Kapitel 11

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Kapitel 11

Ein großer Eimer eisiges Wasser, der über deinen Kopf geschüttet wird.
Zuerst der Schock, wenn das kalte Wasser zum ersten Mal auf deine Haut trifft und sich alles in dir verkrampft, weil du genau weißt, was dir nun bevor steht. Die Starre. Und dann das unbeschreibliche Gefühle danach. Wenn du deinen Körper endlich wieder richtig spürst und deine Sicht klarer ist als je zuvor.
Als wärst du endlich aufgewacht.

Meine ganze Vorstellung und Erwartungen an das Verfahren, an das System, an mein Leben haben sich so eben in Luft aufgelöst. „Juliette, es tut mir wirklich Leid, dass ich es dir verschwiegen habe, aber es war nur für deinen eigenen Schutz", entschuldigend sah sie mich an.
„Ich weiß, alles gut", ich lächelte und zog sie in eine sanfte Umarmung.

„Wie hast du dich dabei gefühlt?", fragte ich sie schließlich als wir uns aus der Umarmung lösten.
„Bei der Umarmung?", skeptisch hob sie ihre Augenbrauen
„Nein natürlich nicht, ich meinte, als du bemerkt hast, dass du was für Frauen empfindest", ich verdrehte schmunzelnd die Augen. Liv tat es mir gleich. „Achso, naja also das ist schwer zu sagen. Es war wie ein Zwicken, was du aber die ganze Zeit ignoriert hast, bis du irgendwann selbst geglaubt hast, dass du es dir nur einbildest. Du wusstest, dass es nur Probleme machen würde. Anscheinend habe ich es mir so gut ausgeredet, dass ich mir selbst und dem Verfahren etwas vormachen konnte. Und es ist ja nicht so, dass ich absolut nichts mehr für Männer empfinde", sie zwinkerte. „Ich bin also mit Kyle zusammengekommen und dachte, dass dieses verdammte Zwicken endgültig verschwunden ist. Bis ich auf sie traf und aus dem Zwicken plötzlich ein riesiger, atemberaubender Schmetterling wurde. Etwas Wunderschönes. Je mehr Zeit wir zusammen verbrachten, desto größer der Schmetterling, der sich immer mehr Platz in mir verschaffte. Erst dann merkte ich, dass dieses Gefühl, dieses Zwicken, was ich insgeheim schon immer hatte, kein Fehler oder eine Einbildung war. Es war ein Teil von mir, den ich aber erst  zu spät lernte zu akzeptieren. Und so wurde aus dem kleinen Zwicken ein riesiger, starker Schmetterlinge, der all deine Ängste federleicht mit seinen Flügeln wegstoß."

Ein Blick in Livs Augen reicht, um sagen zu können, dass sie nie glücklicher war als jetzt. Wir dachten immer es läge an Kyle, doch mal wieder war es anders als es schien. Unter anderen Umständen wäre mir vielleicht die ein oder andere Träne isn Auge gekommen, so berührt hat mich das, was sie gesagt hat. Ich wusste gerade nicht, wer mehr strahlte. Liv, als sie von ihrer echten Liebe erzählte, oder ich, die sich einfach nur unglaublich über das Glück ihrer Schwester freute.

Auf die Frage, ob Kyle es wisse, nickte sie schmunzelnd.
„Ich habe es ihm sofort erzählt. Ich wusste nicht warum, wahrscheinlich war es objektiv gesehen das dümmste, was man in der Situation hätte machen können, aber was im Leben ist bitte objektiv? Schon die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, dass Kyle kein großes Problem damit haben würde."
Überrascht blickte ich in ihre rehbraunen Augen. „Willst du mir damit sagen, dass du Kyle egal warst?", langsam hatte ich diese Plot-Twists in meinem Leben satt. Die ganze Zeit dachte ich, Liv und Kyle wären das Traumpaar schlecht hin.
Ich will gar nicht wissen, in was ich mich noch alles getäuscht habe.

„Nein, auf gar keinen Fall, Kyle und ich mögen uns, aber eben nur auf freundschaftlicher Ebene.
Er ist kein Typ, der sich gerne bindet. Und 'ne Beziehung wollte er eigentlich auch nie haben. Nachdem ich ihm die Wahrheit gesagt habe, wirkte er keineswegs verletzt, eher sogar erleichtert. Wir haben uns dann ausgesprochen und er hat mir gestanden, dass er gar kein Beziehungstyp ist. Seitdem leben wir wesentlich lockerer zusammen, ohne das alles so aufgesetzt und verkrampft ist."

Ich nickte verständnisvoll, auch, wenn es mir immer noch sehr schwer fiel, zu realisieren, dass all das zwischen Liv und Kyle nicht echt war.
„Aber ihr müsst doch irgendwann Kinder kriegen?", bei dem Gedanken, dass zwei Leute Kinder auf die Welt bringen, die sich eigentlich gar nicht lieben, wurde mir mulmig zumute.
„Und das ist das Problem", sie seufzte und nahm meine Hand. „Zur Zeit klappt zwar alles bei uns, doch wir wollen nicht unser Leben lang so weiterleben. Das Verfahren darf nicht einfach so über unser komplettes Leben bestimmen. Nicht über deines, nicht über meines und nicht über das anderer Menschen."

Plötzlich hörten wir ein lautes Knacksen. Schritte, die immer näher kamen. Panisch blickte Liv um sich. „Versteck dich", flüsterte sie mir zu. Mein Puls fuhr schlagartig in die Höhe.
Ich wollte sie schon die ganze Zeit fragen, warum sie uns eigentlich in diese weit entfernte Hütte bringen müsste, um mir von ihren wahren Gefühlen zu erzählen, vermutlich gab es dafür aber bessere Augenblicke als diesen. Inständig hoffte ich, dass die Person vor der Hütte einfach weitergehen würde. Vielleicht war es auch nur jemand der Pilze pflückte - Um 23 Uhr nachts. Der mit seinen aggressiven Schritten eher den Eindruck machte, Pilze zerstören zu wollen.
Okay, vielleicht war es doch kein Pilzpflücker.

Und dann kam mir plötzlich jemand in den Sinn, an den ich ausnahmsweise mal nicht gedacht habe. Theo. Was ist wenn er mir gefolgt ist? Wenn er schon die ganze Zeit gemerkt hat, dass etwas nicht stimmt? Angstperlen bildeten sich auf meiner Stirn und ich probierte mir eine Erklärung dafür einfallen zu lassen, dass ich mit meiner Schwester mitten in der Nacht in einer verlassenen Hütte mein Unwesen treibte, weil sie mich angeblich total aufgelöst angerufen hatte. Natürlich fiel mir keine Erklärung ein. Das hat schon damals im Unterricht nicht funktioniert, als mich Lehrer urplötzlich dran nahmen und  mir Fragen stellten. Leider ging es gerade aber nicht nur um eine unwichtige Note, sondern um mein Leben.

Innerlich verdrehte ich die Augen. Jetzt fing ich schon so an wie Naomi, mit ihrer Angst und dem Übertreiben. Gerade aber weil mich eigentlich Nichts so schnell aus der Ruhe brachte, beunruhigte mich die Situation umso mehr.

Als die Schritte nun ganz nahe an der Hütte waren spürte ich mein Herz pochen, wie ich es lange nicht mehr gespürt habe.
Meine Schwester tastete gerade den Boden ab, doch es war zu spät.
Panisch rammte ich meine Finger in die Couch und machte mich auf das Schlimmste gefasst, als ich zur Tür blickte.

Ein großer Typ mit dunklen Haare und gezückter Waffe öffnete gewaltsam die Tür, doch als er Liv sah, fasste er sich erleichtert an die Brust und steckte seine Waffe zurück. „Scheiße Liv, hast du mich erschreckt. Was machst du hier?", im nächsten Moment trafen sich unsere Blicke und Misstrauen bereitete sich auf seinen Gesicht aus. Er richtete seine Pistole auf mich, als Liv laut losprustete. „Leandro, das ist meine Schwester, kein Grund sie abzuknallen."

Er musterte mich skeptisch von oben bis unten. Wie ich es hasste. Ich zog eine Augenbraue hoch. „Fertig?", zickte ich. Ich weiß auch nicht, was gerade mit mir los war. So viel Aufregung auf einmal war ich nicht gewohnt. Ich wollte einfach nur noch schlafen. „Was macht sie hier?", immer noch misstrauisch schaute er mich mit seinen glasklaren, blauen Augen an, doch auch ich hielt meinen kühlen Blick stand. „Lange Geschichte, aber sie ist eine von uns. Was machst du eigentlich hier, das nächste Treffen ist erst in drei Tagen", gespannt wartete sie auf Leandros Antwort, der sich ein wenig verlegen durch die Haare fuhr. „Hab's bei ihr nicht mehr ausgehalten und dachte ich könnte hier eine Nacht schlafen."

„Bist du verrückt, du kannst das hier doch nicht einfach als dein zweites Zuhause benutzen. Ist dir eigentlich bewusst, wie gefährlich das sein kann?", schimpfte Liv, und die beiden fuhren ihr Gespräch fort, während ich Leandro unauffällig musterte. Irgendwoher kam er mir bekannt vor. Und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Wir saßen gemeinsam bei Phase 2 an einem Tisch. Er war der, der schmunzeln musste, als ich einen Spruch gegen die nervigen drei Mädchen fallen ließ.

„Warum starrt mich deine Schwester so an?", verwirrt schaute er zu mir rüber.
„Ich habe die ganze Zeit überlegt, woher ich dich kenne und dann ist mir eingefallen, dass wir bei Phase 2 zusammen an einem Tisch saßen. Hat nur etwas gedauert dich zu erkennen, weil du da noch nicht mit grimmigen Blick eine Pistole auf mich gerichtet hast."

„Da warst du auch nicht so zickig", konterte er mit einem leichten Grinsen. Er konnte sich also auch erinnern. Meine Schwester und er führten noch ein kurzes belangloses Gespräch, als wir zum Heimweg aufbrachen. Und je näher ich meiner Wohnung und Theo kam, desto mehr sträubte sich alles in mir einfach wieder zurückzulaufen und nie wieder zu Theo zurückzukehren.

Ich hatte eine Sache mit dem Eimer voller eisigen Wasser vergessen.
Nachdem deine Sicht klarer wird, du deinen Körper endlich wieder richtig spürst und aufwachst. Dann breitet sich das Wasser langsam auf dem Boden aus. Ohne zu stoppen läuft es immer weiter, wird immer mehr.

Und ich musste mich schleunigst darum kümmern, das Wasser zu beseitigen.

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