Kapitel 11

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"Kinderklinikum Taufkirchen",
las ich die Aufschrift, welche auf der Tür befestigt war still vor mich hin. Aus einem unerklärlichen Grund überfuhr mich in diesem Moment eine schrille Gänsehaut, sie startete von unten und ging langsam und immer intensiver blitzartig nach oben. An diesem angenehmen Frühlingstag wurde mir kalt, ich erschauderte. "Was machen wir hier?", schluckte ich und sah meinen Bruder mit großen Augen an.
Wortlos hielt er mir die Tür auf, woraufhin ich hineinmarschierte und mir plötzlich unfassbar warm ums Herz wurde. Die Einrichtung ähnelte einer Kindertagesstätte, aus jeder Ecke ertönte ein schrilles Kinderlachen, sie rannten umher, spielten miteinander.
Neugierig sah ich mich um, mein Herz ging schlagartig auf, es blühte förmlich auf, als ich diesen kindlichen Geruch vernahm.
Doch im nächsten Moment realisierte ich, dass dies ein Klinikum für Kinder war. Kleine unschuldige Kinder, die in ihren jüngsten Jahren unter sämtlichen Krankheiten litten und bereits vieles durchmachen mussten. Weshalb waren wir hier? Was hatte mein Bruder mit mir vor? Er schritt weiter an die Rezeption, während ich ihm wortlos folgte und dem Gespräch mit der Dame an der Theke lauschte. "Wir möchten zu Amira Güven", sprach er ihr zu. "Sie ist auf der Station 7, im Raum 303, dazu müssen sie hier vorne geradeaus laufen und den zweiten Ausgang nach links wählen. Dort gehen sie mit dem Aufzug in den vierten Stock."
"Danke", erwiderte mein Beschützer freundlich und marschierte weiter.
Komischerweise verließ kein einziges Wort mehr meinen Mund. Das komische an der Sache war jedoch, dass ich es nicht für nötig hielt, meinen Bruder mit weiteren Fragen zu löchern. Als wir nun vor der Tür mit der Zahl 303 standen, welche mit einer Kinderzeichnung geschmückt war, die bunte Blumenwiesen und viele andere unerkennbare Dinge aufwies, begann mein Herz plötzlich zu rasen. Ich konnte dieses Gefühl nicht definieren, was ich in diesem Kinderklinikum fühlte, es war außergewöhnlich. Einerseits wärmte es mich auf, es beglückte mich. Andererseits bestand immer der Hintergedanke, dass diese unschuldigen Engel dies alles nicht verdient hatten. Dreimal klopfte er, bis er einen kleinen Spalt öffnete, welcher allmählich größer wurde und er anschließend das Zimmer betrat. Das Zimmer war unfassbar kindergerecht eingerichtet, der erste Eindruck veranlasste eine Blütezeit in meinem Körper.
Als ich vorsichtig eintrat und den Raum betrachtete, fiel mir ein kleines Mädchen auf, die an ein Dialysegerät gebunden war und in diesem Moment mit einer älteren Frau sprach. Die Frau erhob sich und das kleine Mädchen sah meinen Bruder mit großen Augen an.
"Eda, das ist Frau Güven. Sie ist die Mutter von einer Freundin, die gemeinsam mit mir studiert. Und das ist ihre kleine Schwester, also Frau Güvens Tochter."
Die Dame näherte sich mir liebevoll und umschloss mich mit ihren Armen. Ich fühlte mich sehr wohl in ihren Armen, sie war unfassbar herzlich zu mir.
"Freut mich sehr, Frau Güven,", strahlte ich nun und sah zu dem Mädchen. "Mich auch, mein Kind.", lachte sie auf und hielt weiterhin meine Hand. "Und wie heißt du?", fragte ich das kleine Mädchen, obwohl ich es eigentlich schon wusste. "Amira", sprach sie und strahlte dabei bis über beide Ohren. "Das ist doch ein sehr schöner Name!", gab ich zu und musterte ihr engelhaftes Gesicht, was sich aus olivenschwarzen Augen, unfassbar dunklen Augenbrauen und vollen Lippen zusammensetze. "Danke", lächelte die Schönheit. "Und du?"
"Ich heiß Eda", stellte ich mich vor, woraufhin sie mir die Hand reichte. "Freut mich, Eda!", lachte sie weiterhin und ich konnte nicht fassen, wie sie mich in diesem kurzen Moment mit ihrer positiven Energie ansteckte.
"Mich auch", erwiderte ich daraufhin. "Wie alt bist du denn, Amira?"
"Ich bin schon sieben Jahre alt", gab sie stolz von sich, was mich erneut in die Realität zurückholte. Mit sieben Jahren an einer Nierensuffizienz zu leiden, das konnte doch nicht möglich sein.
"Wir gehen einen Kaffee trinken, Eda und Amira. Viel Spaß euch", verabschiedeten sich mein Bruder und Frau Güven von uns und verließen somit den Raum.
"Wow, du gehst also schon in die Schule?"
"Ja, endlich! Kindergarten ist doof!", erwiderte sie trotzig.
"Kindergarten ist doch nicht doof. Ich arbeite da", erwiderte ich gespielt trotzig.
Als sie sich ertappt fühlte, lachte sie plötzlich beschämt auf.
"Schule ist viel besser!", sprach sie euphorisch.
Wir redeten eine Weile miteinander, bis sie mich schließlich auf den eigentlichen Zweck dieser Begegnung ansprach.
"Wieso seid ihr gekommen?"
"Ich weiß es nicht", musste ich jedoch zugeben.
"Amira", sprach ich behutsam. "Weißt du, wofür das ist?", fragte ich sie und deutete dabei auf das Gerät, welches ab und an piepste.
"Natürlich weiß ich das! Das nimmt mir mein Blut, macht es sauber und gibt es mir wieder zurück. Ohne das werde ich krank. Ich bin froh, dass es das gibt. Sonst wäre ich immer krank."
Diese Begegnung war unfassbar emotional, ich musste mich zurückhalten, um keine Träne über ihr schreckliches Schicksal zu verlieren.
"Und du bist oft hier, oder?"
"Ich bin schon seit zwei Wochen hier, das ist doof. Ich kann nicht in die Schule gehen, weil ich krank bin. Mir tut alles weh, ich vermisse meine Freunde.", sprach sie nun etwas trauriger zu mir.
"Die kommen dich bestimmt besuchen! Außerdem hast du hier doch auch Freunde, oder nicht?"
"Ja, ganz viele!", strahlte sie und erzählte mir viele Geschichten von ihren Freunden.
Nachdem kurze Stille geherrscht hatte, wusste Amira diese zu brechen.
"Das ist echt gemein. Alle dürfen in die Schule gehen und ich muss immer hier liegen, damit ich nicht krank werde. Wieso bekomme ich denn so eine Krankheit?"
Es zerbrach mir regelrecht das Herz, es blutete förmlich.
"Ich habe auch diese Krankheit, du bist doch gar nicht alleine damit", erwiderte ich ermunternd.
"Wirklich?", staunte das kleine Mädchen und sah mich mit großen Augen an. Aus unerklärlichen Gründen hatte ich nicht den Drang dazu, dass Mädchen aufzumuntern und ihr vorzugaukeln, dass alles gut werden würde. Ich hatte viel eher den Drang dazu, ihr das Herz auszuschütten und mich über all meine Probleme zu beklagen, über meine wahren Gefühle zu reden.
"Ja, und es ist wirklich sehr schwer. Ich habe oft Schmerzen, fliege um und ich bin immer müde!"
"Ich bin auch immer müde!", rief sie und schien dabei erfreut über unsere Gemeinsamkeit zu sein.
"Viele denken, dass ich an mich glaube. Sie denken alle, dass ich ganz stark bin und alles schaffen werde. Aber ich glaube nicht mehr daran."
Natürlich schien es falsch, ihr mit meiner derartigen Einstellung ein negatives Gefühl geben zu müssen, allerdings war es das, was ich in diesem Moment brauchte. Es war mittlerweile eine psychische Last entstanden, welcher ich nicht mehr lange Stand halten konnte. Mein Umfeld hielt mich für stark, kämpferisch, optimistisch. Ich war es nicht und eigentlich wollte ich dieses falsche Bild auch nicht weiter ausstrahlen.
"Ich bin schon ganz weit in dieser Krankheit vorangeschritten, jeden Tag geht es mir schlechter."
"Also brauchst du einen Spender? Ich brauch auch einen. Und ich hab auch ganz viel geweint, ich war immer traurig. Aber ich hatte immer meine Eltern und meine Familie, die mir gesagt haben, dass alles gut wird. Ich hab das nicht geglaubt - wegen den Schmerzen. Aber ich werde bald einen Spender bekommen und dann kann ich so gesund sein, wie die anderen Kinder auch. Du denkst schlecht! Hör auf damit! Alles wird gut, glaub mir. Und wenn es gefährlich wird, dann kannst du meinen Spender haben!", sprach die kleine Amira ruhig und beherrscht, was mein Herz ungemein erwärmte.
Behutsam nahm ich sie in meine Arme und achtete dabei darauf, dass ich ihr aufgrund der Nadel in ihrem Arm keine weiteren Schmerzen zufügte. Ihre klitzekleinen, warmen Hände spürte ich dicht an meinen Rücken. Nicht nur meinen Bauch umschlossen sie, sie umschlossen mein Herz mit einer positiven Energie, die mir ein unglaubliches Gefühl von Wohlbefinden vermittelte.
Während ich über ihren letzten Satz nachdachte, erwischte ich einige Tränen dabei, wie sie meine Wangen hinunterkullerten, gefolgt von einigen Schluchzern.
"Bist du traurig, dass du keinen Spender hast? Du kannst wirklich meinen haben, ich finde das nicht schlimm, nochmal warten zu müssen.", murmelte sie während der innigen Umarmung in meinen Bauch hinein. Ich löste mich von dem kleinen Engel und sah ihr intensiv in ihre Knopfaugen. "Ich will doch nicht deinen Spender, Amira!", sprach ich lachend. "Es soll dir gut gehen, dir und deinem reinen Herz. Das reicht mir vollkommen."
Lächelnd blickte sie mich weiterhin an und erwiderte anschließend: "Kommst du mich öfters besuchen? Ich mag dich!"
"Auf jeden Fall!", versprach ich.
"Du musst immer weiter machen und an dich glauben. Das sagt mir immer meine große Schwester. Ich habe das getan und deswegen wird es mir bald besser gehen. Du musst das auch tun, sonst ändert sich nichts!"
Diesen Mut, den dieses kleine Mädchen mir gab, hatte ich noch nie zuvor in meinem Leben erfahren können. Nicht einmal meine Mutter gab mir solch eine enorme Kraft, wie dieses tapfere Mädchen. Beeindruckt von ihrer Wenigkeit, schwor ich mir innerlich, sie auf ihrem Weg zu begleiten und sie niemals im Stich zu lassen. Wir teilten das selbe Schicksal und das sollte der Auslöser zum Beginn einer endlosen Freundschaft werden. Noch in dieser Nacht nahm ich mir vor, weiterzukämpfen. Ich hatte eine Familie, Freunde, die mich liebten. Für meine Lieblinge und insbesondere für dieses kleine Mädchen würde ich den Kampf weiterhin aushalten. Insbesondere für diese tapfere Persönlichkeit würde ich dem ganzen noch länger Stand halten und auf eine Verbesserung meiner Krankheit hoffen. Ein unfassbar mutiges Kind, welches mein Herz mit wenigen Worten im Sturm erobert hatte.
Dankbar war ich meinem großen Bruder für diese unvergessliche Begegnung, was ich ihm bereits gefühlte tausendmal zum Ausdruck gebracht hatte. Seien es Umarmungen, Küsse, oder die endlose Wiederholung des Wortes "Danke", ich war ihm wirklich sehr dankbar und würde es in Zukunft auch immer sein.

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