Kapitel 1

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Ein einziger Gedanke war es, der mir schon seit einigen Stunden im Kopf herumschwirrte. Wann würde diese Qual endlich enden? Wann würde ich ein friedliches Leben führen können, ohne die regelmäßigen Besuche in der Klinik, wovon mein Leben abhing. Diese Last auf meinen Schultern, der Gedanke, dass alles bald ein Ende nehmen könnte. Dass jeder Augenblick in meinem Leben der letzte sein könnte, wenn sich meine Krankheit nicht bald tendenziell in den guten Bereich begeben würde. Mir wurde übel, als das restliche Blut meinen Körper verließ und für einen Moment fühlte ich mich unfassbar schwach. Vorsichtig zog Frau Koch die Nadel aus meinem Arm, es schmerzte. Sie deckte die zurückbleibende Wunde mit einem Pflaster ab und wandte sich an mich. "Sie haben es geschafft.", sprach sie ohne zu zögern. Ein erzwungenes Lächeln bildete sich auf meinen Lippen und innerlich dachte ich mir "Auf nie mehr Wiedersehen!"

"Bis zum nächsten Mal, Frau Demirel.", winkte mir meine Ärztin lächelnd zu und zerstörte somit sämtliche Hoffnung, endlich erlöst von der Klinik zu sein. Ich erwiderte mit einem ebenfalls harmonischen "Tschüss!". Ich öffnete die Tür, welche ins Freie führte und spürte augenblicklich den frischen Frühlingswind durch meine Haare wehen. Ein weiterer Besuch in der Klinik war somit zu Ende gegangen und ich wünschte mir sehnlich, dass es so bald wie möglich einen Abschied für immer von der Klinik geben würde, die mittlerweile wie mein zweites zu Hause geworden war. Ich ging langsam einige Schritte und spürte bereits nach ein paar Metern den Schmerz in meinem Arm, in welchem sich zuvor noch eine Nadel befunden hatte. Vorsichtig legte ich meine Hand auf die betroffene Stelle und spürte einen ziehenden Schmerz, weshalb ich die Hand sofort wieder von meinem Arm erhob. Nach unzähligen weiteren Schritten spürte ich bereits das mir bekannte Seitenstechen, weshalb ich erschöpft auf der Stelle stehen blieb und tief durchatmete. Als das Stechen sich allmählich legte, schritt ich weiter auf den Parkplatz der Klinik, wo sich mein kleines Auto befand. Ich spürte noch immer den Schmerz an meinem Arm, weshalb ich kurz daran zweifelte, ob ich in diesem Zustand Auto fahren könnte. Jedoch fragte ich mich das öfters. Um genau zu sein, drei Tage die Woche. Montags, Mittwochs und Freitags. Doch jedes Mal wurde mir aufs Neue bewusst, dass ich dieses Leid bereits gewohnt war, weshalb ich ohne lange nachzudenken nach dem Lenkrad griff, auf das Gaspedal drückte und losfuhr. Der schmerzende Arm war der linke, weshalb ich mit dem rechten Arm die Musik etwas lauter drehen und einem besinnlichen Liebeslied lauschen konnte.
Als ich nach einigen Minuten vor meiner Haustür stand, zückte ich meine Schlüssel aus der Handtasche und schloss die Türe auf. Meine Mutter, die wohl durch das Geräusch der Tür über mein Hereintreten informiert war, begrüßte mich herzlich mit einem "Hallo mein Schatz, hast du Hunger?" Ruhig blickte ich in ihr liebliches Gesicht und schüttelte den Kopf, anschließend ließ ich mich auf einen beliebigen Stuhl im Esszimmer fallen. "Bist du dir sicher?", sprach sie besorgt und näherte sich mir. Sie legte eine Hand behutsam auf meine Schulter, wobei ich reflexartig zusammenzuckte, es schmerzte. "Oh nein, das tut mir leid. War es diesmal dein linker Arm?" Ich nickte. Noch immer sah sie mich besorgt an und verpasste mir schließlich einen Kuss auf die Wange. Sie war so fürsorglich, ich lächelte. "Das konntest du nicht wissen.", sprach ich ihr beruhigend zu und griff nach dem nächstgelegen Glas Wasser, woraus ich einige Schlücke trank. "Gibt es denn etwas neues?", wollte meine Mutter nun von mir wissen. "Nein.", seufzte ich. Sie setzte sich auf den gegenüberliegenden Stuhl und strich langsam über meinen Oberschenkel. "Sei nicht traurig mein Schatz, wir schaffen das." Ihre Worte waren jedes Mal unfassbar ermutigend für mich und sie beruhigten mich in jeder Hinsicht jedes mal aufs Neue. "Danke für alles, Mama.", sprach ich ihr noch immer ruhig zu und griff behutsam nach ihrer Hand. "Da gibt es nichts zu danken meine Kleine, möchtest du etwas essen?" Nun nickte ich, da es mir sichtlich besser ging. Meine Mutter erhob sich augenblicklich und bereitete mir einen Teller mit Essen zu. Nachdem sie mir diesen, wissend über meinen wie so oft anstrengenden Tag, gebracht hatte, setzte sie sich zu mir und wir redeten ein wenig miteinander. "Na, was haben die kleinen heute wieder angestellt?", versuchte sie mich aufzumuntern. Sie wusste, dass ich meinen Beruf und die Kinder über alles liebte und mir der Gedanke daran jedes Mal ein Lächeln ins Gesicht zauberte. "Frag gar nicht!", lachte ich von ganzem Herzen. Fast täglich überhäufte ich meine Familie mit Erzählungen über die Kinder in meinem Beruf als Erzieherin in einem Kindergarten.
"Der kleine Amar hat sich mit seiner Freundin gestritten.", kicherte ich vor mich hin. "Ach ja?", hakte meine Mutter belustigt nach, woraufhin ich nickte. "Und was war der Grund dafür?" Auf diese Frage hin lachte ich noch lauter als zuvor und hielt mir bereits den Bauch vor Lachen, wodurch ich jedoch erneut durch den stechenden Schmerz an meinem Bauch gequält wurde und mich augenblicklich dazu zwang, aufzuhören. "Sie hat mit einem anderen Jungen Fangen gespielt!" Meine Mutter brach nun auch in einem lauthalsen Gelächter aus und der Raum wurde durch unser harmonisch hallendes Lachen belebt. Ich ignorierte das Seitenstechen, doch es wurde immer stärker. Ich biss mir nun fest auf die Lippe und hoffte darauf, dass es aufhören würde. Nach einer gefühlten Ewigkeit dominierte wieder die Stille im Raum, bis meine Mutter sie zu brechen vermochte.
"Ich räume dann mal die Küche auf, leg du dich ein bisschen hin.", sprach sie mir liebevoll zu und lief in die Küche. "Brauchst du Hilfe?", fragte ich sie, doch sie ließ mich kaum ausreden und forderte mich dazu auf, mich etwas auszuruhen. Ich lächelte verschmitzt.
Während sie in der Küche beschäftigt war, nahm ich aus meiner Tasche die Prospekte heraus, welche mir meine Ärztin heute überreicht hatte. Ich bekam oft solche Prospekte, doch nützten sie mir nie wirklich etwas. "Nierentransplantation" las ich still vor mich hin. Ich schlug die ersten Seiten auf und las ein wenig, jedoch war mir der Inhalt bereits bekannt. Ich legte das Prospekt zur Seite und Griff zum nächsten. "chronisches Nierenversagen - Wie gehe ich damit um?" Auch dieses Prospekt landete schnell auf der Seite des Uninteressanten. Wie sollte ich denn schon damit umgehen? Ich litt nun seit drei Jahren daran. Ich wusste bereits, wie man damit umging. Dieses Prospekt konnte mich in keinsterweise belehren. Ich litt seit drei Jahren an chronischem Nierenversagen und allmählich wurde auch meine einzige funktionierende Niere immer schwächer und schwächer. Vergeblich wartete ich auf einen Nierenspender, doch es ergab sich nichts. Ich stand auf der Warteliste, seit drei unerträglichen Jahren.

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