Kapitel 12

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Kapitel 12

Ich hatte die Hoffnung zuhause einen schlafenden Theo aufzufinden, sodass ich mich zumindest noch ein paar Stunden vor dem Gespräch drücken konnte, doch stattdessen empfing mich Theo mit einem intensiven Kuss.

„Warum bist du noch wach?", ich löste mich schuldbewusst aus dem Kuss. Es fühlte sich so unglaublich falsch an, jetzt als ich es mir endlich eingestanden habe, dass ich keine Gefühle für ihn hege. Indem er mir eine Strähne aus dem Gesicht hinters Ohr strich und mich mit traurigen Blick betrachtete, machte er alles bloß noch schlimmer. „Denkst du wirklich, ich kriege ein Auge zu, wenn du nicht bei mir bist und es dir schlecht geht?"

Ich lächelte, doch es fühlte sich so an als wäre ganz groß das Wort „Verräterin" auf meine Stirn graviert. Theo was so gut zu mir, so fürsorglich. Vermutlich würde er alles für mich tun. Ich traute es mich noch nicht einmal im Gedanken auszusprechen, weil es meine Schuldgefühle nur um ein Vielfaches verstärken würde. Theo liebte mich. Bei ihm hat das Verfahren funktioniert.
Mit mir konnte er sich vorstellen ein Leben lang zusammenzubleiben, eine Familie zu gründen, mich für immer zu lieben, aber ich konnte nicht eines dieser Empfindungen erwidern, das einzige was ich gerade empfand, war Schuld. Von Liebe keine Spur.

Theo war kein schlechter Mensch, im Gegenteil. Er war verständnisvoll, aufmerksam, ein unfassbar guter Zuhörer und schlecht sah er auch nicht aus, für viele ein perfekter Partner. Und eigentlich müssten wir perfekt zusammenpassen. Eigentlich.
Aber ich spürte noch nicht einmal ansatzweise diesen Schmetterling, von dem Liv schwärmte.
In meinem Bauch breitet sich nur eine riesige Leere aus, wenn ich meinen Partner sah.

Ich weiß nicht, wann ich bemerkt habe, dass ich nichts für Theo empfand. Immer wieder dachte ich, die großen Gefühle, die ich mir immer ausgemalt habe, würden noch kommen. Diese Gefühlsexplosion kam nur leider nie. Letztendlich hatte ich schon von Anfang an dieses Zwicken, dass er es einfach nicht ist, in mir. Doch du wolltest es so unbedingt. Suchst nach Ausreden, wartest auf den Moment, in dem sich plötzlich alles änderte. Doch er kommt nie. Und das was bleibt, ist die Leere.

Wir haben nie gestritten, zu Allem was ich sagte, sagte er einfach ja und hinterfragte nicht.
Ich wollte hinter dem Offensichtlichen das Verborgene sehen. Der Mann an der Schwimmbadkasse mit seinem falschen Lächeln, Artur, der wie ein Zombie am Bahnhof entlang schlurfte. Ich wollte mit ihm darüber reden, was dahintersteckt, doch er zog mich nur immer in einen Kuss und lenkte vom Thema ab.
Aber war das wirklich der Grund dafür, dass ich keine Gefühle entwickelt habe? Ich wusste es nicht. Gefühle waren ebenso wie die Liebe unkontrollierbar. Sie überkamen einen wie eine gigantische Welle. Man kann die Welle nicht stoppen, aber man kannst darüber entscheiden, wie man mit ihr umgeht, schätze ich.

„Liv wurde gefeuert, weil sie angeblich was aus ihrer Praxis hat mitgehen lassen, aber das war alles nur ein Irrtum, was sich schnell wieder geklärt hat. Sie wollte das ich alleine komme, um dich nicht unnötig zu belasten", log ich möglichst überzeugend.
„Achso, dann ist ja alles gut, ich dachte schon sonst was wäre passiert", er lachte und zog mich näher zu sich. Seine Hände führte er langsam zu meinem Po.
Und schon wieder war für ihn alles gut, alles vergessen. Inzwischen habe ich schon genug Abende mit ihm erlebt, um zu wissen, was jetzt folgen würde.

Am nächsten Morgen, befand ich mich schon relativ früh in der Küche. Die milden Sonnenstrahlen erstreckten sich über das gesamte Wohnzimmer, doch ich schenkte ihnen keinerlei Beachtung. Fokussiert suchte ich im Schrank nach einer Tafel Schokolade. Weiße, dunkle, war mir eigentlich egal - Hauptsache Schokolade.
Ich wusste, dass ich mir das Frustessen so schnell wie möglich abgewöhnen sollte, und ich wusste auch, wie schnell Essen zur Gewohnheit werden konnte. Meine Mutter pflegte heute noch die schlechte Angewohnheit jeden Abend vor dem Fernseher Chips zu essen, weil sie es damals als eine Belohnung für einen anstrengenden Tag angesehen hat. Ich überlegte kurz die Schokolade wieder zurück zu legen und stattdessen ein Workout zu machen, nur leider konnte noch nicht einmal ich selbst mich bei dieser Frage ernst nehmen und griff entschlossen zur Schokolade.

Ich begann gerade sie zu öffnen, als mich der Klingelton meines Handys erschreckte. Als ich den Namen auf dem Display sah schien mir das Workout plötzlich doch sehr attraktiv.

„Hey Naomi", nahm ich widerwillig ab. Ich wollte mich eigentlich schon die ganze Zeit bei ihr melden, doch habe es immer aufgeschoben.
„Hey Juliette", sie räusperte sich und nach einer kurzen Stille fragte sie, wie es mir gehe. Wie führten Smalltalk über belangloses Zeug und die Stimmung war deutlich angespannt.
„Naomi, warum hast du wirklich angerufen?", fragte ich sie plötzlich, um den langjährigen Smalltalk zu umgehen.
„Es tut mir leid, okay? Ich weiß, ich hätte ehrlich sein müssen zu euch und vor allem hätte ich es Artur sagen sollen. Ich hätte ihm keine Lüge vorspielen sollen, aber wie sollte ich ihm etwas erklären, was ich selbst nicht verstand. Verstehe mich nicht falsch, das entschuldigt das nicht. Ich war einfach zu feige, bin den leichten Weg gegangen, anstatt mich meinen echten Gefühlen zu stellen und ihm die Wahrheit zu sagen-."
„Ich weiß Naomi, ich weiß", unterbrach ich sie, dass sie uns ihre wahren Gefühlen verschwiegen hat, verstand ich nun ein wenig besser.. Kurz überlegte ich ihr von Artur zu erzählen, doch ich behielt es vorerst für mich. Vermutlich würde es nur Salz in die Wunde streuen.

„Ich vermisse dich. Und Alicia und Matt.", gestand sie und ich hörte den Schmerz aus ihrer Stimme heraus. Seit der Lüge, die sie uns vorgespielt hat und wir alle sofort geglaubt haben, konnte ich mir zwar nie mehr so sicher bei ihr sein wie zuvor, aber dieses Mal glaubte ich ihr.
„Ich auch", antwortete ich. „Und ehrlich gesagt brauche ich auch mal wieder ein bisschen Abwechslung. Wie wär's, wenn ihr uns morgen morgen alle mal wieder treffen?", schlug ich vor.

Sie dachte kurz nach und erklärte mir dann, dass sie morgen mit Ian auf einer Party von eine seiner alter Schulkameradin eingeladen gehen würde, doch dass sie bestimmt kein Problem damit hätte, wenn wir auch vorbeikämen. Ich willigte sofort ein. Jede Minute, in der ich ein bisschen Abstand von Theo bekommen würde, nahm ich dankend an. Kurz rief ich mir das Treffen mit Liv nochmal in den Kopf und überlegte, wann sie sich wieder mit mir treffen wollte. Es war der kommende Montag und somit überschnitten sich keine der beiden Termine.

Als Liv und ich uns verabschiedeten bat sie mich darum, am Montag erneut zur Hütte zu kommen, dann würde sie mir endlich Antworten auf all meine Fragen verschaffen, die mich die letzten Nächte quälten. Warum ich alleine zur Hütte kommen müsse und warum es so wichtig ist meine Kette zu tragen, würde sie mir dann auch erklären. Außerdem würde ich die anderen Gruppenmitglieder genauer kennenlernen können.
Doch zu dem Zeitpunkt hatte ich noch nicht die geringste Ahnung, was mich alles erwarten würde. Und dass ich diese Hütte nicht zum letzten Mal sehen würde.

Ein leises Piepen holte mich zurück in die Realität. Verwirrt schaute ich mich um und probierte den Ursprung des Geräusches ausfindig zu machen. Plötzlich sah ich Theos Handy auf dem Wohnzimmertisch leuchten, er musste es wohl gestern hier vergessen haben. Es war erst 10 Uhr, und da Theo ein Langschläfer war und er meist nicht vor 11:Uhr aus den Federn gekrochen kam könnte ich, wenn ich wollte, auf sein Handy schauen.

Natürlich nur theoretisch. So etwas würde ich niemals tun. Ich wollte seine Privatsphäre nicht verletzten. Aber wenn ich nur kurz einen Blick drauf werfe...

Letztendlich packte mich meine Neugier und führte mich zu dem Handy. Wahrscheinlich war es nur sein Vater, der ihm wegen der Arbeit etwas schreiben musste, oder seine Mutter, die zum zehnten Mal fragte, wie es ihm denn gehe. Doch als ich die Nachricht sah, verdrehte sich mein mit Schokoladen gefüllter Magen einmal um.

„Ich vermisse dich mein Süßer, wann sehen wir uns endlich wieder? Janine."

Ich blinzelte mehrmals, um mich auch wirklich zu vergewissern, dass ich gerade richtig gelesen habe. Das konnte doch gerade nicht war sein. Eigentlich sollte ich mich freuen, vielleicht empfand er ja auch nichts für mich, aber etwas in mir sträubte sich, dies zu glauben. Zwar kannte ich Theo erst ein paar Monate, aber damit hatte ich nun wirklich gar nicht gerechnet. Es konnte doch nicht sein, dass ich mich in jeden meiner Mitmenschen täuschte. Vielleicht war es doch keine so schlechte Entscheidungen keine Psychotherapeutin zu werden.

„Juliette was machst du da?", erschrocken drehte ich mich zu Theo um, der mich auf frischer Tat ertappte und mir nun eine gigantische Erklärung für das hier schuldig war.

Perfect LieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt