Unbekannt 1

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Sie legt ihr Buch zur Seite, als das Telefon mit seinem einschneidend lauten Klingeln die Stille zerreißt und die Ruhe einem lauten Tod überlässt.
„Dahlke?", meldet sie sich fragend, stützt ihr Kinn in ihre Hand, den Ellbogen auf den Tisch.
„Hallo."
„Hallo?" Sie kennt die Stimme nicht, vermutlich jemand, der ihr eine Versicherung andrehen will. Immerhin ist es nicht wieder ihre selbsternannte beste Freundin Rebekka, die mit ihr shoppen gehen will.
„Deine Stimme gefällt mir." Sie schweigt. Was soll sie dazu auch sagen?
„Hat es dir die Sprache verschlagen?"
„Nein", erwidert sie ruhig, spielt mit ihrem Lesezeichen.
„So. Wie war dein Tag?", fragt die raue Stimme.
„Wer bist du?"
„Ach Dahlke, habe ich dir erlaubt, mich zu duzen?" Er klingt amüsiert.
„Du.. Sie duzen mich doch auch", schnaubt sie empört, als sei es normal, solche eigenartigen Gespräche mit einem Fremden zu führen. Aber das Buch ist ohnehin langweilig.
„Sicher, aber das ist ja auch etwas anderes. Also, wie war dein Tag?"
„Ganz ok."
„Oh Schätzchen, speis mich nicht mit so etwas ab. Wenn ich dich frage, wie dein Tag war, will ich hören, was du gemacht hast. Wie es dir dabei ging."
„Warum sollte ich dir-.. Ihnen davon erzählen?" Noch immer hat sie nicht aufgelegt. Noch immer hält diese Stimme sie irgendwie in ihrem Bann.
„Ganz einfach, weil ich es sage", kommt die schlichte Antwort. Sie schweigt einen Moment.
„Eine Kollegin war krank, sodass ich ein paar ihrer Akten übernehmen musste. Normalerweise habe ich Freitags früher Schluss, aber das hat es etwas hinausgezögert."
„Wie hast du dich dabei gefühlt?"
„Es hat mich geärgert. Aber ich hatte noch Lasagne von gestern im Kühlschrank, also musste ich wenigstens nicht noch kochen."
„Das freut mich. Wie geht es dir jetzt?"
„Gut. Wer sind Sie?"
„Gut? Schätzchen, ich habe dir gesagt, dass ich eine vernünftige Antwort möchte." Seine Stimme hat einen leicht drohenden Unterton, was bei ihr unwillkürlich eine Gänsehaut auslöst.
„Entschuldigung. Ich fühle mich eigentlich ganz gut. Aber Ihr Anruf verwirrt mich doch etwas. Was wollen Sie?"
„Ah, so langsam stellst du die richtigen Fragen. Du bist nicht die erste, die ich anrufe."
„Verkaufen Sie Versicherungen?", rutscht es ihr raus, dabei ist sie sich mittlerweile sicher, dass dieser Mann eindeutig kein Vertreter ist. Ein raues Lachen dringt aus dem Telefon.
„Oh Dahlke, sehr amüsant. Nein nein. Ich brauche jemanden wie dich."
„Jemanden wie mich?"
„Warum hast du noch nicht aufgelegt? Du kennst mich nicht."
„Ich-..." Sie will es mit ihrer Langeweile begründen, aber das allein ist nicht der Grund. Stattdessen hätte sie ja auch den Fernseher anschalten oder eine Freundin anrufen können.
„Und warum tust du, was ich dir sage?" Erneut weiß sie nicht, was sie darauf erwidern soll. Wieder lacht er leise.
„Na siehst du. Du bist genau die richtige, Dahlke."
„Die richtige wofür?" Sie weiß, dass sie auflegen sollte. Der Mann ist doch einfach verrückt. Aber irgendwas hält sie davon ab. Irgendwas bringt sie dazu, sich den Hörer des Telefons weiterhin fest an das Ohr zu drücken.
„Ganz langsam. Wir machen das Schritt für Schritt. Mach dir einen Tee." Seine Stimme klingt sanft, doch es ist eindeutig ein Befehl.
„Ich möchte keinen Tee, ich habe noch Kaffee hier." Sie nimmt ihre halbvolle Kaffeetasse in die Hand, als könne er sie sehen.
„Das interessiert mich nicht, Schätzchen. Es ist zu spät für Kaffee. Du gehst jetzt zur Spüle, schüttest den Kaffee weg und machst dir einen Tee. Hast du mich verstanden?"
„Ja." Sie weiß nicht, warum sie tut, was er sagt. Während sie zum Spülbecken geht, um den Kaffee wegzuschütten, hält sie sich immer noch das Telefon an das Ohr. Doch der Mann schweigt. Sie setzt den Wasserkocher an, öffnet einen Küchenschrank.
„Welchen Tee?", fragt sie. Warum sie nachfragt, begreift sie selbst nicht. Doch seine Stimme klingt zufrieden, als er antwortet.
„Sehr gut, Dahlke. Wenn du einen da hast, nimmst du Rooboistee." Wortlos tut sie, was er sagt, hängt den Beutel in die Tasse und gießt das Wasser ein. Dann stellt sie eine Eieruhr.
„Der braucht fünf Minuten", sagt sie, um die plötzliche Stille zu füllen.
„Du wartest so lange stehend", befiehlt er ruhig. Sie verkneift sich eine Erwiderung, verlagert ihr Gewicht vom einen auf den anderen Fuß. So viele Fragen schießen ihr durch den Kopf. Wieso tut sie, was er sagt? Und wieso verlangt er so etwas überhaupt? Was will dieser Fremde von ihr? Kennt sie ihn womöglich? Sie könnte sich einfach setzen und er würde nichts davon merken. Oder? Ihr Blick wandert zu ihrem Küchenfenster. Dahinter liegt ihr schmaler Garten, doch es ist niemand zu sehen. Sie sollte sicherheitshalber trotzdem nachsehen. Wie lange dauern die fünf Minuten noch?
„Reiß dich zusammen, Dahlke", dringt plötzlich wieder seine leise Stimme an ihr Ohr. Sie fühlt sich ertappt, dabei stimmt das natürlich nicht. Sie hat nichts getan, was er nicht gesagt hat. Und selbst wenn, sie muss doch nicht tun, was ein Fremder am Telefon ihr befiehlt. Und doch steht sie immer noch regungslos in ihrer eigenen Küche.
„Fast geschafft, Dahlke. Sobald der Tee fertig ist, setzt du dich damit an den Tisch und sagst mir Bescheid", fährt er ruhig fort. Sie bleibt still, wartet, bis endlich das misstönende Schrillen des Weckers durch die Küche schallt. Erleichtert legt sie das Telefon auf den Tisch ohne aufzulegen, holt den Beutel aus der Tasse und setzt sich dann mit dem Tee wieder an ihren kleinen Küchentisch.
„Ich sitze wieder", sagt sie ruhig, legt ihre freie Hand an die warme Tasse.
„Sehr gut, Dahlke. Das hast du gut gemacht." Seine Stimme klingt wie warmer Honig.
„Warum sollte ich das tun?", fragt sie.
„Du sollst meine Anweisungen nicht hinterfragen, verstanden?" Sie nickt unwillkürlich, bis ihr einfällt, dass er das ja nicht sieht. Dass er es hoffentlich nicht sieht.
„Ok. Aber wer sind Sie?"
„Du kennst mich noch nicht, Schätzchen. Aber du darfst gern 'Sir' sagen."
„Sir?", fragt sie ungläubig nach.
„Ja. Sag mir, Dahlke, was glaubst du, wie weit bist zu bereit zu gehen?", fragt er, erneut mit dieser samtenen Tonlage, die sie irgendwie durcheinander bringt.
„Wie meinen Sie das? Was soll das alles?"
„Wie schon gesagt, Schätzchen. Wir gehen diesen Weg Stück für Stück. Hast du Angst?"
„Nein", entgegnet sie prompt.
„Gut. Glaubst du, du kannst mir vertrauen?"
„Ich kenne Sie nicht."
„Sicher, aber du wirst mich kennen lernen. Ich will nur das Beste für dich. Glaubst du mir das?" Seine Stimme klingt ehrlich, aber das ist schließlich nicht so schwer.
„Ich weiß nicht."
„Gut, das werden wir noch ändern. Es ist mir wichtig, dass wir ehrlich zueinander sind, Dahlke."
„Ich kenne nicht mal Ihren Namen", beschwert sie sich. Wieso sollte sie selbst dann ehrlich sein?
„Schätzchen, du brauchst meinen Namen vorerst nicht kennen. Ich werde dich nicht anlügen und dir einen falschen sagen. Du weißt, wie du mich nennen sollst."
„Sir."
„Ganz genau. Sehr gut. Was hast du heute noch vor?"
„Ich denke, ich werde mich bloß noch etwas vor den Fernseher setzen."
„Kein Ausgehen am Freitagabend?"
„Nein."
„Nun, auch gut. Du wirst erst schlafen gehen, wenn ich es dir erlaube, verstanden?" Empört reißt sie die Augen auf.
„Was? Wieso sollte ich-"
„Still, Schätzchen. Erinnerst du dich daran, dass du nicht meine Anweisungen hinterfragen sollst?", schneidet er ihr scharf das Wort ab.
„Ja..." Sie sollte einfach auflegen, doch sie tut es nicht.
„Gut. Dann schau dir in Ruhe etwas nettes an, Dahlke. Bis später."
Er wartet nicht, ob sie noch etwas sagt, sondern legt einfach auf. Sprachlos starrt sie auf das Telefon in ihrer Hand. Was ist gerade geschehen? Zur Beruhigung trinkt sie einen Schluck Tee. Tee, den sie nur wegen eines Fremden gemacht hat. Das ist doch albern. Sie sollte diesen seltsamen Anruf einfach vergessen und das nächste mal nicht rangehen. Doch sie weiß, dass sie das nicht tun wird. Irgendetwas an seiner Stimme ist faszinierend und beängstigend zugleich. Sie möchte ihn noch einmal hören. 'Dann werde ich aber nicht einfach tun, was er sagt', beschließt sie und steht auf, um nun doch sicher zu gehen, dass niemand im Garten ist und sie beobachten kann.

Sie zuckt zusammen, als plötzlich das Klingeln des Telefons erklingt. Es ist schon kurz nach zwölf und sie liegt bereits mit dem langweiligen Krimi im Bett. Und doch steht sie jetzt nochmal auf, geht wie eine Schlafwandlerin zum Telefon und nimmt ab. Unbekannter Anruf.
„Dahlke."
„Hallo Dahlke. Hast du etwa schon geschlafen?", fragt er. Wer sollte es sonst sein.
„Nein. Ich habe noch im Bett gelesen", erwidert sie, geht mit dem Telefon wieder in ihr Schlafzimmer. Der Holzboden ist kalt unter ihren bloßen Füßen.
„Sehr brav, Schätzchen. Wo bist du gerade?" Sie zögert mit der Antwort, während sie sich im Sitzen unter ihre Decke kuschelt. Es fühlt sich so intim an.
„Na los schon, Schätzchen. Sag es mir", fordert er erneut mit einem leicht drohenden Unterton.
„Im Bett." Ihre Stimme klingt dünn und sie räuspert sich verlegen.
„Ah, sehr schön, Dahlke. Bist du zugedeckt?"
„Ja."
„Gut. Mach deine Nachttischlampe aus, wenn sie noch brennt." Ohne zu wissen, warum, tut sie erneut, was er von ihr verlangt. Das Klicken des Kippschalters ist vermutlich auch durch das Telefon zu hören.
„Gut machst du das. Leg dich bequem hin, Dahlke. Du darfst gleich schlafen." Sie darf? Das ist doch ohnehin ihre Entscheidung! Doch sie legt sich auf die Seite.
„Diktier mir deine Handynummer", fordert er ruhig.
„Nein!"
„Schätzchen, du diktierst mir jetzt sofort deine Handynummer. Ich muss dich erreichen können."
„Wozu?"
„Du sollst meine Anweisungen nicht hinterfragen. Wirklich Kleine, du möchtest doch keinen Ärger bekommen?" Seine Stimme klingt gefährlich leise. Kurz zögert sie noch, bevor sie ihm ihre Handynummer diktiert.
„Na geht doch, Kitty."
„Ich heiße nicht Kitty", protestiert sie schwach.
„Das ist nur ein Spitzname, Schätzchen. Du würdest mir keine falsche Nummer geben, richtig, Kitty?"
„Nein."
„Gut." Er klingt zufrieden. Wem vertraut sie da ihre Nummer an? Wieso telefoniert sie noch mit ihm? Doch sie kann sich nicht selbst belügen. Er fasziniert sie, sie möchte seine Stimme hören, wissen, was er als nächstes verlangt. Er weckt ihre Neugier. Eine Weile schweigen sie. Ist er eingeschlafen?
„Sir?", fragt sie leise.
„Ja, Kitty?"
„Wieso-... Ich meine, wofür brauchen Sie meine Nummer? Sie können doch auch über das normale Telefon anrufen", sagte sie. Er lacht leise.
„Ich werde dich nicht bloß anrufen, damit du dir einen Tee machst, Schätzchen. Hast du Kopfhörer, mit denen du telefonieren kannst?"
„Ja."
„Na siehst du. Was hast du morgen vor?"
„Ich weiß noch nicht, vielleicht gehe ich Abends mit Freunden weg."
„Morgen Vormittag wirst du einkaufen gehen." Sie erwidert nichts. Was soll sie auch sagen? Nachfragen wimmelt er ohnehin ab.
„Du wirst jedes mal sofort abheben, wenn du siehst, dass ich dich anrufe, hast du mich verstanden?"
„Ja."
„Gut. Du darfst jetzt schlafen, Kitty. Gute Nacht."
„Gute Nacht."
Er legt auf und sie starrt in der fast völligen Dunkelheit auf den kleinen leuchtenden Display des Festnetztelefons. Worauf lässt sie sich da ein?

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