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Am nächsten Morgen fühlte ich mich absolut gerädert. Ich hatte einen leichten, nicht wirklich erholsamen Schlaf gehabt, und das Ergebnis sah ich jetzt mit Schrecken im Badezimmerspiegel. Ich schminkte mich meist kaum oder gar nicht, aber da musste eindeutig Make-up her! 

Nachdem ich alle Baustellen so gut es ging bearbeitet hatte suchte ich mein extra für heute neu gekauftes Outfit. Ich fühlte mich gleich viel besser, kompetenter, konkurrenzfähiger, als ich es anhatte. Ein Blick in den Spiegel bestätigte mir, dass ich wirklich ziemlich gut aussah heute, trotz schlechtem Schlaf. Zufrieden packte ich meine Tasche und dachte, Evelyn, vielleicht solltest du dich mal öfter schminken. 

In den Unterlagen, die ich zugeschickt bekommen hatte, stand, dass ich gegen Mittag im Studio sein sollte. Ich hatte mir extra alle Mails noch einmal ausgedruckt, um wirklich alle Informationen immer und zu jeder Zeit griffbereit bei mir zu haben. Da kam der kleine Kontrollfreak in mir raus. Wenn eine neue Situation vor mir lag, und ein Casting war definitiv eine neue Situation!, dann musste ich mich immer auf jede mir erdenkliche Eventualität vorbereitet haben, damit auch ja nichts schief gehen konnte. 

Dementsprechend nahm ich schon zwei Bahnen vor der, die ich eigentlich hatte nutzen wollen und die mich pünktlich zum Studio gebracht hätte. Als ich dann endlich dort ankam war folglich auch noch nichts los. 

Ich ging vorne zum Empfang. 

"Entschuldigung, ich bin für das "Ler me hear your Voice" Casting hier", sagte ich. 

"Na, da sind Sie aber ganz schön früh dran!" ,lachte die Frau am Empfang. 

"Ich weiß" ,sagte ich, und merkte, wie ich rot wurde. "Ich wollte auf keinen Fall zu spät kommen".

"Ich darf Sie beruhigen, DAS haben sie definitiv verhindert!" lachte sie und ich war froh, dass sie es mit Humor nahm.

"Könnte ich bitte Ihren Ausweis und Ihre Anmeldebestätigung sehen?" 

Ich reichte ihr beides und sie sah sich die Papiere an. 

"Okay, sehr gut. Ich gebe Ihnen jetzt eine Castingnummer, und einen Besucherausweis, den Sie nicht verlieren dürfen. Sie sind zwar sehr früh, aber das können wir sicher zu unseren Gunsten nutzen. Sie gehen jetzt hier den Gang runter und dann biegen Sie links ab, und dann kommen Sie zum Wartebereich und zu den Garderoben und Masken. Da wird Sie gleich jemand abholen für Ihr Make-up. Die Kollegen erklären Ihnen dann alles weitere. Ich drücke Ihnen die Daumen!" 

Ich bedankte mich und machte mich mit wackligen Schritten auf den Weg. Im Wartebereich liefen schon ein paar Mitarbeiter rum, und eine Frau gabelte mich direkt auf. 

"Kann ich dir weiter helfen?" ,fragte sie. 

"Ich bin für das Casting hier", erklärte ich. 

"Na, du bist aber früh dran, da könnten wir dich ja glatt zwei Mal casten!" ,sagte sie verblüfft. 

"Ja, ich weiß, aber die Dame am Empfang sagte, das wäre nicht schlimm."

"Schlimm ist das natürlich nicht, ich muss nur daran denken, dass du halt noch die ganze Zeit bis zur Show hier sitzen musst. Das wird nämlich noch ein bisschen dauern. Aber wenn du willst, kann ich dich gleich schon mit in die Maske nehmen und dein Make-up machen. Ich muss hier nur kurz noch was regeln." 

"Gerne", sagte ich, und sie verschwand durch eine Tür.

Ich sah mich um. Ich war in einem großen, hallenartigen Raum mit vielen Stühlen. Es war ein bisschen wie der Wartebereich am Flughafen, vor dem Gate. 

"So, da bin ich wieder. Ich bin übrigens Mandy." ,stellte sie sich vor. 

"Ich bin Evelyn" ,sagte ich. 

"Aufgeregt?" 

Ich nickte. 

"Das wird schon!" 

Dann brachte sie mich in einen Maskenraum und begann, an meinem Gesicht zu arbeiten. Sie war sehr nett und nahm mir meine Nervosität, da ich kaum noch merkte, schon im Studio zu sein. Auch die anderen Kollegen um uns herum waren alle sehr nett und es war richtig lustig. Ich fühlte mich gut, da zu sein. 

"So, du bist fertig. Bevor du später auf die Bühne gehst müssen wir noch mal kurz nacharbeiten, das ist immer so, aber erst mal hast du jetzt frei. Du kannst es dir also erst noch einmal im Wartebereich vorne gemütlich machen." 

Ich nickte und verabschiedete mich von ihr. Draußen im Wartebereich waren mittlerweile schon einige Leute angekommen. Ich suchte mir einen Platz in einer Ecke und beobachtete das Treiben um mich herum. Mit jeder Minute kamen mehr Menschen, so viele so verschiedene Menschen, und mit jedem einzelnen fühlte ich mich kleiner, unbedeutender, schlechter. 

Ich war immer eher das Mauerblümchen gewesen. Nicht, weil ich keine Meinung hatte oder grundsätzlich schüchtern war, aber das Vorpreschen hatte ich immer den coolen Kids überlassen und stattdessen für mich gesucht, was mir wirklich gefiel. Und dann konnte ich auch sehr gut auftauen und mal laut werden. Man musste mich nur gut genug kennen. Aber das hatten die wenigsten getan und so hatten früher immer alle gedacht, ich wäre ein kleines graues Mäuschen. 

Jetzt fühlte ich mich wieder so. 

Da war ein Mädchen, etwas so alt wie ich, mit langen, glatten, dunkelbraunen Haaren bis zum Po und einer Figur wie ein Hollister-Modell. Sie war viel stylischer angezogen als ich und sie sang sich schon die ganze Zeit ein. Sie hatte eine Wahnsinnsstimme. 

Dann war da dieses Mädchen, sie war sicher älter als ich, und einfach der Inbegriff der Coolness. Sie trug Boots und ein einfaches schwarzes Top, hatte schwarze Haare und den rechten Arm komplett tätowiert. Sie begrüßte alle Mitarbeiter wie alte Freunde und es war klar, dass sie hier ein und aus ging. 

Mir fiel auch ein junges Mädchen ins Auge, vielleicht 15 Jahre alt, die scheinbar mit ihrer Mutter hier war. Das Mädchen sah aus wie die Erwachsenenversion einer Barbiepuppe, mit knappen Kleidern und langem Blondhaar. Die Mutter redete ununterbrochen entweder auf sie ein oder auf ihr Handy. "Michelle, denk dran, gerade stehen, im Fernsehen sieht man alles. Hast du schon genug getrunken? Du weißt doch, mindestens vier Liter am Tag, damit deine Haut gut hydriert ist. Morgen habe ich noch kurzfristig ein Fotoshooting für dich rein bekommen, da müssen wir gleich noch mal die Posen durchgehen, die du machen könntest".

Ich betrachtete sie alle und wäre am liebsten einfach gegangen. Oder hätte geheult. Eins von beidem. Mir war aber auf jeden Fall klar, dass ich mit dieser Konkurrenz ganz sicher keine Chanc hatte. Was hatte ich mir eigentlich gedacht? 

"Na, checkst du aus, was die anderen können?" ,ertönte plötzlich eine Stimme neben mir. Ich sah auf und es war Mandy. 

"Ich hab mir was zu Essen am Automaten gekauft und dachte, ich bring dir was mit. Hab dich hier sitzen sehen." 

"Das ist lieb, danke" ,sagte ich, denn bei all der Aufregung und meinem frühen Erscheinen hier war Essen bisher deutlich zu kurz gekommen und mein Magen knurrte gewaltig. 

"Gut, dass ich dir ein Snickers gekauft habe. Dieses Knurren hätte deine Stimme gleich auf der Bühne locker übertönt!" ,witzelte Mandy und reichte mir den Schokoriegel. 

"Vielleicht ist das ja sogar die bessere Alternative, wenn ich mir die anderen so ansehe" ,sagte ich zweifelnd. 

"Ach was. Du darfst eins nicht vergessen: Stimmen kann man nicht sehen, nur hören. Das heißt, egal wie aufgetakelt die Leute hier ankommen, du kannst nicht wissen, ob sie gut sind. das zeigt sich erst gleich auf der Bühne." 

"Aber die da vorne singt echt gut" ,sagte ich und deutete dezent auf die mit den langen braunen Haaren. 

"Ihre Stimme ist nicht schlecht. Aber wer sagt denn, dass deine nicht noch besser ist?"

Ich zuckte mit den Schultern. 

"Du packst das!" ,sagte sie noch einmal, bevor sie zurück an die Arbeit ging. 

Let me hear your voiceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt