Kapitel 31

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Kapitel 31

Liv ging auf dieselbe Schule wie ich, und auch, wenn sie genau zwei Jahre älter war und somit ihren eigenen Freundeskreis hatte, wurde ich immer mit offenen Armen von ihr empfangen. So war es auch an dem Tag, an dem unsere Schule beschloss, ihr 25. Jubiläum zu feiern. Wirklich zu feiern gab es zwar nichts, aber der Anlass bot unserem neuen Schulleiter die Gelegenheit sich richtig vorzustellen, denn bisher kannte man ihn nur als den Mann, der ständig mit erhobenen Kopf durch die Schule lief. Ähnlich wie eine Giraffe, stolzierte er durch die renovierungsbedürftigen Gänge, obwohl es absolut nichts an unserer Schule gab, womit man sich als Schulleiter schmücken konnte.

Meine Schwester und ich waren jedoch viel zu abgelenkt, um dem neuen obersten Schulmitglied Gehör zu spenden, denn der sonst leere Fußballplatz wurde von einem kleinen Crêpe-Stand geschmückt. Amanda, das wohl schönste Mädchen an unserer Schule und ebenfalls aus Livs Stufe, wurde für das Verkaufen der Crêpes verdonnert und empfing die wenigen Schüler, die sich etwas kauften, mit einem breiten Lächeln im Gesicht.
„Crêpes?", fragte mich Liv mit einem verschmitzten Grinsen, weil sie genau wusste, was ich nun antworten würde.
„Nur ein Depp nimmt keinen Crêpe."
„Und dabei ist man nur mit zwei", vervollständigte sie unseren Standardspruch und wie jedes Mal, fingen wir schon bevor wir ihn überhaupt sagten an zu lachen. Und wie jedes Mal verstanden wir nicht warum, weil das wirklich ein verdammt schlechter Witz war.

Als wir dann jedoch den Preis sahen, verstummten wir.
„6 €. Für. Einen. Crêpe", Liv starrte abwechselnd geschockt zum Preis und dann zu mir.
„Ich glaube, die haben vergessen, dass Leute, die freiwillig diese Schule besuchen, hauptsächlich Geringverdiener sind", ergänzte ich sie fassungslos.
Kein Wunder, dass der Stand nicht gut besucht war.
„Aber wir gönnen uns ja sonst nichts, habe ich recht?", Liv schaute mich fragend an und ich fing unwillkürlich an zu grinsen, was sie als meine Zustimmung verstand.

„Hey, ähm, für uns beide bitte jeweils zwei Crêpes", gab Liv ihre Bestellung bei Amanda auf und erröte fast unmerklich, was ich damals wahrscheinlich den sommerlichen Temperaturen zuschrieb.
„Dir ist aber schon klar, dass wir gleich wahrscheinlich ganz schön blöd angeschaut werden, wenn wir mit vier von den überteuerten Crêpes ankommen", bemerkte ich nebensächlich.
„Du meinst wir werden dann nicht nur für verfressen gehalten, sondern auch für komplett bescheuert?" Ich nickte zustimmend. Liv war es schon immer so ziemlich egal, was andere Leute von ihr dachten. Oder zumindest tat sie so.
Ich hatte früher jedoch stark mit meinem Selbstbewusstsein zu kämpfen und begrüßte es daher, Situationen aus dem Weg zu gehen, in denen man sich über mich lustig machen konnte. Und weil sie mich ebenso gut kannte, hatte sie auch dafür eine Lösung parat.
„Lasst uns so tun, als hätten wir beide einen Crêpe für den anderen mitbringen wollen. Wir haben uns aber nicht richtig abgesprochen, sodass wir jetzt vier anstatt zwei haben", plauderte sie ihre Überlegungen aus und merkte wahrscheinlich erst danach, wie absurd ihre Idee gewesen sein musste. Amüsiert lachte ich und schaute mein älteres Familienmitglied mit einer hochgezogenen Augenbraue an.
„Du meinst, ich wollte dir einen mitbringen und du mir? Und deswegen haben wir jetzt zu viele? ", gab ich ihre verrückte Idee wieder, was sie wiederum zum Lachen brachte.
„Das wird uns niemand glauben, aber egal, wir machen das so", bestätigte ich kopfschüttelnd den Plan.

Ich hatte keine Ahnung, warum mir ausgerechnet diese Erinnerung in den Kopf schoss, als man mir mitteilte, dass Liv verstorben sei. Vielleicht, weil sie immer auf mein Wohlbefinden bedacht war. Vielleicht, weil sie immer wusste, was ich brauchte. Vielleicht aber auch, weil sie sich immer selbst zurücknahm, wenn es um ihre kleine Schwester ging. Und nun wollte ich dasselbe für sie tun, indem ich diese Auswahl gewinne, doch stattdessen führte mein Vorhaben nur dazu, dass ich in ihren letzten Momenten nicht bei ihr sein konnte.
Die Erinnerung erlaubte es mir, der Schmerzenswelle, die mich in ein Meer voller Leiden presste, für einen Augenblick zu entkommen.
Ich wünschte, ich wäre in Ohnmacht gefallen. Das hätte nämlich bedeutet, dass ich mich für einen kurzen Moment von diesem Albtraum entziehen hätte können. Einmal durchatmen, während ich eigentlich nur die letzten Reserven meines Körpers aufbrauchte, doch selbst das war mir nicht gestattet. Mein Körper war so wach wie nie zuvor, wenngleich ich doch nur in einen endlos anhaltenden Schlaf verfallen wollte.

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