Kuala Lumpur II

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„Wo stand nochmal die Adresse?", fragt Milan neben mir, als wir an einem Tisch im Wartebereich sitzen, die auszufüllenden Formulare vor uns ausgebreitet.
„Die kannst du hier abschreiben", sage ich und schiebe ihm einen Zettel, auf dem ich alle wichtigen Daten notiert habe, rüber. Er nimmt ihn und beginnt, die entsprechenden Felder auszufüllen und ich sehe ihn kurz an.

Konzentriert überträgt er die Namen und Adressangaben meiner Mutter und ich muss mich zurückhalten, ihm nicht vor Dankbarkeit um den Hals zu fallen.
„Brauchst du eine Pause?", fragt Milan, als er bemerkt, dass ich ihn anstarre.
Schnell weiche ich seinem Blick aus und schüttele meinen Kopf. „Nein, sobald wir hier fertig sind, kann sie verlegt werden und dann sehen wir weiter."
„Wir schaffen das, Raphael", versichert er mir.
„Danke, Milan", murmele ich heiser.
Er lächelt schief und sagt: „So machen Freunde das. Sie sind füreinander da."

•••

Zwei Stunden später waren alle Dokumente ausgefüllt und abgegeben und ich hatte bereits die Bestätigung meiner Bank, dass mein Konto um fast die Hälfte meiner Ersparnisse der letzten Jahre erleichtert wurde. Dr. Musa sagte mir, dass meine Mutter sofort in den OP kommen würde, sobald sie das andere Krankenhaus erreicht und wir vor morgen früh wohl keine neuen Nachrichten zu erwarten hätten.

Während ich händeringend vor dem Krankenhaus stand und nach oben starrte, als der Helikopter mit meiner Mutter startete, telefonierte Milan wieder und organisierte uns ein Hotelzimmer in der Nähe der Neurologischen Klinik.

Jetzt sitze ich zitternd auf dem Sofa unseres Hotelzimmers und Milan schließt gerade die Tür, nachdem er uns ein paar Sandwiches aus dem Bistro in der Lobby geholt hat. In Kuala Lumpur sind es im Vergleich zum verfrorenen Moskau tropische Temperaturen, doch mein Körper kann nicht aufhören zu zittern.

Milan kniet sich besorgt vor mich und legt seine Hände an meine Arme.
„Raphael, du zitterst", stellt er erschrocken fest.
„Es g-geht schon", will ich abwehren, doch plötzlich bin ich so erschöpft und kraftlos, dass ich mich nicht wehren kann, als er mich mit sich aufs Bett zieht und die Bettdecke um uns schlingt. Seine langen Arme legen sich um meinen bebenden Körper und er streichelt beruhigend über meinen Rücken, als ich meinen Kopf auf seine Brust lege.

Wir sagen kein Wort, stumme Tränen laufen über mein Gesicht und tränken Milans T-Shirt; doch er hält mich einfach nur fest in seinen Armen.

•••

Das Klingeln meines Telefons reißt mich aus meiner Starre, die man nur spärlich als Schlaf bezeichnen kann. Ich schrecke hoch und Milan reicht mir sofort mein vibrierendes Handy.
„Ja?", rufe ich ins Telefon und eine männliche Stimme sagt: „Mr. Andrews, hier ist Dr. Mawar. Ich wollte Sie nur informieren, dass die Operation Ihrer Mutter gut verlaufen ist und wir positiv auf ihre Genesung sehen."
„Kann... kann ich zu ihr?"
„Zunächst schläft sie noch, heute Abend dürfen Sie gern für einen Moment zu ihr."
„Danke, Dr. Mawar. Ich danke Ihnen so sehr!", seufze ich erleichtert und auch Milan neben mir sieht aus, als würde ihm gerade ein Stein vom Herzen fallen.

Erwartungsvoll schaut er mich an, als ich den Anruf beende.
„Es sieht sehr gut aus, sagt er", erkläre ich.
„Ich bin so froh, Raphael", freut er sich und umarmt mich ganz fest.
„Danke", schniefe ich. „Danke, dass du geblieben bist."
„Hey", sagt Milan beruhigend. „Ich lasse dich nicht alleine, okay? Ich bin für dich da, Raphael."
Ich klammere mich an ihn und genieße einfach nur das Gefühl seiner Nähe.

„Raphael?", sagt Milan irgendwann etwas gequält.
„Ja?", murmele ich an seiner Schulter und nehme zeitgleich ein Grummeln aus seinem Bauch wahr. „Oh. Du verhungerst."
„Ganz so schlimm ist es noch nicht", lacht er verlegen.
„Aber kurz davor, wenn man deinem Magen Glauben schenkt."
„Tut mir leid." Er kratzt sich am Hinterkopf und ich stehe langsam vom Bett auf.
„Weißt du was? Wir gehen jetzt duschen und dann zeige ich dir, wo du das beste Nasi Lemak deines Lebens bekommst."

Mit großen Augen sieht er mich an, als ich mir mein T-Shirt über den Kopf ziehe und plötzlich wird mir die Auslegungsmöglichkeit meiner Aussage bewusst.
„Nacheinander... also... das Duschen, meine ich. Nicht das Essen. Das machen wir zusammen. Erst dusche ich und dann du", stammele ich. „Oder... erst du und dann ich?"
„Nein, nein", winkt er ab und dreht sich von mir weg. „Geh du ruhig zuerst."
Beschämt senke ich den Kopf, verschränke meine Arme vor meiner nackten Brust und husche ins Badezimmer.
„Ich beeile mich", murmele ich und schließe die Tür hinter mir.

Nach all dem Stress mit meiner Mutter, der Reise hierher und der Sorgen habe ich vollkommen vergessen, was ich im Begriff war, Milan zu offenbaren, bevor mein Telefon klingelte. Was habe ich mir nur dabei gedacht? Wollte ich ihm ernsthaft sagen, dass er derjenige ist, in den ich verliebt bin? Im Krankenhaus hat er wieder betont, dass wir Freunde sind. Nicht mehr und nicht weniger. Und gerade eben konnte er mich nicht mal ansehen.

Wenn Liv recht hat mit ihren Schicksalstheorien, dann war das wohl mehr als eindeutig. Das Schicksal hat mich gerade noch rechtzeitig davon abgehalten, eine riesige Dummheit zu begehen und Milans und meine Freundschaft durch meine Offenbarung zu zerstören.

Ich schüttele meinen Kopf und steige unter die längst überfällige Dusche.
Keine Offenbarungen und keine weiteren Hoffnungen mehr, Raphael.

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