Kapitel 12

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[Alice Weidels POV]

"Ich bin froh, dich zu sehen, Alice!", begrüßte Sarah mich. Ich lächelte, vermutlich nicht sonderlich überzeugend. Ich wusste, weshalb ich hier war. Das ungute Gefühl in meiner Magengegend hatte sich mit jedem Kilometer, dem ich meinem Zuhause nähergekommen war, vervielfacht. Jetzt war es kaum mehr auszuhalten. Ich betrat das Haus und begrüßte meine Kinder mit einer festen Umarmung. Wollte ich das alles wirklich aufgeben? All die Jahre... das gemeinsame Haus... die gemeinsamen Kinder...

Den Kopf voller Gedanken, die mich förmlich anzuschreien schienen, lud ich meinen Koffer aus dem Auto und brachte ihn ins Schlafzimmer. Unser Schlafzimmer... meines und Sarahs... Seit Jahren. Ich seufzte, stellte meine Koffer neben das sorgfältig gemachte Bett und setzte mich auf die schneeweiße Bettdecke. Der Geruch von frisch gewaschener Wäsche und Sarahs Parfüm stieg mir in die Nase. Tausend Bilder aus vergangenen Zeiten stiegen mir in den Kopf. Am liebsten waren Sarah und ich in den Schweizer Alpen wandern gewesen. Oder Fahrrad fahren. Das hatte ich viel zu lange nicht gemacht, zum einen, weil das Getümmel in Berlin nicht mit der Schweizer Idylle zu vergleichen war, zum anderen, weil ich im ganzen Wahlkampfstress nichts als Plenarsitzungen und Prozentzahlen im Kopf gehabt hatte. Langsam lies ich mich auf meinen Rücken sinken und breitete die Arme aus. Es fühlte sich gut an. Sehr gut sogar.

Einige Minuten lag ich da. Mit ausgebreiteten Armen auf dem Bett und dachte über die vergangenen Wochen nach. Ich dachte an Annalena. Vielleicht war es ein Riesenfehler gewesen... Doch was? Sie alleine zu lassen... oder mich überhaupt auf sie einzulassen? Lange hatte ich keine Zeit mehr dafür aufgewendet, mir intensiv Gedanken zu machen, zu eingenommen war ich von Terminen und Sitzungen und es blieb kaum Zeit, mir zwischendurch den Kopf zu zerbrechen. Hier nicht. Hier war es, als würde die unruhige Welt da draußen für einen Moment stillstehen. Und genau das brachte mich dazu, alles anzuzweifeln, wobei ich mir auf der Fahrt hierher noch so sicher gewesen war. Alles, inklusive Annalena.

Nach einiger Zeit richtete ich mich auf. Ich nahm ein paar Tiefe Atemzüge. Mein Blick schweifte durch den Raum und blieb an der eingerahmten Fotografie hängen, die auf dem Nachttisch neben dem Bett stand. Ich und Sarah, Arm in Arm, waren darauf zu sehen, vor uns die zwei Jungs. Mit der Adoption hatten wir uns damals den Traum einer eigenen Familie erfüllt. Damals...

Als ich meine Koffer auspackte – ich hatte vor, ein paar Tage zu bleiben – fiel mir eine Zeitung entgegen. Die Ausgabe war bereits einige Wochen alt, doch auf der Titelseite prangte ein Bild von Annalena, während sie eine Rede hielt. Ich hatte die Zeitung behalten, weil mir das Bild so gut gefiel. Nun war es vermutlich ausversehen in den Koffer gefallen, als ich ihn gepackt hatte. Es strahlte all das aus, was ich an ihr liebte. Diese feurige Art, wie sie Reden hielt. Die Motivation, die sie für jede Sache aufbrachte, die ihr wichtig war. Ihre blauen Augen, die funkelten, voller Kampfgeist, weil sie für das brannte, was sie tat. Das Lächeln, dieses wunderschöne Lächeln. War das ein Zeichen des Schicksals? Eine Sekunde länger als nötig betrachtete ich das Bild, bevor ich es schnell in eine Seitentasche des Koffers schob und meine Arbeit fortsetze, weiße Hemden aus meinem Koffer in den Schrank zu räumen.

„Hat es dir geschmeckt?", fragte Sarah, bei weitem nicht mehr so euphorisch wie bei der Begrüßung vor einigen Stunden. „Fantastisch.", antwortete ich trocken und räusperte mich leise. Die Stimmung war angespannt. Die Kinder waren bereits im Bett und ich vermutete, dass Sarah wusste, dass etwas nicht stimmte. Sie spielte mit den Fingern an ihrem Weinglas, ihr Blick war leer. Müdigkeit, vielleicht, oder es war nur eine Ausrede, die ich mir selbst gab. Ich konnte es nicht... Und doch wollte ich es, ich musste es. Mit einer schnellen Bewegung führte ich mein halbvolles Weinglas zu den Lippen und kippte es hastig herunter. Der säuerliche Alkohol floss durch meinen Körper wie ein Lavastrom und ich wartete förmlich darauf, dass er seine Aufgabe erfüllte.

Ich hatte keine Wahl. „Ich glaube, ich war nicht ehrlich zu dir." Sarah hob eine Augenbraune und blickte mir nun intensiv in die Augen. „Die Fernbeziehung hat mir zu schaffen gemacht, einige Zeit schon. Und das ist keine Entschuldigung dafür, was ich getan habe. Ich habe... nun ja..." Sarahs fragender Blick durchbohrte mich beinahe. Ich merkte, wie meine Hände zu schwitzen begannen. Es war, als steckte mir ein Kloß im Hals, um zu verhindern, dass ich es aussprach. Ich versuchte mich zu überwinden, jetzt war es sowieso zu spät, es nicht zu tun. „Ich habe mich verliebt. In Annalena Baerbock." Es war ein Geständnis. Nicht nur vor Sarah, auch vor mir selbst. Ich hatte es nie ausgesprochen, nicht einmal in Gedanken. Bis jetzt.

Ich erzählte ihr alles. Nicht jedes Detail, aber alles was nötig war. Sie hatte kein Verständnis, das hatte ich auch nicht erwartet. Doch nun war ich endlich eine Last los, die mich die letzten Wochen unentwegt begleitet hatte. Ich spürte, wie es mir leichter um mein Herz wurde, vielleicht war das aber nur der Wein, der seine volle Wirkung – etwas zu spät, aber besser als nie – entfaltete.

Verbotene Koalition || Baerbock x WeidelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt