"Bleibst du nicht hier?"

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Ich starre ihn ungläubig an. "Das meinst du doch nicht ernst, oder?"

"Doch. Es wäre doch praktisch. So brauchst du nicht mit fremden Menschen zu fahren und ich muss nicht allein fahren. So bekommt jeder das, was er möchte." Er holt eine Tüte Nüsse heraus und öffnet sie. "Möchtest du welche?", fragt er und hält mir die offene Tüte vor die Nase.

"Wechsel jetzt bitte nicht das Thema. Wie kommst du überhaupt auf die Idee, dass ich mit dir mitfahren werde? Du könntest auch ein Massenmörder oder Vergewaltiger sein!"

Er lacht laut auf. "Ein Mörder? Wie kommst du denn auf den Quatsch?"

"Nachrichten."

"Du solltest nicht alles so ernst nehmen. Glaub mir, ich bin kein Mörder oder Vergewaltiger."

"Beweis es mir." Ich sehe ihn prüfend an.

"Ich glaube, wenn ich ein Mörder wäre, dann hätte ich dich schon längst umgebracht", antwortet er mir gelassen und wirft sich ein paar Nüsse in den Mund.

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Also lasse ich von ihm ab und widme mich wieder meinem Buch zu. Er holt sein Handy sowie seine Kopfhörer hervor.

Den Rest des Fluges verbringen wir schweigend nebeneinandersitzend. Für mich ist es beruhigend. Es war schon schlimm genug sich mit ihm zu unterhalten. Nicht dass er mir unsympathisch ist. Doch ich musste eine meiner Ängste überwinden. Das Sprechen mit Fremden.

Nach guten fünf Stunden landen wir endlich in Boston. Mein Rücken schmerzt und ich kann kaum noch sitzen. Der mir noch Unbekannte wartet vor dem Flugzeug auf mich. Gemeinsam trotten wir zur Gepäckausgabe, wo wir auf unsere Koffer warten. Währenddessen wechseln wir kein einziges Wort.

Am Ausgang des Flughafens gehe ich zur Haltestelle für die Busse. Mein Bus wird in ungefähr zehn Minuten abfahren. Ich komme nicht zum Ausgang, da ein Arm mich zurückhält. Langsam drehe ich mich zu ihm um. "Ist noch etwas?"

"Du fährst bei mir mit. Hast du das schon wieder vergessen?"

Ich schüttle verneinend den Kopf. "Ich bin nicht naiv und steige bei einem Fremden in den Wagen."

"Ich habe es dir doch schon gesagt, dass ich dir keinen Schaden zufügen werde. Komm. Spring über deinen Schatten und komm mit mir." Er sieht mich mit großen Augen an.

Ich überlege. Er sieht nicht schlecht aus und es könnte vielleicht Spaß machen. Zudem müsste ich nur mit einem Fremden fahren anstelle von vielen. "Na schön. Ich komm mit dir mit. Doch wenn du mich versuchst umzubringen, werde ich die Polizei rufen."

Seine Miene hellt sich auf. "Super!"

Wenig später sitze ich neben ihm im Auto. Immer noch unsicher schnalle ich mich an und wir fahren vom Parkplatz des Flughafens. Er macht das Radio an und gibt die Adresse in sein Navi ein.

"Wie heißt du eigentlich?"

Er sieht kurz zu mir rüber. "Julian Quinn. Und wie nennt man dich?"

"Thalia. Thalia Newton."

"Wie rufen dich deine Eltern, wenn du Mist gebaut hast?"

Ich sehe ihn belustigend an. "Echt? So etwas fragst du mich?"

Er nickt. "Ja, also wenn dir so etwas schon einmal passiert ist."

"Leider muss ich dich da enttäuschen. Meistens wurde ich nur mit meinem Namen gerufen. Nach einen Zweitnamen kannst du lange suchen." Ich kichere.

"Schade. Bei mir waren meine Eltern nicht kreativ genug. Also hat es nur für einen Vornamen gereicht."

"Wieso habe ich dich bis jetzt noch nicht gesehen?"

"Ich war auf einem Internat in England. Danach bin ich sofort auf die Uni gegangen. Ich besuche meine Eltern nur selten."

"Was machst du, wenn du nicht studierst?" Ich beobachte ihn genau.

"Ich reise viel. Meistens durch Europa. Ein schöner Kontinent mit viel Geschichte und Kultur."

"Klingt spannend. Wenn ich mit dem Studium fertig bin, möchte ich einige im Ausland verbringen. Schottland oder England. Habe mich noch nicht entschieden."

"Das klingt nach einem Plan. Ich kann dir beide Länder empfehlen. Die Büchereien der Universitäten sind beeindruckend."

Nach einiger Zeit kommen wir am Campus an. Neben uns fahren jede Menge Autos und auf den Bürgersteigen herrscht reges Treiben. Viele Erstsemester tummeln sich mit ihrem Gepäck auf den Wegen und versuchen zu ihren Zimmern zu gelangen. Julian sucht nach einem Parkplatz und stellt kurze Zeit später den Motor ab.

"So da wären wir. Willkommen in Harvard." Er steigt aus dem Wagen und geht zum Kofferraum. Ich tue es ihm gleich.

"Danke fürs Fahren." Ich nehme ihm mein Gepäck aus der Hand.

"Keine Ursache. Danke fürs Vertrauen."

"Bleibst du nicht hier?"

Er schüttelt schmunzelnd mit dem Kopf. "Nein. Meine Zeit in Studentenverbindungen ist vorbei. Ich habe eine kleine Wohnung in der Nähe."

"Oh. Na, dann will ich dich nicht länger aufhalten." Ich trete einen Schritt zurück.

"Ich bin sicher, dass wir uns noch einmal über Weg laufen werden." Er zwinkert mit zu und verschwindet in seinem Auto.

Ich sehe ihm noch nach, ehe ich mich erst richtig umschaue. Die typisch roten Backsteinbauten stechen wir als erstes in Auge. Ich kann es nicht fassen, dass ich endlich hier stehe. An dem Ort an dem ich schon seit langem sein wollte. Meiner Zukunft.

Eine junge Frau, um die fünfundzwanzig, kommt auf mich zu. Sie trägt ein rotes Shirt und ein Klemmbrett. "Hey du bist neu hier, richtig?"

Ich nicke. "Ähm...ja."

"Sehr schön. Dann heiße ich dich hiermit herzlich willkommen auf dem Campus. Wie lautet dein Name?"

"Newton, Thalia."

Sie geht ihre Liste durch, ehe sie wissend mit ihrem Stift etwas einkreist. "Hier steht es. Thalia Newton. Raum 101."

Sie überreicht mir ein paar schlichte, einfache Schlüssel. "Du musst einfach am nächsten Gebäude rechts abbiegen und dann noch ein paar Meter gerade ausgehen. Dort wirst du ein Studentenwohnheim mit der Nummer 10 finden."

Ich bedanke mich bei ihr und laufe los. "Ach ehe ich es vergesse, brauchst du noch Hilfe bei deinem Gepäck?", ruft sie mir hinterher.

Ich drehe mich zu ihr um. "Nein, danke. Das Stück schaffe ich auch allein."

Sie nickt wissend und winkt mir zum Abschied.

Ich quetsche mich an den anderen Studenten vorbei und laufe zielbewusst zu meinem neuen zu Hause. Mit etwas Geduld und viel Gedrängel schaffe ich es bis zu meinem neuen Zimmer. Völlig außer Atem schließe ich die Tür hinter mir.

Vor mir befinden sich zwei Betten, Schreibtische, Stühle und zwei kleine Kommoden. Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich wohne nicht allein hier. Ich teile mir das Zimmer mit einer fremden Person.

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