Misstrauen

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„Bleiben Sie einfach hier liegen. Ich hole nur einen Erste Hilfe Kasten, falls wir ihn brauchen, und ein paar Decken, damit Ihnen nicht kalt wird. Sie ließ ihn nicht gern allein zurück, zumal sie wusste, dass bei diesem Mann akute Fluchtgefahr herrschte, und er sich noch mehr verletzen konnte, wenn er stürzte. Seltsamerweise verschwendete Sienna keinen Gedanken daran, dass von ihm eine Gefahr ausgehen könnte. In diesem Zustand schon gar nicht. Er war im Moment eine größere Gefahr für sich selbst, als für sie.

Sienna stellte den Erste Hilfe Kasten auf den Boden, neben den Wohnzimmertisch. Dann bat sie den Mann sich nach vorne zu lehnen, um ihm noch ein Kissen hinter Rücken und Nacken zu legen, damit er es bequemer hatte. Zu guter Letzt schüttelte sie noch eine Decke auf, die sie dann über ihm ausbreitete. Als das erledigt war, begab sie sich in ihre und füllte Wasser in den Teekessel. Während das Wasser am Herd langsam zu kochen begann, bereitete sie eine Tasse und einen Teebeutel vor.

Während allem was sie tat, beobachtete der Mann sie mit Argusaugen, verfolgte jede einzelne ihrer Bewegungen. Ebenso beobachtete Sienna den Mann ständig aus dem Augenwinkel, um sofort zu bemerken, falls er aufstehen sollte. Zu ihrer Überraschung tat er dies jedoch nicht. Er lag nur still da und musterte sie genau.

Als der Teekessel anfing zu pfeifen, schüttete sie das kochende Wasser in die Tasse und begab sich mit dieser dann zu ihrem Sofa, wo sie sie am Tisch abstellte, und sich selbst daneben setzte und dem Mann zulächelte.

„Ich bin übrigens Sienna", stellte sie sich vor.

Der Mann sah sie aber nach wie vor nur schweigend an und zeigte keinerlei Reaktion, die darauf schließen ließ, dass er sie gehört hatte. Trotzdem behielt Sienna das Lächeln auf ihren Lippen.

„Wollen Sie mir Ihren Namen nicht verraten?", fragte sie und zog dabei eine Augenbraue hoch.

In diesem Moment regte sich endlich etwas in dem Gesicht des Mannes. Eine Falte bildete sich zwischen seinen Augenbrauen und die Sehnen an seinem kantigen Kiefer spannten sich an, während sich ein angespannter Zug um seine schmalen Lippen bildete. Dann schüttelte er den Kopf.

„Ich kann nicht", sagte er und senkte dabei den Blick.

„Und warum nicht?", wollte Sienna wissen.

„Es wäre zu gefährlich", gab er zurück und sah sie dann wieder mit seinen blauen Augen an.

Sienna ließ seine Worte für einen Moment auf sich wirken, dann nickte sie kaum merklich. Der Mann der vor ihr lag, schien mit irgendwelchen Leuten in Konflikt zu stehen. Fraglich war nur, was passiert war und ob diese ihn verletzt hatten. Sienna vermutete es. Wahrscheinlich war er in Schwierigkeiten geraten und hatte nun Angst.

„Glauben Sie, dass Sie verfolgt werden?", fragte sie dann ruhig.

„Nicht wenn ich mich bedeckt und meine Identität geheim halte."

„Ich würde Sie nicht verraten, Sie haben mein Wort."

„Es geht mir nicht allein um meine Sicherheit. Wenn ich sage wer ich bin, dann bist du auch in Gefahr."

Sienna zog die Augenbrauen zusammen und musterte den Mann vor sich. Er wurde immer mysteriöser und weckte damit zusehends Siennas Neugier, die selbst leidenschaftlich gerne Krimis las und Rätsel löste.

„Wer ist hinter Ihnen her?", fragte sie dann, „Polizei? Militär? Mafia?"

„Meine Familie."

Mit dieser Antwort hatte Sienna nicht gerechnet. Sie lehnte sich ein Stück zurück und musterte den Mann nun noch genauer.

„Haben die Ihnen das angetan?"

Einer seiner Mundwinkel zuckte, so als fände er ihre Frage lustig. Doch er schüttelte den Kopf.

„Nein. Ich bin gefallen", antwortete er schließlich.

„Sie sollten wirklich ins Krankenhaus fahren, um abzuklären..."

„Nein", sagte der Mann bestimmt und schüttelte den Kopf.

„Aber wenn ihre Verletzungen..."

Doch erneut ließ er sie nicht ausreden.

„Wieso hilfst du mir?", wollte der Mann wissen und musterte sie mit zunehmendem Misstrauen in den Augen.

Sienna lachte freudlos und konnte es auch nicht unterdrücken, da ihr seine Frage einfach zu dumm erschien.

„Weil ich mich um Ihr Wohlergehen sorge?"

„Warum? Du kennst mich doch gar nicht."

„Ich habe in meinem Beruf jeden Tag mit Dutzenden Leuten zu tun und mit der Zeit lernt man, sie schnell zu durchschauen. Ich habe schon fast alles gesehen und jeden Typ Mensch kennenlernen dürfen. Daher weiß ich, wie man Menschen einschätzt", erklärte Sienna, „ich kann spüren, dass Sie kein schlechter Kerl sind. Unhöflich, ja. Aber das rührt wahrscheinlich daher, dass Sie in der Vergangenheit auf Ablehnung gestoßen sind, ich nehme an, vor allem seitens Ihrer Familie. Auf mich trifft das aber nicht zu. Ich helfe Ihnen, weil sie ein guter Mensch sind."

Der Mann musterte sie erneut und für lange Zeit war es still im Raum. Das einzige Geräusch war die tickende Uhr an der Wand, die die unaufhörlich fortschreitenden Sekunden und Minuten verkündete. Sienna war jedoch geduldig, hielt dem intensiven Blick des Mannes stand, während er sie lediglich eindringlich ansah. Schließlich war er es, der den Blick senkte und langsam nickte.

Sienna griff zur Seite, nahm die Tasse mit dem Tee, der inzwischen eine trinkbare Temperatur erreicht hatte und hielt sie ihm hin.

„Trinken Sie das", sagte Sienna mit weicher Stimme.

Der Mann nahm die Tasse entgegen und streifte dabei leicht ihre Finger. Nachdem er einen Schluck genommen hatte, wandte er sich wieder ihr zu. Sein Blick huschte zwischen ihren Augen hin und her.

„Danke", sagte er schließlich.

Seine Stimme klang nun anders. Zuvor war sie hart und voller Misstrauen gewesen. Nun war sie viel weicher, beinahe schon sanft. Sienna lächelte ihn liebevoll an.

„Gern geschehen", erwiderte sie mit ebenso weicher Stimme.

Verliebt in einen EngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt