Verständnis

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Sienna sah Gadreel mit zusammengezogenen Augenbrauen an und wartete darauf, dass er ihr erklärte, weshalb er die beiden weggeschickt hatte. Gadreel stand noch einen Moment mit dem Rücken zu ihr da und blickte zu Boden, dann drehte er sich um und kam auf sie zu. Sein Blick war ernst und ein angespannter Zug lag um seinen Mund.

„Du weißt also wirklich, wer ich bin?", fragte er dann, als er nur noch einen Schritt von ihr entfernt war und blieb dann stehen.

Sienna nickte und musterte den Engel, dessen Shirt nach wie vor völlig zerfetzt war.

„Du bist Gadreel", stellte sie kühl fest.

„Und das beeinflusst deine Haltung mir gegenüber nicht?"

„Warum sollte es?"

Sienna zuckte mit den Schultern, während Gadreel sie auf eine sehr eigenartige Weise ansah. Dann lachte er plötzlich freudlos auf und blickte sich um, ohne jedoch etwas anzusehen.

„Deine Reaktionen verwirren mich", meinte er, „als Castiel erfuhr, wer ich wirklich bin, ist er auf mich losgegangen und hat auf mich eingeschlagen. Durch meinen Fehler kam das Böse in diese Welt, meinetwegen kam der Teufel ins Paradies."

„Ich weiß."

„Und das macht dich nicht... wütend?"

„Nein", sagte Sienna immer noch kühl, „du hast einen Fehler gemacht. So etwas passiert. Und wenn du diesen Fehler nicht gemacht hättest, dann – und da bin ich mir ziemlich sicher – würde ich heute nicht hier stehen. Im Grunde genommen verdanke ich dir also meine Existenz."

Gadreel musterte sie und schwieg. Lange Zeit starrte er sie lediglich an, bevor er irgendetwas sagte.

„Ich war der Engel, dem Gott am meisten vertraut hat. Ich habe die Menschheit geliebt. Wenn ich nur gewusst hätte... Doch mein Bruder hat mich getäuscht, ich gewährte ihm Zutritt zum Paradies und er...", erklärte Gadreel und hielt dann inne, während er zu Boden sah und den Kopf schüttelte.

„In der Familie läuft es oft nicht so, wie es laufen sollte", sagte Sienna dann, „ich habe diesbezüglich schon eigene Erfahrungen machen müssen. Doch wenn ein Familienmitglied einen Fehler macht, sollte man es nicht verstoßen, sondern dazu in der Lage sein, zu verzeihen. Denn dazu ist die Familie da."

Gadreel nickte und schwieg einen Moment, bevor er ihr die nächste Frage stellte.

„Ich habe einige meiner Brüder und Schwestern getötet, habe sie für Metatron rekrutiert, und er hat einige von ihnen zu Kamikazezwecken missbraucht. All das tat ich, weil ich dachte, ich würde das Richtige tun. Erneut habe ich dem Falschen vertraut. Ich bin nicht sicher, ob ich tatsächlich Vergebung verdient habe."

„Doch das hast du", erwiderte Sienna sofort.

Gadreel sah sie an und eine Falte entstand zwischen seinen Augenbrauen, während er ihr Gesicht musterte.

„Ich habe die Menschheit immer geliebt", wiederholte er und hob eine Hand zu Siennas Gesicht, legte sie auf ihre Wange, bevor er fortfuhr, und ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen, „doch du, Sienna... Du bist wirklich etwas Besonderes, du bist wirklich über die Maßen liebenswert."

Sienna errötete unter seinem Kompliment und bemühte sich dennoch, nicht den Blick abzuwenden. Gadreels Daumen strich sanft über ihre gerötete Wange, während er sie anlächelte.

„Ich sollte jetzt besser meine Sachen packen", meinte sie schließlich, um dieser Situation entfliehen zu können.

Gadreel nickte und ließ die Hand sinken. Sienna begab sich in ihr Schlafzimmer und holte eine große Tasche aus dem Schrank, wo sie allerhand Klamotten hineinstopfte und auch noch die Zahnbürste aus dem Badezimmer holte. Dort bemerkte sie auch, als sie in den Spiegel schaute, dass sowohl ihr Gesicht als auch ihre Hände voller Blut waren. Sie wusch sich schnell und schaffte es so, die gröbsten Blutrückstände zu entfernen. Zu guter Letzt packte Sienna noch ihre Dokumentenmappe und ihre Brieftasche in die Tasche. Damit ließ sie zwar sehr vieles aus ihrer Wohnung zurück, das sie nicht zurücklassen wollte, doch das wichtigste hatte sie dabei.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Sie ging noch einmal zu ihrem Schrank und suchte im hintersten Winkel nach einem Shirt, dass sie dort wohl verwahrt hatte. Sie packte es ebenfalls ein. Schließlich begab sie sich mit der Tasche zurück in den Wohnbereich, wo Gadreel nach wie vor stand und auf sie wartete.

„Es kann losgehen", sagte sie dann, den Riemen der Umhängetasche auf einer Schulter hängend.

Gemeinsam begaben sie sich in den Fahrstuhl und fuhren nach unten. Als die Fahrstuhltüren aufgingen, standen sie Siennas Nachbarin, einer älteren Dame mit einem Dackel, gegenüber. Diese starrte Sienna und Gadreel mit großen Augen an, während der Dackel anfing zu kläffen. Sienna war klar, dass sie einen äußerst befremdlichen Anblick abgeben mussten. Gadreels Shirt war zerrissen und blutgetränkt, sowie auch seine Haut nach wie vor blutig war. Sienna stand neben ihm, immer noch Flecken von Gadreels Blut auf ihrer Hose und dem Shirt, sowie einige hartnäckige Blutverkrustungen auf ihren Händen und unter ihren Fingernägeln, während sie mit einer Reisetasche auf der Schulter dastand. Dazu kam noch der Umstand, dass zwischen ihnen die Blutlache am Boden war.

Sienna rang sich ein Lächeln ab, während Gadreel die Frau praktisch gar nicht beachtete. Doch eigentlich war es ohnehin egal. Sie mussten zusehen, dass sie von hier wegkamen, bestimmt würde die alte Frau sofort die Polizei rufen. Nachdem sie aus dem Fahrstuhl getreten waren und sich auf den Ausgang zubewegten, konnte Sienna den Blick der Frau spüren, der sich regelrecht in ihren Rücken brannte.

„Du solltest den Reißverschluss deines Sweatshirt zuziehen", meinte Sienna dann, als die Haustür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, „so ziehst du die Aufmerksamkeit auf dich."

Gadreel blickte an sich hinunter und tat, worum sie ihn gebeten hatte. Da bemerkte Sienna Sam und Castiel in einem Wagen sitzen. Sie musste unvermittelt grinsen, als sie darauf zuging. Es war ein goldener Lincoln aus den späten Siebzigern, der ziemlich protzig war. Nachdem Gadreel und sie eingestiegen waren und Sam losfuhr, konnte Sienna sich einen Kommentar nicht verkneifen.

„Ich muss schon sagen, ihr habt einen netten Wagen. Wie viele haben auch deswegen schon für Zuhälter gehalten?", fragte sie grinsend.

Sam warf Castiel einen Blick von der Seite zu.

„Das ist Cas' Wagen", stellte er fest.

„Hätte ich mir denken können. Er hat dieselbe Farbe wie sein Trenchcoat", meinte sie daraufhin.

Verliebt in einen EngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt