Fire Island V

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Mir ist schwindelig und mir ist schlecht. Und ich weiß nur eins: Ich muss hier raus. Sofort.

Verzweifelt blicke ich mich um, auf der Suche nach einem Notausgang, einer Feuerleiter oder sogar zusammengeknoteten Laken, die von der Terrasse, die den Strand überblickt, hängen. Nichts dergleichen bietet sich mir und so sehe ich nur am anderen Ende des Wohnzimmers hilflos zur Haustür, die unerreichbar für mich zu sein scheint.

Nur peripher nehme ich wahr, wie Chad auf die beiden Männer, von denen einer der Grund für meine vorherige Missgelauntheit und meine jetzige Panik ist, zugeht und beide ihn anstrahlen. Ich kann es nicht ertragen und wende mich ab.

Liv und Wendy haben ihre Knutscherei auf Grund des Lärms, den die Begrüßung der beiden Neuankömmlinge verursacht hat, unterbrochen und schauen neugierig zu, was im Wohnzimmer vor sich geht.
„Schau mal einer an", kichert Wendy. „Der Chad ist ja richtig verknallt in seinen Süßen."

Eilig drängele ich mich zu den beiden auf das Loungesofa und knurre: „Wir müssen gehen."
„Was?", beschwert sich Liv. „Es ist doch gerade so schön hier."
„Nein Liv", zische ich. „Wir. Müssen. Gehen. Jetzt!"
„Hast du eine Vase umgeschmissen, Raphael?", kichert Wendy und hält sich die Hand vor den Mund. „Oder hast du etwa die Klobürste nicht benutzt?"

Jetzt wird es mir eindeutig zu albern und ich stehe energisch auf.
„Nein", schnauze ich. „Aber ich verschwinde jetzt. Tschüss!"
„Raphael", höre ich Chads fröhliche Stimme hinter mir. „Ich wollte dir gern meinen Freund vorstellen."

In mir zieht sich alles zusammen und wie ferngesteuert drehe ich mich langsam zu den beiden um. Chad steht strahlend vor mir und sein Arm ist um die Hüfte des Mannes mit den markanten braunen Augen gelegt.
„Sam, das ist Raphael", stellt Chad uns einander vor. „Raphael, das ist Sam, mein Freund. Er ist Hoteltester und kommt sicherlich nicht ganz so viel rum wie du als Pilot, aber–"

„Ach, jetzt lass den Mann doch in Ruhe, Chad", lacht Sam und reicht mir lächelnd die Hand. „Nichts ist nerviger als über die Arbeit zu sprechen, wenn man gerade nicht arbeitet."
„D-Da hast du recht", stammele ich und bemühe mich, nicht hinter den beiden nach Milan Ausschau zu halten. „Schön, dich kennenzulernen."
„Aber Raphael kennt vielleicht ein paar Ecken, wo du noch nicht warst und das wäre dann doch auch was für... hey, Milan!", schreit Chad und winkt quer durch den Raum.

Oh Gott, bitte töte mich.

„Milan, komm mal rüber!", ruft Chad und fuchtelt wild mit den Armen.
„Ich... muss dann auch", fasele ich und will mich an beiden vorbeidrängen, doch Chad hält mich fest.
„Jetzt warte doch kurz", verlangt er. „Du hast bestimmt einige Inspirationen für Milan. Da ist er doch schon."

Und gerade als Chad meinen Arm loslässt, sehe ich mich selbst vor dem Mann wieder, der mir nun schon zum dritten Mal schicksalhaft begegnet. Er trägt ein olivgrünes Shirt, dazu eine verwaschene Jeans und seine Haare sind wieder einmal ein göttliches Durcheinander auf seinem Kopf.

„Milan, das ist–", beginnt Chad, doch Milan blickt mich wie erstarrt an und sagt: „Raphael."
„Ihr kennt euch? Das ist ja witzig!", feixt Chad und schlägt Milan begeistert auf die Schulter.
„Flüchtig", erwidere ich knapp, ohne Milan aus den Augen zu lassen.
„Ohhh", macht Sam in verschwörerischem Ton. „Ich spüre Schwingungen."

„Das muss wohl mein Gin Tonic sein, der verursacht manchmal Turbulenzen", sage ich trocken und wende mich Chad und Sam zu. „Ich danke euch für die Einladung, aber leider muss ich jetzt einen Abflug machen."
„Turbulenzen? Abflug?", lacht Chad laut los. „Ist das so eine Art Pilotenwitz?"
Mit einem Seitenblick auf Milan antworte ich nur zynisch: „Ist es. Habt noch einen schönen Abend."

Ich drücke mich an den Männern vorbei und renne schon fast durch das Wohnzimmer zur Haustür. Die Stille, als ich die Tür hinter mir zuziehe, umhüllt mich und drückt dumpf auf meine Ohren. Ich atme zittrig ein und schließe meine Augen.

Du hast es geschafft, Raphael, rede ich mir selbst in meinem Kopf zu. Jetzt gehst du zu Livs und Wendys Haus, bleibst drei Tage im Bett, überstehst die Hochzeit und fliegst am Sonntag wieder nach–

„Raphael?" Milans Stimme ist hinter mir.
Natürlich. Was auch sonst? Warum musste ich nochmal hier stehen bleiben? Ich bin so ein Idiot.
„Heute nicht, Milan", sage ich so neutral wie möglich und ohne mich umzudrehen. „Ich denke, wir wissen beide, dass das nicht gut endet."

Und wie bereits die letzten beiden Male gehe ich ohne ihn noch einmal anzusehen und ohne noch etwas zu sagen.

Und wie bereits die letzten beiden Male hält er mich nicht auf.

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