Kapitel 6

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"Steh auf!", rief mir meine Freundin verzweifelt zu, während sie mich an meinem Arm unsanft hochzerrte. Sie riss das Fenster auf und noch immer schweratmend begab ich mich dorthin und inhalierte die frische Luft. In solch einer Situation der Atemnot war es unfassbar wichtig, den Oberkörper aufrecht zu halten, damit die Luft problemlos in die Lungen fließen konnte. Sibel wusste das, sie kannte meine Krankheit und ihre Symptome mindestens genauso gut wie ich selber.
Ich stand am Fenster und hörte meinem Herzschlag zu, wie er sich langsam legte und meine Panik sich allmählich zügelte. Ich atmete noch immer schwer, jedoch würde das nach kurzer Zeit wieder besser werden. Sibel legte vorsichtig ihre Hand auf meinen Rücken und strich auf und ab. "Alles okay? Wollen wir ins Krankenhaus?" Ich schüttelte angestrengt den Kopf und zog noch immer die Luft tief in mich hinein. Das Schlimmste am Nierenversagen war, dass es im fortgeschrittenen Stadium auch andere Organe beschädigte. Leider Gottes befand ich mich bereits im fortgeschrittenen Stadium, weshalb ich mit nahezu allen Symptomen der Nierensuffizienz leben musste. "Soll ich dir die Tabletten bringen?" Erneut schüttelte ich den Kopf und stütze meine Ellenbogen auf dem Fensterbrett ab, während ich meinen Kopf in meinen Händen vergrub. "Eda! Ich bringe dir jetzt die Tabletten, wo sind sie? Deine Atemwege sollen sich öffnen!", befahl sie mir ernst, was ich mit einem ruhigen "Nein, es geht wieder.", erwiderte. Laut seufzend spazierte sie auf mein Bett zu und ließ sich darauf nieder. "Du bist so ein scheiß Sturkopf!", schimpfte sie nun. Ich lachte kurz auf und blickte anschließend aus dem Fenster. Von meinem Fenster aus hatte ich einen wundervollen Blick auf die Kirschblüten in unserem Garten, welche nun im Frühling wieder herrlich blühten. Ich bewunderte dieses Geschenk der Natur lächelnd und zog die frische Abendluft tief in mich hinein. Ich ließ das Fenster offen stehen und gesellte mich ebenfalls zu meiner Freundin, welche mich augenblicklich wieder auf die Beine schubste. "Bleib noch ein bisschen stehen!" Augenrollend ging ich ihrem Befehl nach. Außer einem relativ starken Seitenstechen spürte ich jedoch nichts mehr von der Luftnot.
"Wollen wir ein bisschen raus?", strahlte ich, wie es üblich für mich war. Ich war eine sehr lebensfreudige und warmherzige Person, jedoch kam auch mein Temperament in einigen Situationen sehr stark zum Vorschein, denn provozieren ließ ich mich nicht. Diese Lebensfreude war in den letzten Jahren etwas verloren gegangen, dennoch versuchte ich, mich so oft wie möglich selbst daran zu erinnern, wie wichtig positives Gedankengut ist. Meine selbstbewusste und ehrliche Persönlichkeit wusste mein Umfeld stets zu schätzen, weshalb ich meiner Meinung nach kein Mensch war, der von der Gesellschaft nicht sonderlich gemocht wurde, sondern eher im Gegenteil.
"Es wird bald dunkel, Yasin wird es dir nicht erlauben.", riss mich meine wunderschöne Freundin aus den Gedanken, während sie mit ihren dichten, langen Wimpern klimperte, welche ich sehr bewunderte.
"Dann bleiben wir nicht lange. Komm schon, das Wetter ist schön!"
"Na gut!", erwiderte sie ebenfalls erfreut und zog sich ihre Lederjacke über. Kichernd verließen wir mein Zimmer. "Mama, wir gehen ein bisschen in den Park!", rief ich meiner Mutter zu, während ich in meine Jacke schlüpfte. Bevor sie etwas erwidern konnte, öffnete sich die Zimmertür meines Bruder und ich erblickte sein Hervortreten. "Wohin geh- Hey Sibel!", augenblicklich bildete sich ein Lächeln auf seinen Lippen und er schloss Sibel zur Begrüßung liebevoll in seine Arme. Sie gehörte eindeutig zur Familie, schließlich waren wir gemeinsam großgeworden, was mich unglaublich glücklich machte. Die Beiden redeten ein wenig miteinander, bis ich sie schließlich unterbrach. "Lernst du mal wieder? Du schaust so müde aus!" "Danke!", lachte er ironisch und steckte uns auch damit an. "Wohin wollt ihr gehen? Es wird gleich dunkel, bleibt doch zu Hause." "Wir wollten nur ein bisschen im Park spazieren, wir bleiben auch nicht lange!", versuchte ich ihn zu überreden und es schien zu klappen. "Na gut!", stimmte er schlussendlich nach einer knappen Diskussion ein und gut gelaunt machten wir uns auf den Weg.
Redend spazierten wir umher und ich genoss die Atmosphäre. Das Zwitschern der Vögel war noch zu hören und außer den Laternenlichtern war der große Park kaum von Leben geprägt. Es war sehr ruhig und man konnte dem Rauschen der Isar zuhören, was ich als sehr angenehm empfand. Der Wind durchzog meine dichten Locken unsanft und verpasste mir kurzerhand einen kalten Schauer. Sibel und ich waren die einzigen, die ich in diesem Moment wahrnahm, da man womöglich nur unser ständiges Lachen und unsere lauten Stimmen hören konnte. Da es allmählich kühler wurde, schritten wir zurück nach Hause und aßen genussvoll eine Kleinigkeit vom himmlischen Essen meiner Mutter.
Am späten Abend fuhr ich Sibel nach Hause, da sie zu Fuß gekommen war. Verwundert darüber, dass ich es so lange wach ausgehalten hatte, machte ich mich bettfertig. Weitere Symptome meiner lebensbedrohlichen Krankheit waren nämlich beispielsweise Benommenheit, Schläfrigkeit, Muskel- und Knochenschmerzen. Ständige Müdigkeit war für mich bereits in den Alltag integriert, da ich mich nie wirklich fit und wach fühlte.
Am nächsten Morgen spürte ich bereits die Übelkeit in mir aufbrodeln. Kaum hatte ich mich aufgesetzt, kam mir die Übelkeit ziemlich schnell hoch, weshalb ich in das Badezimmer sprintete und erbrach. Seit zwei Wochen war es das erste Mal, dass ich erbrach. Das machte mich etwas glücklich, da es normalerweise eine Regelmäßigkeit für mich geworden war. Mit knurrendem Magen wusch ich mir vorerst das Gesicht und frühstückte anschließend, wobei mir wieder etwas schlecht wurde. Ich ignorierte das jedoch und befand mich knapp eine Stunde später im Kindergarten inmitten von all den lieben Kindern, was mich bezauberte und die Übelkeit plötzlich wie weggeblasen war.
"Du siehst so blass aus.", sprach mich meine Kollegin Sandra nach einigen Stunden liebevoll an und strich mir dabei sanft über die Schulter. "Ist alles okay bei dir?", fragte sie mich besorgt, was ich ihren Augen förmlich ablesen konnte. "Heute Morgen war mir ziemlich schlecht, aber jetzt ist wieder alles gut.", erwiderte ich lächelnd. "Bist du dir sicher?", kam es äußerst ruhig von ihr, was ich kurzerhand mit einem Nicken bejahte. "Gut, ich schnappe mir dann mal die Großen und lese ihnen etwas vor.", versicherte sie mir und verabschiedete sich somit von mir. "Okay, sobald die Kleinen aufwachen, schicke ich sie auch zu dir. Wir können dann zusammen etwas spielen." Als Bestätigung nickte sie mir zu und verschwand anschließend. Unsere Gruppe bestand aus den jüngeren und den älteren Kindern und mein Herz schlug für jedes einzelne von ihnen. Sie waren mir sehr ans Herz gewachsen und bezauberten mich mit ihrer unschuldigen und unfassbar lieblichen Art.
Nach der Arbeit machte ich mich widerwillig auf den Weg in die Klinik, um mich der Dialyse zu vollziehen, da heute Freitag war. Mit meinem über alles geliebten Auto, welches klein aber sehr fein war, parkte ich gefühlvoll ein und spazierte anschließend auf den Eingang zu.
Angekommen im Wartezimmer, griff ich nach einer Fashion Zeitschrift und begann gespannt darin zu lesen, bis ich durch das hastige Öffnen der Türe erschrak. Schlagartig drehte ich meinen Kopf in die Richtung des Geschehens und erblickte den Typen, welchem ich seit neustem in der Klinik begegnete. Vedat. Ich kniff meine Augen zusammen und beobachtete ihn dabei, wie er sich, ohne mir einen Blick zu würdigen, auf den Stühlen breit machte  und trotzig seinen Kaugummi kaute. Wieso war er bloß so ignorant? Die Wut über sein inakzeptables Verhalten begann erneut in mir aufzukochen. Als auch noch schmatzende Geräusche begannen den Raum zu füllen, war mein Geduldsfaden endgültig gerissen. Ich wandte meine Blicke von der Zeitschrift ab und schielte genervt zu ihm rüber. "Geht das auch etwas leiser?", fauchte ich zu ihm rüber. Für einen kurzen Augenblick sah er auf, wodurch mir erneut die Gefahr in seinen tigerbraunen Augen bewusst wurde, jedoch brach er sofort wieder den Blickkontakt ab und schwieg. Dieses Schweigen machte mich verrückt. Anstatt verbal zurückzuschlagen, mich anzupampen oder etwas Fieses zu sagen, schwieg er. Zornig schlug ich die Zeitschrift auf den Tisch und marschierte aus dem Zimmer, als mir genau in dem Moment die Arzthelferin entgegenkam. "Oh Frau Demirel, kommen sie gerade mit?" Noch immer angespannt von der Situation folgte ich ihr wortlos und erntete somit verwirrte Blicke.

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