Kapitel 29: Die rechte Jackentasche

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Poline konnte selbst nicht glauben, was sie da beim Mittagessen vorgeschlagen hatte. Wieso musste ausgerechnet dieser Typ der Einzige sein, den sie kannte, der in James' Nähe wohnte?

Zurück in ihrem Zimmer nahm sie ihr Handy an sich und öffnete den Chat zwischen ihr und James. Sie lächelte als sie seinen kurzen Text las.

Dann antwortete sie ihm, dass sie gut geschlafen hatte und dass es ihr trotz der ganzen Aufregung ganz gut ging.
Was sie im Bezug auf Vincent vorhatte, behielt sie jedoch noch für sich.

Danach suchte sie dessen Telefonnummer heraus und rief ihn an, um nach der Nachhilfe zu fragen.

Sie ließ nicht aus, dass sie nicht wirklich Nachhilfe von ihm verlangte, meinte aber auch, dass sie ihm Genaueres nur persönlich erzählen würde.

Er betonte nochmals, dass sie nichts umsonst bekommen würde.

Diese Bemerkung würgte sie mit einem beiläufigen "schon klar" ab und fragte lieber, ob er in der morgigen Mittagspause mit ihr reden könne. Sobald er dem Vorhaben zugestimmt hatte, legte sie auf.

Sie war froh, dass eine halbwegs akzeptable Lösung ihres Problems in Sicht war, doch leider war der Deal mit Vince noch nicht abgeschlossen.

Bis feststand, dass alles so klappen würde, wie Poline es sich vorstellte, musste das Ganze also auch vor James geheimgehalten werden.

Am Abend telefonierte sie mit ihm, um abzuklären, wo sie sich in der Mittagspause treffen konnten, ohne dass es jemand mitbekommen würde. Dabei vergaßen sie die Zeit und telefonierten stundenlang.

Erst als Poline beschloss, dass sie ins Bett gehen musste, um am nächsten Tag nicht allzu müde zu sein, beendeten sie das Telefonat.

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James war froh darüber, dass alles den Umständen entsprechend gut lief und hoffte sehr, dass es auch so bleiben würde.

Diejenigen, um die er sich jedoch Gedanken machte, waren Polines Freundinnen. Er wusste, dass sie klüger waren, als sie schienen und seitdem er aufgetaucht war nicht mehr alle hundertprozentig hinter Poline standen. Deshalb konnte er nicht ausschließen, dass jemand von ihnen sie beobachtete.

Poline selbst dachte absolut nicht an sowas. Sie war viel zu glücklich darüber, dass alles gerade einigermaßen gut lief.

Natürlich hatte sie etwas Angst vor dem, was sie am Ende der Woche erwartete, doch sie hätte nicht glücklicher darüber sein können, wieder mit James zusammen zu sein.

Das Glück blendete sie so sehr, dass alle Zweifel sie verließen und sie nicht im Geringsten ahnte, was am nächsten Tag passieren würde.

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Eigentlich war Poline übervorsichtig. Sie achtete darauf sich so normal wie möglich zu verhalten und doch schienen ihre Freunde zu merken, dass sie etwas im Schilde führte.

So begann jedes Mal, wenn Poline die Gruppe kurz verließ eine Diskussion. Als sie schließlich zu Beginn der Mittagspause mit Vincent die Mensa verließ, waren sie mit ihrer Geduld am Ende.

"Jetzt kannst du sagen was du willst, Amber. Sie verheimlicht etwas vor uns", meinte Tess.

Amber nickte. "Ich weiß. Ich kann mir einfach nur nicht erklären, wieso sie nicht mit uns redet."

"Ist bestimmt nichts persönliches", versuchte Harry sie zu beruhigen.

"Was ist es dann? Wir sind doch ihre besten Freunde!"

"Ich wette man könnte irgendwo Beweise dafür finden, dass sie etwas verheimlicht", sagte plötzlich jemand am Nachbartisch.

"Ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass du dich da einmischen solltest, Lillian", meinte Zoey.

"Kommt schon. Sie ist da gerade mit meinem Freund verschwunden. Ich will auch wissen, was da abgeht. Und immerhin waren wir mal gute Freunde."

"Betonung liegt auf 'waren'", murmelte Harry.

"Das wären wir jetzt auch noch, wenn du nicht mit diesen Blödmann zusammen wärst", stellte Anne beiläufig klar und trank einen Schluck Wasser.

Lillian wusste nicht, was sie darauf antworten sollte.

"Selbst wenn", begann Tess, "man guckt nicht die Sachen von anderen Leuten durch, das ist asozial."

"Hat ja auch niemand vorgeschlagen", grinste Harry. "Ich mag deine Art zu denken, Tess."

Tess und Amber verdrehten zeitgleich die Augen, während Zoey den Kopf schüttelte.

"Nein, sie hat Recht. Das macht man nicht", sagte sie.

"Außerdem hat sie ihre Sachen mitgenommen. Es gäbe gar nichts, was wir durchsuchen könnten."

"Ja, Anne. Da magst du vielleicht richtig liegen", begann Lillian, "aber eine Sache hat sie trotzdem vergessen: ihre Jacke. Die hängt noch hier. Und mit etwas Glück...", meinte sie, während sie auf diese zulief und schließlich die Taschen durchsuchte, ohne dass jemand sie aufhielt, "finden wir einen Hinweis."

Grinsend zog sie einen zusammengefalteten Zettel aus der rechten Jackentasche.

Durch die Verwunderung über den Brief überwog bei den meisten in der Runde die Neugier und das anfängliche Zögern verschwand allmählich.

"Wer schreibt bitte heute noch Briefe?", fragte Lillian, während sie unter den gebannten Blicken der anderen das Papier entfaltete.

Sie begann zu lesen: "Lieber James..."

Plötzlich entriss Zoey ihr den Brief. "Wollen wir wirklich so sein? Sie ist doch unsere Freundin und..."

"Scheiß mal bitte kurz darauf", meinte ausgerechnet der "Freund", der Poline beim letzten Treffen in Lillians Wohnung beleidigt hatte.

Er zog ihr den Brief aus der Hand und wollte gerade weiterlesen, als Tess Alarm schlug.

"Leg' ihn wieder zurück, sie kommt. Ich hab sie durchs Fenster gesehen."

"So einfach kommt sie uns jetzt nicht davon", meinte er bestimmt und machte schnell ein Foto von dem Brief.

Dann gab er ihn Lillian, die ihn wieder zusammenfaltete und zurücksteckte.

"Das hier ist nie passiert", warnte sie die Gruppe.

Die meisten nickten einfach nur.

"Schick mir das Foto bitte gleich", bat Amber.

"Okay, aber nur dir", vernahm sie gerade noch so als Antwort, bevor Poline am Tisch ankam und ihre Jacke holte.

Alle waren still und Poline zog verwundert die Augenbrauen zusammen.

"Hab meine Jacke vergessen", sprach sie schließlich das Offensichtliche aus.

Als niemand ihr antwortete, wandte sie sich zum Gehen.

"Und wohin geht die Reise?", vernahm sie plötzlich Lillians Stimme.

"Ich wüsste zwar nicht, was dich das angeht", meinte sie während sie sich zurück zum Tisch drehte, "aber wenn du's unbedingt wissen musst: Ich gehe nach Hause", antwortete sie und verließ kurz darauf die Mensa.

Natürlich war das gelogen, doch das Gespräch mit Vincent hatte etwas länger gedauert, als gedacht und sie hatte nur noch fünfundzwanzig Minuten von ihrer Pause übrig, weshalb sie sich beeilen musste.

"Ich glaub ihr kein Wort", sagte Amber sichtlich verletzt und aufgebracht. "Schluss mit den Lügen, ich gehe ihr nach."

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Forbidden Attraction [Old Version]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt