Barcelona

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„Okay, Mom", lache ich am Telefon, während ich die kleine Bar betrete, in der ich mit Liv und Wendy verabredet bin. „Wir sehen uns nächste Woche. Bis dahin wartest du noch mit der Megazipline... alles klar... ich hab dich auch lieb."
Schmunzelnd stecke ich mein Telefon weg und sehe mich suchend nach meiner Freundin um.

Meiner Mom geht es tatsächlich wieder besser. Nur zwei Tage nachdem Dr. Mawar sie operiert hatte, erwachte sie wieder. Zwar dauerte es einige Wochen, bis sie wieder vollständig sprechen konnte und auch die fünfmonatige Rehabilitation half ihr beim Wiederlaufenlernen, aber seitdem ist sie wieder ganz die Alte, wenn nicht sogar noch fröhlicher und lebensbejahender als vorher.
Alle sechs Wochen geht sie zu einer neurologischen Untersuchung, doch alle Ärzte konnten uns versichern, dass sie keine bleibenden Schäden davontragen wird.

Als sie zu ihrer Kur aufbrach, packte sie mich mit ihrer starken, rechten Hand und sagte ernst: „Wenn ich könnte, würde ich dir in deinen kleinen Hintern treten, Raphael! Du gehst jetzt wieder arbeiten und fliegst durch die Welt und wage es nicht, mich zu besuchen! Ich möchte, dass du zurückkommst, wenn ich wieder gesund bin und keine Minute früher!"

Ich schloss sie fest in meine Arme und tat, was sie von mir verlangte. Natürlich telefonieren wir mindestens alle zwei Tage und sie zieht mich damit auf, dass ich mich mit beinahe dreißig wie ein Muttersöhnchen verhalte und dass sie als Mutter versagt hat.

Die Sache von Milan habe ich ihr nie erzählt. Ein paar Male fragte sie mich, ob alles in Ordnung sei, wenn meine Gedanken mich betrogen und heimlich zu ihm glitten, doch ich winkte nur ab, machte einen dummen Spruch darüber, dass James, einer der Pfleger, ihr schöne Augen machte und der Moment war verflogen.

Mein Gefühl, als Milan den Warteraum verließ, hatte mich nicht betrogen. Seitdem habe ich keine einzige Nachricht mehr von ihm erhalten. Ich selbst habe mich auch nicht bei ihm gemeldet, hatte ich doch für mich selbst beschlossen, den Kontakt zu ihm abzubrechen, aber ich würde lügen, wenn ich sagte, ich wäre nicht unendlich enttäuscht darüber, dass er sich nicht mehr meldet.

Liv hat hin und wieder in unsere Gespräche eingestreut, dass sie ihn über die Genesung meiner Mutter auf dem Laufenden hielt, er aber nur selten auf Fire Island war und selbst Chad, Carlo und die anderen recht missmutig über sein dauerhaftes Reisen und Arbeiten waren.

Einmal fing Liv wieder von ihrem Schicksalsgefasel an, doch als ich wütend den Tisch verließ und sie anschrie, sie solle dieses Gefühlsgedusel gefälligst lassen, das Thema wäre durch, hat wohl selbst sie eingesehen, dass es ein Raphael-und-Milan-Schicksal nicht gibt.

Ich arbeite wie ein Tier. Nicht nur, um meinen Kontostand nach all den Behandlungen, die meine Mutter durchlaufen musste, wieder aufzubessern, sondern auch um nicht nachdenken zu müssen.
Abends – oder morgens, das kommt auf die Zeitzone an, in der ich mich gerade befinde – falle ich nur noch todmüde in mein Hotelzimmer und schon lange habe ich aufgegeben, darauf zu achten, wo auf dieser riesigen blauen Kugel ich mich gerade befinde. Gebt mir ein Flugzeug und hinterher ein Bett, mehr braucht Raphael Andrews nicht.

Liv und Wendy holen nun endlich ihre Flitterwochen nach und haben beschlossen, diese in Barcelona zu verbringen. Da ich hier gerade einen zweitägigen Zwischenstopp habe, haben wir uns kurzerhand im Xiringuito Escribà, einem kleinen Restaurant direkt am Strand, verabredet.

Verwundert stehe ich am Eingang und suche die zum größten Teil noch leeren Tische ab. Es ist erst später Nachmittag, die meisten Einheimischen treffen sich erst abends, so dass es um diese Zeit noch nicht so geschäftig in den Restaurants ist.

Ein freundlicher Kellner kommt auf mich zu und sagt: „Hola, puedo ayudar?*"
„Sí", antworte ich. „Buscando una mesa para Olivia.**"
„Ah, sí", nickt der Mann und bedeutet mir, ihm zu folgen. Er führt mich in den hinteren Teil der Bar und deutet auf einen winzigen Tisch, an dem gerade einmal zwei Leute Platz nehmen können, am Fenster.

Einer der beiden Plätze ist bereits besetzt. Von Milan.

Er starrt gedankenverloren aus dem Fenster, während seine Finger am Gurt seiner Kamera herumspielen. Ich bin wie festgefroren und der Kellner kündigt meine Ankunft zu meinem Erschrecken auch noch lauthals an: „El señor ya te esta esperando.***"
Milan schaut auf und als er mich erblickt, weiten sich seine Augen geschockt. Offenbar wusste er ebenso wenig von meinem Erscheinen wie ich von seinem.

Ich räuspere mich und brumme ein „Gracias", bevor ich mich ihm zögerlich gegenübersetze.
„Hast du auch das Gefühl, dass Liv nicht kommen wird?", versuche ich möglichst locker ein Gespräch zu beginnen.
Er lächelt schief, doch es erreicht seine Augen nicht wirklich, und antwortet: „Sieht nicht so aus."

„Ich... ich kann auch wieder gehen", murmele ich und will wieder aufstehen, doch Milan hebt seine Hand und rollt mit den Augen. „Jetzt sei nicht albern. Bleib hier."
Oh, wie großzügig, denke ich bockig, sage jedoch nichts.

„Wie geht es deiner Mom?", fragt Milan und ich greife nach der Speisekarte, um ihn nicht ansehen zu müssen.
„Gut", entgegne ich schlicht.
„Ist sie wieder zu Hause?"
„Pass auf", knurre ich. „Wir müssen das hier nicht tun, Milan. Du hast doch alle wichtigen Informationen von Liv und wenn du mehr hättest wissen wollen, hättest du dich ja auch melden können. Hast du aber nicht."

Er sieht mich mit großen Augen an, als hätte ich ihm gerade eine Ohrfeige verpasst.
„Ich... hatte meine Gründe", presst er nur hervor und ich rolle genervt mit den Augen.
„Okay, alles klar", motze ich. „Willst du mir die auch verraten?"
Milan sieht betreten auf das weiße Tischtuch vor uns und schiebt den Salzstreuer hin und her.
„Ich wollte es nicht verkomplizieren", gibt er zu.
„Bitte was?"
Er atmet tief durch und sagt dann leise: „Du hast gesagt, du bist in jemanden verliebt und da wollte ich nicht noch dazwischenfunken, wo du doch schon so viel um die Ohren hattest."

Ich schnaube und lasse die Speisekarte vor mir auf den Tisch fallen.
„Okay, das reicht. Ich gehe", lege ich fest und stehe auf.
Milan greift nach vorn und will mein Handgelenk packen, doch ich weiche ihm aus, als er fleht: „Raphael, warte doch."
„Du", spucke ich die Worte schon förmlich aus. „Du warst es, okay? Du warst es die ganze Zeit."
„Was war ich?", fragt er verwirrt.
„Du warst es, in den ich verliebt war." Ich werfe verzweifelt meine Hände in die Luft. „Jetzt weißt du es. Also wenn du meinst, du hast es verkompliziert? Nein, das habe ich schon ganz gut allein hinbekommen. Aber danke, dass du mir das abgenommen hast. Mach's gut, Milan."

Und ohne ein weiteres Wort rausche ich aus dem Restaurant und winke an der Straße davor verzweifelt nach einem Taxi.

_____
* Hallo, kann ich helfen?
** Ich suche den Tisch für Olivia.
*** Der Herr wartet schon.

Weltenbummler | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt