6. Kapitel

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Jule
Die erste Woche im Trainingslager war rum und Hansi hatte uns einen freien Sonntag zum Entspannen gegeben. Eigentlich hatten Kai und ich vorgehabt, diesen Tag gemeinsam zu verbringen aber diesem Schlauberger ist gestern Abend eingefallen, dass er für heute ein Fotoshooting mit Nike ausgemacht hatte. Also musste ich kurzfristig etwas anderes finden, wenn ich nicht den ganzen Tag mit Emre in unserem Zimmer festsitzen wollte. Ich hatte, direkt nachdem Kais Gehirn diese wichtige Information rausgespult hatte meine beiden Brüder angerufen und sie dazu verpflichtet, sich mit mir zu treffen.
Deshalb fuhr ich jetzt durch Hamburgs verregnete Straßen, auf der Suche nach dem vereinbarten Restaurant. Einige Minuten später parkte ich neben dem sogenannten „Vigneri Osteria Enoteca" und stieg aus meinem Wagen. Der kalte Regen peitschte mir ins Gesicht, während ich so schnell wie möglich zum Eingang spurtete. Ich öffnete die Glastür und trat ein. Es war schon einiges los und ich sah mich suchend nach meinen Brüdern um. Ein Kellner kam auf mich zu und begrüßte mich mit einem breiten Lächeln: „Benvenuto! Wie kann ich Ihnen helfen?" „Ich bin mit meinen Brüdern verabredet. Wir haben auf Brandt reserviert." antwortete ich. Er strahlte erneut. „Die beiden hübschen Kerle sind schon seit einigen Minuten hier! Ich zeige dir den Tisch", erklärte er mit seinem italienischen Akzent. Ich bedankte mich und gab ihm meine Jacke. Er führte mich zu einem Tisch nach hinten, an dem Jannis und Jascha bereits saßen und die Speisekarten studierten. Als sie mich sahen, standen sie auf und begrüßten mich mit einer kurzen Umarmung. Jannis meckerte: „Du hast echt auf dich warten lassen. Wir sitzen hier schon seit ner halben Stunde!" „Ich hab euch auch vermisst", gab ich zurück. Jannis zog eine Augenbraue hoch (das konnte er ziemlich gut) und setzte sich wieder. Bevor ich mich ebenfalls setzen konnte, umarmte Jascha mich wortlos ein zweites Mal. Wir hatten uns seit mindestens zwei Monaten nicht mehr gesehen und ich wusste, dass ich ein großes Vorbild für ihn war und wie sehr er an mir hing. Wenn ich ehrlich war, hatte ich ihn auch vermisst. Wir ließen einander los und setzten uns zu Jannis.
Das Mittagessen verging wie im Flug, weil wir uns so viel zu erzählen hatten. Jannis hatte vor einer Woche ein großes Fotoshooting für ein ziemlich bekanntes Magazin gehabt, von dem er uns stolz einige Bilder präsentierte. Sie waren wahnsinnig gut, das Fotografieren lag ihm einfach im Blut. Jascha erzählte von seiner Mannschaft und dem Quatsch, den sie während dem Training immer so machten. Das erinnerte mich an meine Zeiten bei Leverkusen, was mich wiederum an Kai denken ließ. Ich hatte ihn jetzt etwa vier Stunden lang nicht gesehen und vermisste ihn schon. Traurig aber wahr. Jascha riss mich aus meinen Gedanken: „Erde an Julian! Bist du noch da?" Verwirrt sah ich ihn an: „Was?" Jannis warf Jascha einen verschwörerischen Blick zu und flüsterte: „Er hat gerade an Luise gedacht. Oder an Kai. Manchmal könnte man fast meinen, er führt mit beiden eine Beziehung."
Ich sah ihn verärgert an: „Jannis. Du weißt ganz genau, dass ich nur mit Luise zusammen bin. Wollt ihr jetzt die Story zu meinem neuen Fortnite Rekord hören?" Mit diesem plötzlichen Themawechsel konnte ich die beiden zum Glück vom ursprünglichen Thema ablenken und so erzählte ich stattdessen von meinem krassen Fortnite Erfolg (an dem Kai auch einen nicht gerade kleinen Beitrag geleistet hatte).
Nachdem wir alle aufgegessen hatten, riefen wir den freundlichen Kellner zum Bezahlen. Ich gab ihm eine recht hohe Summe Trinkgeld, welche ihn die Augen aufreißen ließ. Doch mit den Worten „Ich bin Fußballer", konnte ich ihn davon überzeugen, es zu nehmen. Anschließend verließen wir zu dritt das Restaurant und Jannis erklärte mir den Weg zu dem Hotel, wo Jascha und er vorübergehend wohnten. Ich stieg in mein Auto und meine Brüder in ihres und wir fuhren gemeinsam los. Im Hotel war Nala, die wir abholen wollten, um mit ihr in den Park zu gehen, da das Wetter im Moment deutlich besser geworden war. Die Sonne schien sogar ein bisschen. Ich hatte die braune Hündin jetzt schon wieder einen Monat lang nicht gesehen und vermisste sie sehr. Vor ein paar Monaten hatte ich sogar mit dem Gedanken gespielt, einen eigenen Hund aufzunehmen, doch das hatte ich schnell wieder verworfen, weil es mir Nala gegenüber unfair schien, sie quasi zu ersetzen. Außerdem war ich als Fußballer sehr oft unterwegs und Luise hatte mit ihrem Studium mehr als genug zu tun.
Ich parkte neben dem Hotel und traf meine Brüder vor dem Eingang. Jannis sah mich entschuldigend an: „Du musst leider draußen warten, die nehmen es hier mit Corona sehr ernst." Also wartete ich, bis die beiden zusammen mit Nala zurückkamen. Als sie mich sah, fing sie an wie wild an der Leine zu ziehen und bellte laut. Ich kam ihr lachend entgegen und streichelte ihr durch das dichte braune Fell. Sie schlabberte mir durchs Gesicht. Jannis lachte und machte mehrere Fotos.
Wir fuhren dieses Mal zusammen in Jannis Auto zum nächstgelegen Park. Dort spielten wir Stöckchen mit Nala und rannten herum wie kleine Kinder. Als Jascha und ich uns auf einer Bank kurz ausruhten während Jannis weiter mit Nala herumtobte, fragte Jascha mich vorsichtig: „Du Julian.. Könntest du uns vielleicht ein bisschen euer Mannschaftshotel und Trainingsgelände zeigen?" „Du willst wohl die berühmten Fußballer stalken hm?", neckte ich ihn lächelnd. Errötend senkte er den Kopf. Ich legte einen Arm um seine Schultern. „War nur ein Spaß. Ich zeig euch gerne das Trainingsgelände, ins Hotel könnt ihr aber leider wegen Corona nicht", sagte ich entschuldigend. Seine Augen leuchteten auf: „Das macht gar nichts, das Trainingsgelände ist auch super!" Er sprang auf und lief zu Jannis, um ihm davon zu erzählen. Jannis sah mich an: „Ist Kai denn da?" Ich sah auf die Uhr. Es war halb vier, also müsste Kais Fotoshooting schon vorbei sein. „Soweit ich weiß ja", antwortete ich Jannis und dieser lächelte. „Na dann.. Auf geht's!" rief er.
Wir gingen zurück zum Auto und fuhren einen Umweg zum Hotel der beiden, damit ich meinen Wagen abholen konnte. Dann fuhren wir in getrennten Autos zum Mannschaftsgelände des Dfbs. Auf dem Weg rief ich kurz Kai an um ihm mitzuteilen, dass Nala und meine Brüder ihn sehen wollten und er vor dem Hotel warten sollte. Als wir dort eintrafen, stand er bereits lässig neben der Eingangstür und grinste mich an. Wir begrüßten uns mit einem Handschlag und er fragte: „Wo sind denn Nala und meine Lieblings-Brandts?" Ich schubste ihn gegen die Schulter. „Dein Lieblings-Brandt steht schon neben dir und die anderen kommen dahinten", gab ich leicht beleidigt zurück. Er lachte und warf mir einen Luftkuss zu, ehe er auf meine Brüder und Nala zuging. Als erstes begrüßte er Nala, die genau wie bei mir vorhin komplett ausrastete und sich förmlich gegen Kai warf. Dann umarmte er Jannis und schlug mit Jascha ein. Jascha rieb sich vorfreudig die Hände: „Können wir uns jetzt alles anschauen?", fragte er übermütig.
Wir machten zu fünft einen Spaziergang über das Gelände und Kai und ich zeigten meinen Brüdern alles, während Nala den Boden am Interessantesten fand und dauernd irgendwelchen Spuren hinterher schnüffelte.
Nach etwa einer Stunde kamen wir wieder bei den Autos an und es war Zeit für den Abschied. Als erstes ging ich in die Hocke, um Nala zu verabschieden. Sie würde ich erst nach der WM wiedersehen, und ich vermisste sie jetzt schon. Kai kam neben mich um sie ebenfalls zu knuddeln und ich sah den beiden mit einem wehmütigen Lächeln dabei zu. Dann verabschiedete ich mich mit kurzen Umarmungen von Jannis und Jascha. Die beiden würden an unserem Abreisetag, also in einer Woche, nochmal hierher kommen, genau wie Luise und meine Eltern. Nachdem sie in ihr Auto eingestiegen waren, machten Kai und ich uns gemeinsam auf den Weg zurück ins Hotel.

Ich schloss die Tür von meinem Zimmer auf und betrat es. Emre lag laut schnarchend mit ausgestreckten Armen und Beinen auf seinem Bett. Ich schmunzelte bei diesem Anblick. Wie es aussah würde ich heute das Vergnügen haben, ihn aufzuwecken. Ich warf mich mit meinem vollen Gewicht auf ihn und fing an, ihn zu kitzeln. Er kreischte auf und versuchte sich zu wehren doch er hatte keine Chance. Irgendwann gab er auf und ich legte entspannt mein Kinn auf seiner Brust ab und grinste ihn verschmitzt an. Er seufzte und murmelte: „Vollidiot." Ich rollte mich von ihm herunter und zog ihn mit auf die Beine. „Komm schon du Profifußballer, es gibt Essen!", versuchte ich ihn zu motivieren, was auch funktionierte, denn bei dem Wort „Essen" leuchteten seine Augen auf und ehe ich mich recht versah, war er aus dem Zimmer verschwunden. Ich folgte ihm zufrieden grinsend. Das Abendessen verlief ohne besondere Vorkommnisse und satt und glücklich verließ ich den Speisesaal. In der Lobby ließ ich mich neben Timo auf einen der gemütlichen Sessel fallen. „Jule!", rief er überrascht. „Dass man dich mal zu Gesicht bekommt." Sofort überkam mich schlechtes Gewissen. Seit meiner Ankunft war ich wirklich hauptsächlich mit Kai, Marco und Marius unterwegs gewesen und hatte meine anderen Freunde kaum beachtet. „Sorry Mann.", murmelte ich schuldbewusst. Timo, gutmütig wie er war lachte nur fröhlich und sagte: „Kein Problem. Jetzt bist du ja da!" Dann fing er an, von London zu erzählen. Er war vor einem Jahr mit Kai und ihren Freundinnen in eine WG gezogen in der sie jetzt nur noch zu dritt lebten. Er erzählte von all den lustigen Dingen, die sie gemeinsam erlebt hatten und ohne es zu wollen, überkam mich die Eifersucht. Verdammt. Ich wusste, wie eng die Freundschaft zwischen Kai und Timo in den letzten Jahren geworden war und kam nicht drumrum, das blöd zu finden. Dabei hatten sie jedes Recht dazu, miteinander glücklich zu sein. Ich versuchte, diese dumme Eifersucht abzuschütteln und erzählte Timo einiges aus Dortmund. Als ich aber eine Stunde später zurück zu meinem Zimmer lief, kam sie wieder zurück. Ich brauchte jetzt unbedingt Zeit für mich, um diesen unnötigen Scheiß endgültig loszuwerden. Aber auf meinem Zimmer war Emre, weshalb ich kehrt machte und durch die Gänge auf der Suche nach einem leeren Raum ging. Die meisten meiner Kollegen waren bestimmt wieder beim Zocken im Aufenthaltsraum. Ich drückte eine der Türen auf - und erstarrte. Im kleinen Raum stand ein Klavier. Von diesem Klavier ertönten wunderbare Klänge. Und derjenige, der diese Klänge hervorrief war niemand geringeres als Kai. Hinter mir fiel die Tür ins Schloss, was Kai aufschrecken ließ. Er sah zur Tür und entdeckte mich. „Jule!", rief er freudig. Mist. Ihn wollte ich gerade am wenigsten sehen. Zu groß war die Gefahr, dass meine Gefühle mal wieder aus mir herausbrechen würden. „Komm her, ich bring dir was bei!", sagte er und lächelte auffordernd. „Ich... äähhh..", leider fiel mir keine Ausrede ein, weshalb mir nichts anderes übrig blieb, als mich auf einen Stuhl neben ihn zu setzen. „Okay, pass auf. Leg deine rechten Daumen auf diese Taste und deine restlichen Finger daneben. Dann fängst du mit dem kleinen Finger an und wanderst währenddessen nach immer weiter nach unten.." Er erklärte eifrig weiter aber es hatte keinen Sinn. Musikalisch war ich leider einfach unbegabt. Irgendwann seufzte ich auf: „Sorry. Aber das geht nicht. Dieses Klavier ist verhext." Kai lachte und fing an, selbst zu spielen. Ich beobachtete seine Finger dabei, wie sie über die Tasten huschten und wunderschöne Musik erzeugten. Irgendwann war das Stück vorbei, und er nahm seine Hände vom Klavier. Ich spürte seinen Blick auf mir, doch ich schaffte es nicht, ihn zu erwidern. Stattdessen sah ich weiterhin auf die Tasten, als wären sie schwere Matheformeln, die ich lösen musste. „Jule.", murmelte er sanft meinen Namen. „Schau mich an." Ich blickte vorsichtig auf und begegnete seinen warmen blauen Augen. „Ich weiß dass irgendwas nicht stimmt und ich hoffe du weißt, dass du immer mit mir reden kannst.", sagte er und nahm meine Hand. Ich wollte ihm nicht von meiner kindischen Eifersucht erzählen, deshalb murmelte ich nur: „Alles gut", und drückte seine Hand. Er streichelte mit seinem Daumen über meinen Handrücken und sah mich mit gerunzelter Stirn an. Dann nickte er langsam, zog seine Hand aus meiner und schlug die ersten Töne zum nächsten Lied an.

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Heute ist der „Klassiker", Dortmund gegen Bayern. Ist noch jemand so aufgeregt wie ich?😂 Was ist euer Tipp?
Übrigens ist das das längste Kapitel bisher (etwa 2000 Wörter) und ihr könnt mir gerne sagen, ob euch kurze oder längere Kapitel lieber sind. See you soon <3

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