Kapitel 9

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"Ich habe keine Ahnung, wer Sie sind und ich habe auch nicht ganz verstanden, was Sie mir hier vorwerfen. Sie sind einfach drauflos gefahren, ohne mich zu beachten. Die Schuld liegt bei Ihnen, was gibt Ihnen nun das Recht, mich hier zu beschimpfen?", beschwerte sich der Mann, den ich auf Mitte vierzig schätzte, während das Hupen im Hintergrund immer lauter wurde und mittlerweile ein Mann ausgestiegen war, welcher sich zornig über uns beschwerte. Eine weitere Frau lehnteki was isich aus dem Fenster und schrie uns zu, was das denn solle und, dass wir endlich abhauen sollten. "Es tut mir wirklich-"
"Ich habe es eilig, seien Sie froh. Ansonsten hätte dies kein gutes Ende für Sie gehabt.", grummelte er, während er seinen ü
Helm aufzog und davon düste, sodass ich wie ein zurückgelassenes Kind auf der Straße stehen blieb. "Komm jetzt endlich!", rief meine Freundin verzweifelt, während sie mich unsanft am Arm packte und mich ins Auto zog, woraufhin ich weiterfuhr und mir ihre Standpauke anhörte.
"Spinnst du?"
"Du kannst nicht einfach einen Mann beschimpfen, der im Recht ist!"
"Stell dir vor, du hättest einen Unfall gebaut!"
"Wieso schaust du dich nicht um beim Autofahren?"
"Kontrollier dich und deine Wutausbrüche in Zukunft besser."
"Das ist ja nicht mehr auszuhalten mit dir!"
"Du hast-"

"Sibel! Es reicht. Ich habe es verstanden, ruf jetzt Arda an und sag ihm, dass er vor die Tür soll.", schoss es schließlich aus meinem Mund, nachdem ich gefühlte Stunden der Standpauke meiner Freundin lauschen musste. Ja, das war eine sehr peinliche Aktion von mir gewesen, jedoch war es ein Beinahe-Unfall, welcher mir einen Schock verpasst und mir zusätzlich einen sogenannten Adrenalin Kick gegeben hatte, weshalb ich meine Wut nur schwer - eigentlich unmöglich - im Zaun halten konnte.
"Links rein, rechts raus..", murmelte Sibel genervt vor sich hin, während sie Ardas Nummer wählte. "Hey, komm raus.. Ciao!"
Etwa eine Minute, nachdem sie aufgelegt hatten, sah ich Arda vor der Tür stehen und beobachtete, wie er auf das Auto zulief. Ich wandte meinen Kopf zu Sibel und sah sie provokant an. "Nimm dir ein Beispiel an ihm!"
Anschließend vernahm ich noch ein Augenrollen von ihr, bis ich daraufhin das Geräusch der sich öffnenden Autotüre hörte und in die grünbraunen Augen meines besten Freundes blickte, welche vor Freude glänzten und mich harmonisch ansahen. "Komm her Eda, hab dich vermisst!", sprach er mit seiner von Natur aus lauten Stimme und strak sich nach vorne zu mir, um mir einen Kuss auf die Wange zu geben, was ich mit einem Kichern erwiderte und ihm durch seine weichen Haare wuschelte. "Was ist mit mir?", motzte Sibel und drehte ihren Kopf mit einem Schulterblick zu dem durchtrainiertesten Körper, den ich kannte. "Eda, fahr los!", rief er mir hektisch zu und lachte währenddessen laut auf, woraufhin Sibel sich trotzig wieder nach vorne drehte und die Arme vor der Brust verschränkte. Gefühlt die ganze Fahrt über lachte Arda sich schlapp, bis er auch irgendwann Sibel damit ansteckte. Die beiden waren diejenigen, die sich oft beleidigten, neckten und sich gegenseitig fertig machten - selbstverständlich aus reiner Freundschaft. Manchmal war es total witzig, doch oft war ich einfach nur genervt von ihren unnötigen Streitereien und ihren unendlichen Diskussionen, welche meist sinnlos waren.

Zu dritt sprachen wir jedes einzelne Wort des englischen Rap-Songs mit, welcher nun im Auto lief, während der Bass unter unseren Füßen bebte. Wir, als Trio verehrten die amerikanische Hip-Hop Szene und steigerten uns in diesem Moment total in das Lied hinein, indem wir mit den verschiedensten Handbewegungen gestikulierten und zum Takt nickten. Das waren wir, wenn wir in unserem Element waren und eine gefühlte Ewigkeit ging es so weiter, wir bewegten unsere Lippen zu den ausdrucksvollen Buchstaben im übertriebenen Maße. Als ich schließlich das Auto geparkt hatte, machte die Musik einen plötzlichen Stopp, sodass wir alle erst einmal zu uns kommen mussten, da wir uns total hineingesteigert hatten. Nun herrschte vollkommene Stille, man hörte lediglich, wie ich den Schlüssel aus dem Zündschloss zog und sich der Motor somit allmählich beruhigte.
Unangenehmes Ohrensausen machte sich in meinen Ohren breit, sodass ich das Gesicht kurz verzog und anschließend an ihnen rieb - erfolglos.
Ohne mir die weitere Mühe zu machen, stieg ich aus dem Auto, woraufhin Sibel und Arda mir folgten. "Los!", rief Arda und spazierte in die Dönerbude hinein, ohne auch nur einen Finger zu krümmen, um uns die Tür aufzuhalten. Ihn interessierten diese Gentleman Stories nicht - und das hatten sie auch nie getan. Erst Recht nicht, wenn Sibel und ich seine Begleitpersonen waren - uns sah er als Schwestern an und er hielt es nicht für nötig, uns einen derartigen Gefallen zu tun, um uns zu beeindrucken.
Arda grüßte viele verschiedene Leute, welche er kannte, während Sibel und ich Platz nahmen. "Hey Chef!", rief er dem vermutlichen Besitzer der Dönerbude harmonisch zu, welcher hinter dem Tresen stand und ebenfalls freudig erwiderte. "Chef, eine Pizza Margherita mit Soße und extra Oliven drauf und zwei Döner. Meiner mit allem und der andere ohne Zwiebeln und Rotkraut.", teilte er ihm die Bestellung mit. Während die beiden noch ein Gespräch führten, sahen Sibel und ich uns gegenseitig mit geweiteten Augen an und brachen in einem Gelächter aus. Und Wieso? Wir hatten in diesem Moment beide den selben Gedanken und waren erstaunt darüber, wie gut Arda uns kannte. Als sich auch noch Arda zu uns drehte und sich mit den Worten "Wieso gackert ihr schon wieder wie zwei Hühner?" ausdrückte, kriegten Sibel und ich uns vor Lachen nicht mehr ein, sodass uns beiden der Bauch schmerzte und das mir bekannte Seitenstechen sich zu Wort meldete. Augenblicklich stoppte ich das Gelächter, da der Schmerz im unerträglichen Maße überwog und überhaupt nicht auszuhalten war. Mein Gesichtsausdruck verzog sich, als würde ich in eine Zitrone beißen. Daraufhin stemmte ich meine Hände an meinen Hüften ab und bückte mich leicht, in der Hoffnung, dass sich das Leid somit mindern würde. "Alles in Ordnung bei dir?", rief Arda von der anderen Seite aus und hastete zu mir. Er hob meinen Kopf mithilfe seinen Fingern an meinem Kinn sanft hoch und sah mir sorgenvoll in die Augen. "Hey, sieh mich an! Was passiert gerade?"
"Arda, sei leise! Sie soll nicht reden, sie hat Seitenstechen!" Nun wandte Arda kurz seine Blicke von mir ab zu Sibel, welche im nächsten Moment fortfuhr. "Schatz, regulier' deinen Atem! Einmal tief ein, einmal noch tiefer aus. Tief ein, noch tiefer aus..", dies wiederholte sie einige Male, während ich meinen Atem an dieses Tempo anpasste, doch es wurde nicht besser.
Sicherlich kennt das jeder: Man macht Sport und durch einen unregelmäßigen Atem beziehungsweise durch eine uneinheitliche Geschwindigkeit kommt dieses elende Seitenstechen zum Vorschein, was nicht so schnell verschwindet, wie es gekommen ist. Nachdem man den Atem etwas kontrolliert hat, sollte er eigentlich verschwinden - das ist der Nachteil beim chronischen Nierenversagen. Mein Seitenstechen hing nicht allein von den oben genannten Faktoren ab, sondern von meinen nicht funktionsfähigen Nieren, welche ihre Arbeit nicht leisteten und somit das Gift aus meinem Körper nicht vertrieben, was für mich eine gewaltige Belastung darstellte.
Als ich wie aus dem Nichts auch noch feststellen musste, dass sich mein Magen in diesem Moment verdrehte, sprintete ich qualvoll die Treppen hinunter auf die Toilette und übergab mich. Erschöpft wie ich war, kullerten mir einige Tränen die Wange hinunter, da ich mich soeben zum Erbrechen zwingen musste, es musste nämlich raus. Elendig saß ich nun auf dem Boden und begann zu weinen, war es denn nicht möglich, ein stinknormales Leben zu führen? So gerne würde ich grenzenlos alles mögliche tun, ohne daraufhin die Symptome meiner verdammten Krankheit erleiden zu müssen. Es musste etwas unternommen werden, dem Tod kam ich mit jedem Tag näher, doch was konnte ich schon machen?
"Eda!", rief die männliche Stimme meines besten Freundes von oben und ich vernahm das Geräusch, wie er die Treppen förmlich herunterflitzte, während er meinen Namen noch einige Male wiederholte. Ich hatte die Türe in der Eile offen gelassen, weshalb Arda problemlos hineinlaufen konnte. Im nächsten Moment spürte ich, wie sich eine Hand behutsam auf meinem Rücken platzierte und meinen Körper mit unendlicher Wärme auflud, ich fühlte mich unbeschreiblich wohl in seiner Gegenwart. Sanft strich er meinen Rücken auf und ab, während ich weiterhin qualvoll schluchzte und meinen Kopf in diesem engen Raum gegen die Wand lehnte. "Warum ich?", presste ich angestrengt aus mir heraus, während die Lautstärke meines Schluchzens sich allmählich steigerte. "Weil du stärker als alle anderen bist. Weil Gott weiß, dass du das durchstehen wirst, weil du eine Kämpferin bist und, weil du niemals aufgeben wirst!"
Nun hob ich meinen Kopf von der Wand und drehte mich mitsamt meines Körpers zu meinem besten Freund, welche sich nun gegenüber von mir auf dem eiskalten Boden platziert hatte, was ich nun deutlich am Unterleib spürte und, was überhaupt nicht gut für meine Nieren war. Ich blendete es aus.
"Vielleicht will ich gar nicht kämpfen? Vielleicht will ich einfach nur das Leben eines ängstlichen Weicheies führen - ein stinknormales, übliches Leben! Ich bin nicht stark, ich werde das nicht schaffen!", teilte ich ihm voller Überzeugung mit und blickte ihm währenddessen strikt in die Augen.
"Selbst wenn du nicht an dich glaubst, ich tue es! Und ich werde es auch immer tun! Sibel tut es, deine Familie tut es, alle glauben an dich! Weil wir ganz genau wissen, was für ein Kämpferherz besitzt. Und jetzt komm her, der kalte Boden tut deiner Blase nicht gut.", mit diesen Worten griff er sanft nach meinem Arm und zog mich auf die Beine, ohne eine Antwort von mir abzuwarten. Vorsichtig führte er mich zum Waschbecken und hielt mein ungeschminktes Gesicht unter das Wasser, während er es mir wusch. Ich war ihm unendlich dankbar, dass er in diesem Moment bei mir war und mir die nötige Kraft gab, welche ich nicht mehr besaß. Ja, ich war schon immer im Besitz eines Kämpferherzens gewesen, jedoch hatte dies mit der Zeit nachgelassen und ich hatte den Glauben an einen Erfolg im Bezug auf meine Krankheit beinahe komplett aufgegeben. Eine Kraft, die mich stabil auf beiden Beinen hielt, war sowieso nicht vorhanden, es war bloß eine Fassade. Der Schein trog und das wusste ich in meiner Situation wohl am besten. Die Worte, welche mein bester Freund einige Sekunden vorher ausgesprochen hatte, waren bloß das unscheinbare Bild, was mein Umfeld stets von mir hatte. In keiner Weise spiegelte das die Realität wieder. Niemand wusste, was eigentlich in mir vorging. Sie hielten mich für stark, für eine Kämpferin. Doch sie hatten keine Ahnung, dass ich mich schon lange nicht mehr in der gemütlichen Lage befand, dem Ganzen Stand halten zu können. Erneut kam mir dieser furchtbare Gedanke in den Kopf, welchen ich mir augenblicklich wegwünschte. Ich wollte ihn verjagen aus meinem Kopf, aus meinem Leben.

"Wir bringen dich jetzt zum Arzt!", befahl mir Sibel, welche aufgrund ihrer Empfindlichkeit bezüglich Erbrochenem nicht zu mir aufs Klo gekommen war, sie vertrug weder das Geräusch, noch den Gestank und konnte es erst Recht überhaupt nicht sehen. Diese empfindliche Art und Weise spiegelte sich in jeglicher Form in ihrem Erscheinungsbild wieder, da sie einen sehr zierlich wirkenden Körper besaß und auch ziemlich klein war. Schuld für ihre Empfindlichkeit war meiner Meinung nach eindeutig ihre große Nase, allerdings schimpfte sie, wenn ich dies erwähnte. Sibel mochte ihre Nase überhaupt nicht, sie hasste sie! Ich hingegen konnte sie mir nicht mit einer kleineren Nase vorstellen, das würde überhaupt nicht zu ihr passen.
"Hallo? Erde an Eda!", rief sie mir plötzlich zu, während sie mit ihren Händen undefinierbarer Bewegungen vor meinem Gesicht tätigte, welche etwas verstörend wirkten. "Nein!", erwiderte ich wie auf Knopfdruck. "Das ist etwas stinknormales, was soll ich beim Arzt?", nörgelte ich und setzte mich zurück an den Tisch. "Ich möchte nichts essen.", sagte ich ruhig mit voller Entschlossenheit und blickte währenddessen abwechselnd in die Gesichter meiner beiden Lieblinge. Zum Verständnis deutete ich mit geweiteten Augen auf meinen Magen und schüttelte anschließend den Kopf.
"Chef, kannst du die Pizza Margherita vielleicht doch weglassen? Es tut mir leid, ihr geht es nicht gut."
"Kein Problem!", rief der pummelige Besitzer der Dönerbude aus der Küche in unsere Richtung. "Danke!", erwiderte Arda mit etwas erhöhter Stimme und wandte sich anschließend auf mich. Er kniete sich nieder, da ich auf einem Stuhl saß. Daraufhin stütze er seine Arme leicht an meinen Beinen ab und sah mir intensiv in die Augen. "Willst du echt nicht zum Arzt? Oder nach Hause?"
"Mir geht es gut du Idiot, das ist doch normal! Ihr kennt das genauso gut, wie ich selber. Es war nur etwas Seitenstechen und Erbrochenes, das ist mehr als normal. Macht euch keine Sorgen!"
Während ich den letzten Satz aussprach, wandte ich mich dabei auch an Sibel und nahm meinen fürsorglichen besten Freund liebevoll in die Arme. "Na gut.", murmelte er etwas unverständlich in meinen Bauch hinein, während ich ihn noch immer fest an mich drückte und mich schließlich von ihm löste.
"Ich geh mal an die frische Luft!", meldete ich mich nach einigen Minuten zu Wort und spazierte hinaus, ohne auf jegliche Antwort zu warten. Schweratmend kämpfte ich mit der unfassbar schweren Tür und kriegte sie letztendlich doch auf. Daraufhin begab ich mich nach draußen und spürte augenblicklich den frischen Wind in mein Gesicht schlagen, es war ein äußerst kühler Frühlingswind. Folglich ließ ich mich auf einer Stufe nieder, welche zu dieser Dönerbude führte. Noch immer außer Atem stützte ich meine Arme an meinen Knien ab und vergrub mein Gesicht in diesem Hohlraum. "Es fängt wieder an.", flüsterte ich mir selber zu, als ich merkte, wie mir das Atmen immer schwerer fiel. Nun richtete ich meinen Oberkörper auf und setzte mich in einem neunzig-Grad-Winkel aufrecht hin, doch es brachte mir nichts.
Es kam mir so vor, als würde eine bestimmte Person mir höchstpersönlich jeden einzelnen Atemweg versperren, indem sie diese zuklebte. Das Atmen fiel mir mit der Zeit immer schwerer und schwerer. Plötzlich erwischte ich mich selber dabei, wie ich nach Sauerstoff hechelte und mir allmählich immer schwindeliger wurde. Genau in dem Moment, als ich mich erheben wollte, um meine Atemwege von dieser Plage zu befreien, stürzte ich durch meine instabile Haltung die Treppen hinunter und prallte unsanft auf den harten Pflastersteinen auf.

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