Kapitel 9
Inzwischen sind fast vier Monate vergangen, seitdem das Verfahren stattgefunden hat. Theo hat einen Job als Software-Entwickler in der Firma seines Vaters angenommen und ich arbeite als Versicherungskauffrau bei einem mittelständischen Unternehmen. Anstatt Menschen zu therapieren und ihnen zu helfen, durfte ich ihnen also passende Altersvorsorgen oder weitere Versicherungen, zu einem völlig überteuerten Preis, verkaufen. Im Großen und Ganzen nicht wirklich das, was ich mir vorgestellt hatte.
Als ich mir nach Wochen immer noch unsicher war, welchen Beruf ich zukünftig ausüben möchte, hatte mich Theo zu einer Berufsberatung geschickt. Insgeheim wusste ich schon die ganze Zeit, dass ich Psychotherapeutin werden möchte, aber die schlechten Berufsaussichten und das ständige Einreden von meiner Familie und Theo, ließen mich so sehr zweifeln, dass ich mich sogar zu dieser völlig überflüssigen Berufsberatung schleppen ließ. Mein logisches Denkvermögen und meine Ruhe seien perfekt für den Beruf geeignet, meinte der völlig gelangweilte Mann bei der Beratung. Psychotherapeutin erschien noch nicht mal in den möglichen Alternativen.
Irgendwie passt es auch und ich bin wirklich gut in meinem Job, aber irgendwie trotzdem nicht glücklich. Ich frage mich jeden Tag, wie es wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte.
„Schatz, ich fahre los zur Arbeit", hörte ich es aus dem Flur rufen und stand auf, um Theo zu verabschieden. Ich gab ihm den obligatorischen Abschiedskuss und schloss dann die Tür. Seufzend atmete ich auf, als ich die Tür schloss. Langsam ließ ich mich auf die Couch nieder und ließ meinen Blick über das Wohnzimmer schweifen. Theo und ich hatten wahrscheinlich schon an jedem möglichen Ort in unserer Wohnung Sex, Streit hingegen war ein Fremdwort für uns.
Wir aßen immer Abendbrot zusammen und danach schauten wir meist noch einen Film oder eine Doku, wenn nicht gerade jemand von uns einschlief. Ab und zu statteten wir auch Freunden und Familie einen Besuch ab oder unternahmen zusammen etwas.
Die Tage gingen fließend ineinander über und langsam bekam ich den Eindruck, dass dieser Alltag und die Routine, die sich so langsam in unsere Beziehung eingeschlichen hat, meine Gefühle und Emotionen zu betäuben schien. Ja, der Sex war gut und irgendwie funktionierte auch Alles soweit. Wir stritten nie und Theo war nach wie vor immer liebevoll und zuvorkommend. Es funktioniert irgendwie Alles.Wären da nicht diese Gedanken und Gefühle.
Ich probierte, so gut es ging, sie zu verdrängen, denn sie würden nur Probleme bringen. Probleme, mit denen niemand wüsste umzugehen. Sobald ich merkte, dass sie aufkamen, schob ich sie ganz weit nach hinten in meinem Kopf. Das Leben, das ich führte, funktionierte. Aber reicht das zum Leben aus? Zu funktionieren? Ich hatte Alles, um glücklich zu sein, um glücklich sein zu müssen. Und trotzdem fehlte etwas.
In mir bannten sich mit der Zeit immer mehr Schuldgefühle auf.
Schuldgefühle, dass ich Theo nicht das zurück geben konnte, was er mir gibt. Ich solle mich mal nicht so anstellen und dankbar sein, für das was ich habe.Selbstzweifel, die Regierung gibt uns alles und das Einzige was wir tun müssen, ist mitzumachen. Jeder lebt plötzlich viel glücklicher und alles scheint so perfekt. Also musste mit mir etwas nicht stimmen, vielleicht hatte ich all dies einfach nicht verdient. Vielleicht war ich einfach zu kompliziert.
Sie hätten dem Mädchen, was nicht zum Verfahren zugelassen wurde, meinen Platz geben sollen. Und dann war da noch die Angst. Tränen liefen mir über meine Wangen. Immer wieder probierte ich mich in solchen Momenten davon zu überzeugen, dass das nur die anfängliche Zweifelsphase war, dass es einfach nur ungewohnt war. Bald würde es bestimmt besser werden. Meistens schaffte ich es auch mich davon zu überzeugen. Aber eben nicht immer.Vielleicht habe ich mir einfach nur zu viel unter meinem Leben vorgestellt, und so wie es war, gehört es nun mal. Je länger ich mir diesen Gedanken einpflanzte, desto besser kam ich mit der Situation klar. Trotzdem gab es in letzter Zeit immer mehr Momente, in denen ich hätte heulen, schreien und einfach alles hinwerfen können. Und ich wusste nicht mehr, wie lange ich mir noch nichts anmerken lassen konnte.
Ich machte mich schon auf den üblichen Ablauf des Abends gefasst. 19 Uhr essen, 20 Uhr irgendeinen Liebesfilm schauen, der mich am Ende mehr traurig, als glücklich stimmte. Danach Sex, dann gegen 23 Uhr schlafen. Aber heute sollte es anders werden.
„Juliette du glaubst nicht was heute passiert ist", begrüßte er mich begeistert. „Ich bin in die Beobachtungsstufe gelangt", er schaute mich so an, als wäre nun der Moment dran, in dem ich ausflippen würde und ihn um den Hals fallen müsste, doch in Wirklichkeit hatte ich keine Ahnung, was so toll an dieser Beobachtungsstufe war. Er merkte, dass ich nicht wie erwartet reagierte und schloss aus meiner Rektion wohl, dass ich mit dem Begriff „Beobachtungsstufe" noch nicht vertraut war.
„Das ist die Stufe vor einer Beförderung. Mache ich mich in der Zeit gut, werde ich befördert. Stell dir vor wie stolz mein Vater wäre."Theo schlug vor, zur Feier des Tages in einem schicken Restaurant Essen zu gehen, wogegen ich natürlich nichts einzuwenden hatte. Anstatt Lasagne von Gestern gab es nun also Kaviar und Beilagen, von denen ich zuvor noch niemals gehört habe.
„Du weißt gar nicht wie glücklich ich bin", Theo nahm meine Hand und schaute mir tief in die Augen. „So ein Leben habe ich mir immer erträumt. Eine wundervolle Partnerin an meiner Seite, ein toller Job und meine Eltern sind endlich zufrieden und stolz auf mich, und das alles nur dank des Verfahrens", er lächelte, „Ich liebe dich."
Ich lächelte, schluckte, entgegnete das Gleiche, doch es fühlte sich so falsch an. Erneut kamen all die Gefühle von heute Morgen hoch, und das was er nun von sich gab, machte alles nur noch schlimmer. „Ich kann es kaum erwarten mit dir zwei wundervolle Kinder auf die Welt zu bringen. Wir werden eine wundervolle Familie sein", zu meiner Rettung klingelte genau in dem Moment mein Handy. Und dann war es auch noch meine Schwester, als hätte sie gewusst, dass ich so schnell wie möglich aus der Situation flüchten wollte.
Schlagartig veränderte sich mein Gesichtsausdruck. „Ja-ja, klar, ich komme sofort", Tränen füllten langsam meine Augen. „Okay, bis gleich", schnell legte ich auf. Verunsichert schaute ich Theo an. „Liv hat mich gerade angerufen, sie hat gesagt ich solle sofort kommen. Sie ist fix und fertig."
„Kein Problem, wir machen uns gleich auf den Weg", besorgt streichelte er meine Hand. „Nein, sie meinte, ich solle alleine kommen", antwortete ich und meine Augen füllten sich immer mehr mit Tränen. „Ähm, okay, ich warte dann zuhause auf dich, wenn du was brauchst, rufe mich an", antwortete er verwirrt.Als ich mich auf den Weg zu Livs Wohnung machte, fraß mich mein schlechtes Gewissen von innen auf. Ich zitterte am ganzen Körper und meine Tränen ließen meine Sicht verschwimmen. Was tat ich hier eigentlich. Ich sollte einfach wieder zurück gehen und mir irgendeine Ausrede einfallen lassen. Womöglich sollte ich gerade alles tun, nur nicht das, was ich vorhatte. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es fühlte sich so an, als würde jeder weitere Gedanke mich zerreisen.
Doch ich musste es tun.Wenig später stand ich vor der Wohnungstür meiner Schwester. Aber nicht, weil sie mich verheult angerufen hat. Nicht weil sie mich bat zu ihr zu kommen. Ehrlich gesagt wusste ich gar nicht, was sie überhaupt von mir wollte, wahrscheinlich fragen ob es mir gut ginge - Eine Frage, auf die sie die letzten Wochen immer wieder die falsche Antwort hörte. Nein, ich habe Theo angelogen. Ich habe nur so getan, als ob Liv mich jetzt bräuchte. Deswegen kamen nicht die Tränen. Das waren die Tränen, die ich schon die ganze Zeit zu unterdrücken versuchte. Ich konnte einfach nicht mehr. Ohne darüber nachzudenken erfand ich also diese Lüge, um einen Ausweg aus der Situation zu finden.
Doch es musste nicht nur ein Ausweg aus dem Restaurant her. Es musste ein Ausweg aus meinem ganzes Leben her.
Ich konnte diese perfekte Lüge einfach nicht mehr mitspielen.
Wie würde ich bloß ein Leben lang schaffen, diese Lüge mitspielen zu können? Ich müsste meiner Familie, meinen späteren Kindern, und mir selbst ein Leben lang diese Lüge vorspielen.
Doch damit war jetzt Schluss.
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Perfect Lie
Science Fiction„Schade, ich habe echt angefangen dich zu mögen. Wobei das wahrscheinlich niemals mit dem zu vergleichen war, was du für mich empfunden hast", er grinste und machte eine bedeutungsvolle Pause, „oder immer noch empfindest", hauchte er mir ins Ohr, wa...