. Schließlich sind ihre Vorstellungen für meine Zukunft anders als meine. Sie will, dass ich hierbleibe, an einer örtlichen Universität studiere, heirate und Kinder bekommen.

Das ist kein schlechter Plan, doch es ist nicht mein Plan. Heiraten und Kinder bekommen ist ein Teil meines Wunsches. Jedoch möchte ich in einer anderen Stadt leben und einen Job in hoher Position ergattern. Dazu muss ich hier raus. Ich brauche eine Veränderung. Nicht nur visuell, sondern auch spirituell. Als introvertierte Person ist es schwer aus der Hülle der Schüchternheit auszubrechen. Doch ich will es wagen.

Ich fasse meinen Mut zusammen und halte ihr den Brief hin. Meine Augen sind auf ihr Gesicht fokussiert. Ich möchte sehen, wie sie reagiert. Sie sieht erst mich, dann wandert ihr Blick auf das Papier.

„Ist es das, was du mir zeigen wolltest?", fragt sie.

Ich nicke. „Es ist ein ganz besonderes Schreiben", sage ich freudestrahlend.

„Was steht drin?", fragt sie.

„Sie selbst nach."

Sie kneift ihre Augenbrauen zusammen, als sie das rot-weiße Logo der Universität sieht.

„Ich werde in wenigen Wochen nach Harvard gehen."

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