Jule
Mein ganzes Leben lang hatte ich Frauen bewundert. Frauen waren selbstbewusst, stark und wunderschön. Frauen regierten die Welt. Ich hatte mich zu ihnen hingezogen gefühlt, hatte mich verliebt und wollte immer eine Freundin haben. Wenn eine hübsche Frau in der Nähe war wollte ich sie beeindrucken und hatte ein Kribbeln im Bauch. Das einzige Problem war, dass ich dieses Kribbeln jetzt auch bei meinem besten Freund verspürte. Das einzige, verdammte Problem war, dass mir der Kuss gefallen hatte, noch schlimmer: ich wollte ihn wieder küssen. Ich wollte ihn küssen bis unsere Lippen wund waren und noch länger. Ich fühlte mich zu ihm hingezogen und bewunderte die Art, wie er seine Haare zur Seite strich, wie er die Augen aufschlug, wie seine Lippen sich bewegten, wenn er redete. Ich kannte ihn jetzt seit über fünf Jahren und nie war mir so etwas passiert. Shit. Wir waren Fußballer. Jeder wusste, dass Homosexualität in diesem Sport nicht akzeptiert wurde. Dann fiel mir Luise ein und mir wurde übel. Mit dem Kuss hatte ich sie betrogen und das hatte sie einfach nicht verdient. Ich starrte an die Decke und versuchte, meine Gedanken zu sortieren. Als erstes musste ich Luise anrufen und dann würde ich mit Kai reden und ihm klar machen, dass das nie wieder passieren durfte. Wir waren auf dem Weg zur WM, verdammt nochmal. Solche Ablenkungen konnte wir beide einfach nicht gebrauchen.
Kai war bestimmt der gleichen Meinung und wir würden genau wie zuvor wieder beste Freunde sein, ganz ohne irgendwelche lästigen Gefühle. Nach dem Kuss hatten wir nicht mehr wirklich geredet sondern waren zum Hotel zurückgefahren, wo wir uns etwas unbeholfen verabschiedeten hatten, bevor wir zu unseren Zimmern geschlichen waren. Seitdem waren etwa vier Stunden vergangen, in denen ich kein Auge zu bekommen hatte.
In diesem Moment ertönte laut das Schrillen meines Weckers und seufzend stellte ich ihn ab ehe ich mich langsam aufrichtete. 6 Uhr Morgens war absolut nicht meine Zeit.
Ich schlurfte zum Waschbecken und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Eine kleine Hilfe zum Wachwerden. Plötzlich klopfte es an der Tür und ehe ich etwas sagen konnte, wurde sie bereits geöffnet. Hansi streckte den Kopf rein und lächelte, als er mich am Waschbecken erblickte: „Guten Morgen, Jule! Gut dass du wach bist. Der Bus fährt in einer Dreiviertelstunde los, bitte sei bis dahin unbedingt da." Mit diesen Worten schloss er die Tür und setzte seinen Kontrollgang fort.Eine halbe Stunde später verließ ich mit gepacktem Koffer das Hotelzimmer und machte mich auf den Weg zum Bus. Im Flur begegnete ich Marco. Wir begrüßten uns und er fragte: „Na, nen guten Ausflug gehabt letzte Nacht?" „Was, woher weißt du..", stotterte ich verwirrt. „Mein Zimmer ist direkt neben deinem und die Wände sind dünn hier. Ich hab gehört wie du gegangen bist. Warst du mit Kai unterwegs?"
Ich versuchte gar nicht erst, irgendeine Ausrede zu erfinden sondern murmelte: „Ja, er hat mir London gezeigt."
Ich spürte wie er mich von der Seite ansah und als ich ihn ebenfalls anschaute zog er neckend eine Augenbraue in die Höhe und lächelte wissend: „Du wirkst heute ein wenig verwirrt und durcheinander woraus ich schließe, dass ihr euch näher gekommen seid." Der alte Fuchs Marco. Wieder versuchte ich gar nicht erst, etwas zu verheimlichen. „Wir haben uns geküsst." „Na endlich! Gratuliere!", rief Marco erfreut und klopfte mir auf die Schulter. Gestern im Bus hatte ich ihn darauf angesprochen, warum er Kai und mich in den letzten Tagen so beobachtet hatte, und darauf hatte er mir die Augen geöffnet und erklärt, dass wir Gefühle füreinander hatten. Anfangs hatte ich das abgestritten und für absoluten Blödsinn gehalten. Doch nach der vergangenen Nacht wusste ich gar nichts mehr.
„Seid ihr jetzt zusammen?", fragte er aufgeregt. Wir liefen an einigen unserer Mitspieler vorbei weshalb ich mit meiner Antwort wartete.
Dann zischte ich: „Natürlich nicht. Du weißt dass man als Fußballer nicht schwul sein kann. Außerdem hab ich ne Freundin. Ich werde später mit Kai reden und dann werden wir wieder beste Freunde sein. Nicht mehr und nicht weniger."
Enttäuscht schüttelte Marco den Kopf: „Das ist die falsche Entscheidung. Ihr beiden Trottel liebt euch." „Ja, freundschaftlich", gab ich entschieden zurück, bevor ich mit schnellen Schritten die letzten Meter zum Bus lief. Marco nervte mich. Konnte er nicht einfach begreifen, dass wir kein Paar werden würden, egal welche Gefühle da möglicherweise im Spiel waren? Es war besser so, für uns und für alle um uns herum. Wir reisten heute nach Katar um die verdammte Weltmeisterschaft zu gewinnen und nicht, um Kai und mich zu verkuppeln. Und auch nach der WM würde das nicht passieren. Entschlossen stieg ich in den Bus ein. Alle Entschlossenheit war ebenso schnell verschwunden wie sie gekommen war, als ich den Mann erblickte, mit dem ich die letzte Nacht küssend auf einem Hochhaus in London verbracht hatte. Mein Herz setzte einen Schlag aus ehe es wie wild zu schlagen begann und ich rührte mich nicht vom Fleck. Kai stand im hinteren Teil des Busses und unterhielt sich mit Serge. Er lachte über etwas, was der Kleinere gerade gesagt hatte, drehte dann den Kopf und sah mich. Sogar über diese Entfernung hinweg konnte ich in seinen Augen lesen. Ich sah die Zärtlichkeit, mit der er mich vor wenigen Stunden bereits angesehen hatte. Als ich bemerkte, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete, riss ich mich schnell zusammen.
Das alles hier hatte ganz und gar nichts mit meinen guten Vorsätzen zu tun. Deshalb straffte ich die Schultern und ging auf Kai zu. Wir waren beste Freunde. Genau wie in den letzten Jahren. Durch diesen Kuss sollte sich nichts verändern. Aufgesetzt fröhlich rief ich „Hey, gut geschlafen?", und hielt ihm die Hand zum Einschlagen hin. Er musterte mich verwirrt doch ich schüttelte nur leicht den Kopf. Der Mannschaftsbus war ganz sicher nicht der richtige Ort, um die Geschehnisse der letzten Nacht zu besprechen. Kai schien zu verstehen und schlug ein. Bei der kurzen Berührung schoss ein Kribbeln durch mich hindurch und ich schloss kurz die Augen.
Er ist dein bester Freund, er ist dein bester Freund.. redete ich mir selbst ein.
Die Busfahrt war höllisch anstrengend, denn ich saß direkt neben Kai und spürte seine Anwesenheit allzu deutlich. Wenn der Bus wackelte und wir uns dadurch manchmal kurz berührten, stellten sich bei mir sofort alle Härchen auf und meine Sinne waren nur auf den Mann neben mir gerichtet. Ich atmete seinen vertrauten Geruch ein, spürte seine weiche Haut an meiner und erhaschte immer wieder einen Blick auf sein attraktives Seitenprofil. Na toll. Das konnte ja lustig werden.
Am Flughafen hatten wir noch ein wenig Zeit bis wir ins Flugzeug einsteigen durften und ich nutzte sie, um Luise zu schreiben. Ich schrieb ihr, dass ich sie heute Abend anrufen würde und sie antwortete direkt, dass sie sich darauf freute. Ich fühlte mich deshalb noch schlechter, aber sie hatte meine Ehrlichkeit verdient. Das Schlimmste was ich jetzt machen konnte war, ihr die ganze Sache mit Kai einfach zu verschweigen.
Dann durften wir endlich ins Flugzeug und ich ging durch den Gang zu einem der hinteren Plätze. Schweren Herzens bemerkte ich, dass Kai mir nicht gefolgt war sondern sich schon auf einen Sitz weiter vorne gesetzt hatte. Vermutlich war es besser so aber es tat unheimlich weh. Hatte der Kuss unsere Freundschaft zerstört?
Ich setzte mich in die letzte Reihe und Mats und Marco nahmen neben mir Platz. Wenigstens auf meine Dortmunder Kollegen war Verlass. Mats sah mich sorgenvoll an und fragte: „Was hat Kai gemacht?"
„Nichts... ich will jetzt nicht darüber reden", murmelte ich und sah ihn entschuldigend an.
„Okay, aber falls du jemanden brauchst, bin ich immer für dich da. Das weißt du hoffentlich?"
Ich nickte und lächelte Mats dankbar an. Auf meiner anderen Seite griff Marco unauffällig nach meiner Hand und drückte sie sanft. Er wusste warum Kai und ich nicht nebeneinander saßen und ich war froh, dass er es nicht Mats erzählte. Die ganze Sache war so schon schwer genug und ich wollte nicht unnötig viele andere mit reinziehen.
Vor uns lagen fast sieben Stunden Flug weshalb ich die Augen schloss und den Schlaf von letzter Nacht nachholte.Ein leichtes Wanken holte mich wieder zurück und ich öffnete langsam die Augen. Wir befanden uns hoch über den Wolken und es stürmte und regnete. Das Flugzeug schwankte immer wieder leicht und ich bekam Druck auf die Ohren. Ich wusste schon, warum ich das Fliegen einfach nicht mochte. Doch dann fiel mir jemand ein, der davor noch mehr Angst hatte. Toni. Ich streckte meinen Kopf um zu sehen wo er saß und wie es ihm ging. Er saß vorne direkt neben Kai, der ihn versuchte zu beruhigen. Auch Hansi war zu ihnen gekommen und half Toni dabei, sich zu beruhigen. Erleichtert lehnte ich mich zurück.
Plötzlich stupste Mats mich an und hielt mir sein Handy hin. Darauf war ein Toastbrot zu sehen, welches nach kurzer Zeit umfiel. Obwohl mir gar nicht danach war, musste ich lachen. Seit wann fand ich so etwas bitte lustig? Mats zeigte mir weitere lustige Videos, was mich komplett von den Flugturbulenzen und Kai ablenkte und ich war ihm mehr als dankbar dafür. Er wusste nicht mal, was los war und half mir trotzdem.
So verging die Zeit wie im Flug und schon kam die Durchsage zur Landung. Es hatte mittlerweile aufgehört zu regnen und durch das Fenster konnten wir die trockene Landschaft von Katar sehen. Ein aufgeregtes Kribbeln durchfuhr mich. Jetzt war es endlich soweit.
Wir landeten und verließen der Reihe nach das Flugzeug. Kai hatte ich schon länger aus den Augen verloren, was vermutlich gut war, weil ich ihn dadurch nicht anschmachten konnte. Mein Herz schmerzte. Wie hatten wir es nur so weit kommen lassen können?
Im Bus, der uns zum Hotel bringen würde, setzte sich Marius neben mich. Ich konnte so dankbar für meine Freunde sein, die immer zu mir hielten, obwohl außer Marco niemand wusste, was genau los war. Die Fahrt im Bus verlief ereignislos und nach etwa zwanzig Minuten erreichten wir das Hotel, in dem wir für die nächste Zeit wohnen würden. Es war deutlich größer als das in London und sah zugegeben wirklich gut aus.
Wir trafen nach und nach alle in der Lobby ein. Kai stand einige Meter entfernt von mir bei Timo und Toni. Als er zu mir sah, lächelte ich vorsichtig. Er lächelte zurück und machte Anstalten, zu mir zu kommen, als plötzlich Hansi vor mir auftauchte. „Hey Jule, kann ich dich kurz sprechen?", fragte er und führte mich in einen kleinen Nebenraum.
„Was gibt's denn?", fragte ich ein wenig verunsichert. War irgendetwas passiert?
„Ich wollte dir sagen, dass ich dich und Kai in ein Zimmer eingeteilt habe. Ich habe gemerkt, dass ihr euch erneut gestritten habt oder was auch immer, wichtig ist nur, dass ihr das so bald wie möglich klärt. Das erste Spiel ist in drei Tagen und Ablenkungen könnt weder ihr beide noch der Rest der Mannschaft gebrauchen. Alles klar?"
Ich nickte verständnisvoll und versicherte: „Wir klären das noch heute." Er klopfte mir zufrieden auf die Schulter ehe er mir den Schlüssel für das Zimmer gab.
Dann kehrten wir in die Lobby zurück, wo bis auf Kai niemand mehr war. Er kam auf uns zu und meinte verwirrt: „Hansi, die haben hier keinen Schlüssel für mich." „Das liegt daran, dass ich ihn hab. Du bist mit Julian in einem Zimmer", gab unser Trainer schmunzelnd zurück und gab Kai den Zweitschlüssel für unser Zimmer. Kai bedankte sich und sah mich anschließend fragend an: „Gehen wir?"
Ich nickte zustimmend und wir machten uns auf den Weg.
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Ich würde mich über ein paar Kommentare freuen, hab gerade leider ein bisschen die Motivation für die Geschichte verloren. 😩
Versuche aber trotzdem, dranzubleiben. Wie immer danke fürs Lesen!
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Stargazing
FanfictionJule & Kai sehen sich nach zwei Jahren bei der WM 2022 wieder. Anfangs wissen sie es noch nicht, doch dieses Turnier wird alles verändern...